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Archiv "Als Ärztin in der Antarktis: Lockruf des Eises" (28.08.2000)

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T H E M E N D E R Z E I T

D

as Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven annonciert jedes Jahr im Deutschen Ärzteblatt.

Gesucht wird ein Arzt oder eine Ärztin zur Stationsleitung und zur medizini- schen Betreuung des Überwinterungs- teams auf der einzigen deutschen For- schungsstation in der Antarktis, der Neumayer-Station. 1999 bekam ich die- se einmalige Stelle.

In der Vorbereitungszeit stellte ich fest, wie man später meinem Leserbrief im Deutschen Ärzteblatt entnehmen konnte, dass ich während der 15 Mona- te in Abgeschiedenheit und Eiswüste auf die „wunderbaren Menschen von Claudia Püschel-Knies“ würde verzich- ten müssen. Viele Leserinnen und Le- ser zeigten tiefes Verständnis für meine Trauer um den Verzicht – bei ihnen al- len möchte ich mich mit diesem Bericht bedanken.

Seit gut sieben Monaten leben wir bei 70°39' Süd und 08°15' West in zwei Wellblechröhren im Ekströmschelfeis – sechs Meter unter der Oberfläche. Das Schelfeis ist hier etwa 200 Meter dick und schwimmt auf dem Meer. Draußen umgibt uns eine unendliche Weite aus Schnee und Eis. Die wohlige Wärme in unseren Wohn- und Arbeitscontainern, innerhalb der Röhren, stammt von zwei Dieselgeneratoren und einem Windge-

nerator – ohne solche Hilfsmittel wäre ein Leben in dieser menschenabweisen- den Gegend der Welt unmöglich.

Im antarktischen Sommer dient die Station neben den Langzeit-Forschungs- aufgaben auch als logistische Basis für Expeditionen ins Inlandeis, im Winter jedoch ist sie über fast zehn Monate von nur neun Menschen bewohnt und von der Außenwelt abgeschnitten. Es gibt jedoch gute Nachrichtenverbindungen in alle Welt und zu den antarktischen Nachbarn.

Zwei Geophysiker betreuen, warten und überwachen seismologische und magnetische Observatorien. Hier wer- den Änderungen im Erdmagnetfeld be- obachtet und registriert, uns allen wohl bekannt als Polarlichter. Darüber hin-

aus gehört das Interesse der Forscher der Erfassung der Erdbeben dieser Welt. Ein Meteorologe beobachtet kon- tinuierlich das Wetter. Seine Daten ge- hen in ein internationales Wettervor- hersagesystem ein. Außerdem erfreut er das Team täglich mit einer aktuellen örtlichen Wettervorhersage – hier mehr noch als daheim der Dreh- und Angel- punkt für alle Aktivitäten außerhalb der Röhren.

Gefragt ist medizinisches

„Allround-Talent“

Die tiefste Temperatur erlebten wir in den ersten Julitagen mit –42 Grad C, den stärksten Orkan mit Windstärke Beau- fort 12 oder 148 Stundenkilometern im

„Wonnemonat Mai“. Eine Luftchemi- kerin erfasst natürliche und anthropo- gene Umweltverschmutzungen, die zum Teil auf der Nordhalbkugel verur- sacht und hier in Luft und Schnee nachgewiesen werden. Um diese Lang- zeit-Veränderungen in der Natur kon- tinuierlich erfassen zu können, wird viel Technik benötigt: ein Ingenieur und ein Elektriker sind dazu vonnöten, darüber hinaus ein Funker für Kontak- te zu all unseren Nachbarn. Dieser ar- beitet auch als Systemadministrator A

A2226 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 34–35½½28. August 2000

Die Chirurgin Ursula Stüwe betreut ein Jahr lang das Überwinterungsteam einer Forschungsstation. Sie hat sich damit einen Traum erfüllt.

Als Ärztin in der Antarktis

Lockruf des Eises Lockruf des Eises

Weitere Informationen finden sich im Internet unter der Adresse www.

awi-bremerhaven.de.

Hier gibt es eine webcam mit di- rektem Blick in die Antarktis, über die Neumayer-Station hinweg. Es wird informiert über weitere For- schungsaktivitäten des Instituts und seine stationären und schwimmen- den Außenstellen für Polar- und Meeresforschung.

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für die unverzichtbare und ausgeklü- gelte EDV-Ausstattung.

Während der Koch verantwortlich ist für das leibliche Wohl der Gruppe, obliegt mir die gesundheitliche Betreu- ung. Nach Jahrzehnten in einer Chirur- gischen und Unfallchirurgischen Klinik sehe ich darin eine große fachliche Her- ausforderung – hier wird behandelt aus allen Gebieten der Medizin. Dazu steht mir ein kleines, aber feines Hospital mit umfassender Medikamentenausstat- tung zur Verfügung. Hier kann ich Au- gen und Ohren spiegeln sowie EKGs ableiten. Sonografie und Röntgen sind möglich, und ein gut ausgestattetes Trockenlabor erlaubt recht umfangrei- che Teste, die durch Blutausstriche er- gänzt werden können. Ein OP-Tisch mit Narkosegerät und Beatmungseinheit sowie das entsprechende Instrumenta-

rium machen das Ganze zu einem funktionierenden OP-Saal. Die in Kliniken üblichen Assistenzberufe müssen im Bedarfsfall durch Gruppenmitglieder ersetzt werden – jeder muss mit zupacken, und das ist auch für alle selbst- verständlich.

Mein bisheriges Krank- heitenspektrum ist klein.

Alle Überwinterer haben eine strenge medizinische Kontrolle bestanden, ehe sie eingestellt wurden und hierher reisen durften.

„Multimorbidität“ gibt es

hier nicht. Kleinere Wunden, leichte Erfrierungen, Sonnen- und Gletscher- brand in der Sommerzeit sind häufig, ebenso wie leichtes Nasenbluten, das durch die extrem trockene Luft verur- sacht wird und alle belästigt. Eine eitri- ge Conjunctivitis heilte problemlos ab.

Die FS „Polarstern“ brachte uns im Ja- nuar mit den Sommergästen auch die in Deutschland grassierende Grippe- welle. Etwas schwieriger ist es, eine Schulterluxation in einem engen Ob- servatorium zu reponieren. Zahnpro- bleme gehörten bislang noch nicht zu meinem ärztlichen Alltag. Darauf ha- be ich mich aber zu Hause gut vorbe- reitet, und für unklare Situationen aus mir weniger bekannten Fachgebieten T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 34–35½½28. August 2000 AA2227

Temperaturen von minus 40 Grad C verlangen nach einer entsprechenden Polarausrüstung, wenn die Mitglieder des Teams ihre wohlig warmen Well- blechröhren unter der Oberfläche zu Ausflügen ins ewige Eis verlassen.

Würdevoll geben sich die Pinguine auf dem Meereis der Atka- Bucht. Eine Kolonie von 4 000 Kaiserpinguinen lebt und brütet

dort. Fotos: Ursula Stüwe

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habe ich eine Liste von Kolleginnen und Kollegen, die mir über das Inter- net mit Rat zur Seite stehen. Mit die- ser, insbesondere der menschlichen Unterstützung kann ich mit der nöti- gen Ruhe alle medizinischen Probleme angehen. Darüber hinaus erkenne ich jetzt, wie nützlich eine hervorragend funktionierende EDV ist! Medizini- sche Fragen fast jeder Art kann ich per Internet lösen, das Studium der Fach- zeitschriften klappt sicher und zuver- lässig, und das Entsorgen alter, über- holter Fachliteratur erübrigt sich, ins- besondere bei Nachschlagewerken.

Hier steht immer die aktuellste Ausga- be im Netz. Auch der Zu-

gang zu den Leitlinien der AWMF ist problemlos, und berufspolitische Entwick- lungen gehen nicht unbe- merkt an mir vorbei.

Schauspiel aus Schnee und Eis

Doch das allein macht nicht das „Erlebnis Antarktis“

aus. Die Schnee- und Eis- landschaft ringsumher übt eine ungeheure Faszination aus. An schneefreien Tagen sind die Eisberge in der At- kabucht zu sehen, rund fünf Kilometer von uns entfernt.

Sie zeigen sich täglich neu:

mal sind sie klein und kaum

zu erkennen, dann erstrahlen sie in Weiß, auch hellblau zeigen sie sich ger- ne, manchmal „wachsen sie über sich hinaus“ – Luftspiegelungen verursa- chen dieses Phänomen. Es geht so weit, dass man denkt, die Eisberge seien wie Perlen auf einer Kette aufgereiht und hingen von oben herab. – Der Gegen- satz: Drift. Ein heftiger Ostwind bis zur Orkanstärke bringt Schnee mit. Es sind winzige Schneeflöckchen, die sich wie Staub in sämtliche Taschen schleichen, sich in den Stulpen der Handschuhe verstecken, hinter Schneebrillengläser kriechen und die Sicht in kürzester Zeit unmöglich machen. Am Boden formen sie stromlinienförmige Sastru- gis – harte Schneeverwehungen. Sie machen das Laufen durch Berge und Täler anstrengend, doch das ansehnli-

che, ausgewogene Relief entschädigt für die Mühen. Nach Sturmtagen ist es ein besonderer Genuss, hinauszugehen und die Stille zu hören. Man scheint sie körperlich zu spüren, die Gedanken werden ruhig und versuchen, sich die europäische Hektik vorzustellen. Je länger ich hier bin, desto schwerer fällt mir das.

Das „Licht der Polarnacht“ ist kein Widerspruch. Wir erleben immer wie- der in der klaren, trockenen Luft einen inkompletten Sonnenaufgang im Nor- den, der nach wenigen Stunden über- geht in einen Sonnenuntergang – die Sonne selbst kommt nicht über den Ho-

rizont: ein tiefes Dunkelrot im Nord- osten geht über in warmes Gelb, dieses wandelt sich beinahe über unseren Köpfen zu einem lichten Blau, das in ei- nem tief-dunklen Nachtblau am südli- chen Horizont endet. Und wenn dann noch eine schmale, elegante Mondsi- chel am Himmel steht, kennt das Stau- nen keine Grenzen.

Die größte Attraktion findet sich auf dem Meereis der Atkabucht. An offenen Wasserspalten rings um die Eisberge leben Wedellrobben. Elegant tauchen sie in die schmalen Spalten, robben eher unbeholfen über das Eis oder aalen sich genüsslich in der Som- mersonne. Manche tragen noch eine Codierung am Schwanz, an der wir mit Hilfe unserer Biologen das Alter der Tiere ablesen können. In der Nachbar-

schaft der Robben lebt und brütet eine Kolonie von rund 4 000 Kaiserpingui- nen, zuweilen gesellen sich einige klei- ne, lebhafte Adélie-Pinguine zu ihnen.

Den Jahreszyklus im Leben der Kai- serpinguine können wir bei unseren Besuchen verfolgen: Im Dezember wa- ren die meisten Elterntiere bereits zum Meer zurückgekehrt, wenige würde- volle Alte beaufsichtigten die Jungen, die nicht mehr gefüttert wurden. Sie waren in der Mauser und schlugen hef- tigst mit ihren Stummelflügeln. Weni- ge Wochen später hatten sie ihr wolli- ges Kleid gegen tauchfähige Federn getauscht und watschelten und rutsch- ten auf dem Bauch ebenfalls ins Meer. Anfang Mai kehr- ten sie zurück. Die Kolonie rückte dicht zusammen, die Tiere suchten sich einen Partner und interessierten sich kaum für die neugieri- gen Menschen, die sie beob- achteten. Die Bauchfalte der Männchen war über den Sommer, nach einer nahr- haften Zeit im Meer, groß und dick geworden. Jedes Paar legte ein Ei, das die Männchen zur Zeit auf den Füßen unter ihrer Bauchfal- te ausbrüten. Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, trippeln sie mit ihrer kostba- ren Last vorsichtig auf dem Eis umher. Meist stehen sie dicht an dicht und wärmen sich gegenseitig, wobei sie ihre Köpfe zusammenstecken, als würden sie mit- einander schwatzen. Bewegung kommt in die Gruppe, wenn die gewärmten von innen ihren Platz für die außen Stehenden räumen müssen – bei Tem- peraturen unter –30 Grad C verständ- lich. Im August, dem kältesten Monat des Jahres mit Temperaturen bis –40 Grad C, sollen die Jungen schlüpfen – das wird mit Sicherheit unser nächstes Ausflugsziel.

Man mag verstehen, dass mir der Verzicht auf manche verlockende An- zeige im Deutschen Ärzteblatt nicht mehr schwer fällt. Für mich hat sich ein Traum verwirklicht.

Dr. med. Ursula Stüwe Alfred-Wegener-Institut, Logistik Columbusstraße 6, 25757 Bremerhaven T H E M E N D E R Z E I T

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A2228 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 34–35½½28. August 2000

Ein kleines, aber feines Hospital steht für die gesundheitliche Versorgung zur Verfügung. Die üblichen Assistenzberufe müssen bei Bedarf durch Gruppenmitglieder ersetzt werden – jeder packt mit an.

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