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ür das deutsche Gesundheitswesen prognostiziert Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, In- haber eines Stiftungslehrstuhls für Me- dizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, einen Paradigmenwan- del in Richtung auf mehr Vertragswett- bewerb und liberalisierter Versorgungs- strukturen. Die nächste Etappe der Ge- sundheitsreform werde korporatisti- sche Steuerungselemente und überkom- mene Strukturen zugunsten eines „soli- darischen Wettbewerbs“ (Herbert Reb- scher) ersetzen.Die Mitte 1977 von der damali- gen sozialliberalen Bundesregierung in Gang gesetzte Stafette von
interventionistischen Kosten- dämpfungsmaßnahmen setzt auf die Aktivierung der mit- telbaren Staatsgewalt; also der Körperschaften des öf- fentlichen Rechts, der Ver- bände sowohl der Kostenträ- ger (insbesondere der Kran- kenkassen) als auch der „Lei- stungsanbieter“.Dies münde- te in eine Kompetenzerweite- rung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkas- sen und eine Aufwertung von bilateralen und dreiseitigen Verträgen. Das so genannte korporatistische Steuerungs- system bediente sich des
Prinzips des gemeinsamen und einheitli- chen Handelns. Zumeist uniforme Ent- scheidungsstrukturen bei den Kranken- kassen und bei den Kassenärzten waren für diese Konstellation konstitutiv. Ein- her ging dies mit Korporationsstrukturen in den anderen Sektoren der Gesund- heitswirtschaft.
Wasem sieht die Sinnfälligkeit in den aus seiner Sicht inzwischen überholten
korporatistischen Strukturen und dem staatlichen Ordnungsrahmen in den Möglichkeiten, dem Staat durch die Ak- tivierung der mittleren Ebene, insbe- sondere der Körperschaften und Ver- bände, bessere und direktere Zugriffs- möglichkeiten zur Durchsetzung der po- litischen Kostendämpfungs- und Steu- erungsmaßnahmen einzuräumen. Au- ßerdem setzte die damalige Gesetzge- bung auf das Prinzip der „gleich langen Spieße“ zwischen Krankenkassen, Ärz- ten, Zahnärzten, der Arzneimittelindu- strie, der Apothekerschaft und anderen Leistungserbringern. Dieses Prinzip wur- de bereits lange vor der Kostendämp-
fungsgesetzgebung auch von verschie- denen Ärzteverbänden, so vom NAV- Virchow-Bund (Verband der niederge- lassenen Ärzte Deutschlands e.V.) und der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, gefordert. Der Staat überließ die Detaillierung, Umsetzung, Kontrolle und Sanktion weitgehend der gemein- samen Selbstverwaltung. Diese sei in er- ster Linie in die Pflicht genommen und
öffentlich zur Rechenschaft gezogen worden, so Wasem vor den 25. Biers- dorfer Krankenhausmanagement-Ge- sprächen am 16. September in Biers- dorf (Eifel).
In weiteren Etappen der Gesund- heitsreform wurde der korporatistische Rahmen gelockert und Öffnungsklau- seln im SGB V implementiert, um einen ersten Einstieg in den Ausstieg aus dem tradierten Steuerungssystem zu vollzie- hen.Wasem nennt vier Elemente, die mit der jüngsten Gesundheitsreform in das Recht der Gesetzlichen Krankenversi- cherung (SGB V) installiert wurden:
> Möglichkeiten zur Integrierten, sek- torenübergreifenden und interdiszipli- nären Versorgung (§§ 140 a ff. SGB V);
verankert durch die Gesundheitsstruk- turreform 2000;
> Ermöglichung von Struktur- und Modellverträgen nach Maßgabe der
§§ 73 b, 73 c SGB V(ebenfalls in der Ge- sundheitsstrukturreform 2000 veran- kert);
> Möglichkeiten, auch Einzelverträ- ge mit Krankenhäusern gemäß § 116 b SGB V zu schließen;
> Möglichkeiten zum Einzelvertrags- abschluss mit Unternehmen der phar- mazeutischen Industrie gemäß § 130 a SGB V.
Sämtliche Parteien haben sich eben- falls für eine stärkere wettbewerbliche Orientierung auf dem Gesundheits- markt ausgesprochen, insbesondere über eine Lockerung und Flexibilisie-
rung im Vertragsbereich. So hat die CDU im jüngsten Wahlprogamm postu- liert, dass der Wettbewerb unter Ärz- ten, Krankenhäusern, Arzneimittelher- stellern und Apothekern deutlich ge- stärkt werden müsse. Im Gesundheits- konzept der FDP ist ebenfalls eine Op- tion für mehr Transparenz, Wettbewerb und Vertragslockerung verankert. Im Bürgerversicherungskonzept der SPD P O L I T I K
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A2840 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 42⏐⏐21. Oktober 2005
Gesundheitsreform
Vom Korporatismus zum Wettbewerb
Gesundheitsökonom Jürgen Wasem:
Wettbewerblicher Ordnungsrahmen hat Zukunft.
„Der Paradigmenwandel zu einem System des
solidarischen Wettbewerbs im Gesundheitswesen zeichnet sich längst ab.“
Jürgen Wasem
Foto:BRAUCHITSCH
und der Bündnisgrünen wurden Direkt- verträge als Reformoption propagiert.
Hinter diesen programmatischen For- derungen steht der Wunsch, durch ei- nen forcierten Vertrags- und Leistungs- wettbewerb vermutete oder tatsächli- che Wirtschaftlichkeitsreserven zu mo- bilisieren und für alle am Vertrags- und Leistungsgeschehen Beteiligte nutzbar zu machen.
Wasem fordert: Der wettbewerbli- che Steuerungsansatz darf sich nicht in einem Kassenwettbewerb erschöpfen.
Der Preis (Beitragssatz-)Wettbewerb müsse ergänzt werden durch einen Qualitäts- und Servicewettbewerb und ein Konkurrieren um ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis.
Verträge ausschreiben
Es ist es ein konstitutives Element eines solidarischen Wettbewerbs, dass die Lei- stungserbringer nicht automatisch durch die Kostenträger (Krankenkassen) zu- gelassen werden und kein Kontrahie- rungszwang besteht, sondern vielmehr Verträge öffentlich ausgeschrieben und ausschließlich nach Effizienz- und Lei- stungskriterien vergeben werden.
Auch mithilfe von sektorenübergrei- fenden Versorgungsformen müsse der Such- und Entdeckungsprozess verstärkt werden. Nur so könnten Wirtschaftlich- keitsreserven mobilisiert, die Produkti- vität verbessert und Innovationen in den Versorgungsprozess eingeführt werden.
Andererseits müssten Grenzanbieter und qualitativ schlechte Leistungserbrin- ger rasch aus dem Markt ausscheiden.
Obligatorisch ist nach Wasem die Beibehaltung eines morbiditätsorien- tierten Risikostrukturausgleichs eben- so wie die Verhinderung von marktbe- herrschenden Positionen der Leistungs- anbieter und der Financiers. Es müssten insbesondere monopolistischen und oli- gopolistischen Strukturen bei den Krankenkassen – infolge von weiteren Fusionen – Einhalt geboten werden, denn bei marktbeherrschenden Kassen würden die Leistungserbringer „an die Wand geklatscht“ (Wasem).
Eine Voraussetzung der Marktsteue- rung ist nach Wasem auch eine verbes- serte Markttransparenz, mehr Informa- tionen über Rechte und Pflichten der
Leistungserbringer ebenso wie der Krankenkassen und der Versicherten.
Diese erfordere teilweise auch eine prinzipielle Neuordnung von Institutio- nen und Versorgungsstrukturen. Unab- dingbar sei auch eine Überwindung sektorspezifischer Regelungen, wie bei- spielsweise von Bedarfsplanungen, Zu- lassungen und Budgets. Erwägenswert sei ein einheitlicher Leistungskatalog zumindest im Pflichtleistungsbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Sinnvoll sei auch eine Organisationsre- form der Krankenkassen.
Übertragen auf den stationären Sek- tor, würde ein solidarisches Wettbe- werbsmodell im „Endstadium“ unter fol- genden Voraussetzungen funktionieren:
> Wegfall der staatlichen Kranken- hausplanung und Übertragung des Si- cherstellungsauftrags auf die Kranken- kassen. Überwachung einer ausreichen- den, flächendeckenden und zugleich sektorenübergreifenden Sicherstellung durch das Land (Letztverantwortung durch das Land im Rahmen der allge- meinen Daseinsvorsorge).
Unter Berücksichtigung der Steue- rungswirkungen der diagnosebezoge- nen Fallspauschalen (Diagnosis Relat- ed Groups; DRGs) ist ein behutsamer Übergang zur Finanzierungsmonistik (Finanzierung nur durch die Kranken- kassen) erforderlich (wegen der Altla- sten und unterschiedlicher Bausubstanz der Kliniken eventuell Fondslösung).
Aus der Sicht Wasems ist die monistische Finanzierung nicht Endpunkt des DRG- Finanzierungssystems, sondern geradezu ein Erfordernis, um gleiche Startbedin- gungen für kommunale, freigemein- nützige und private Klinikbetreiber zu schaffen. Anderenfalls – bei einer Beibe- haltung der Teilmonistik beziehungswei- se der abnehmenden Dualistik – würden sich private Klinikträger, vor allem priva- te Klinikketten, das Kapital auf dem Kapitalmarkt beschaffen, das sie zur Expansion und zur Ausschaltung von Konkurrenten benötigen.
Eine weitere wichtige Rahmenbedin- gung: Fortfall des Kontrahierungszwan- ges gegenüber Plankrankenhäusern.
Den Krankenkassen müsse erlaubt wer- den, über selektive Verträge (nach dem Einkaufsmodell) sektorenübergreifend Leistungen „einzukaufen“. Dabei müss- ten sowohl die Strukturen als auch die
Mengen, die Preise und die Qualitäten vertraglich vereinbart werden.
In diesem Ordnungsrahmen wäre es erwägenswert, das DRG-Steuerungs- und Finanzierungssystem als obligatori- sches Preissystem abzuwählen und durch ein alternatives System zu erset- zen. Allerdings könnten die Grundla- gen des diagnosebezogenen Fallpau- schalensystems als Instrument zur bes- seren Transparenz beibehalten werden.
Bei künftigen Reformschritten müss- ten die noch weitgehend starren Gren- zen zwischen ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung abgebaut und durch Verbundmodelle überwun- den werden. Schon heute würden die Krankenkassen immer mehr Komplett- versorgungsverträge abschließen und sektorenübergreifend agieren.
In diesem Kontext unterlägen die Kassenärztlichen Vereinigungen einem raschen Bedeutungswandel. Immer mehr laufe das Wettbewerbs- und Vertrags- geschäft neben den traditionellen Insti- tutionen und Strukturen her. Denkbar seien Selektivverträge unter Einbezie- hung der verordneten Leistungen, ins- besondere von Arzneimitteln. Eine wei- tere Spekulation: Künftig werde es wei- tere Öffnungsklauseln im Rahmen des SGB V geben mit Möglichkeiten der Vertragsflexibilisierung und von inno- vativen und effizienten Versorgungs- strukturen und -modellen.
Vorerst Parallelstrukturen
Ein gravierendes Problem ergibt sich dadurch, dass zunächst Parallelstruktu- ren weiter bestehen bleiben, so etwa Versorgungsstrukturen außerhalb der Integrationsversorgung und jener Ver- sorgungsbereiche, denen ein neuer Ver- trags- und Ordnungsrahmen zugrunde gelegt wurde. Dadurch kann es Struk- turverwerfungen und Quersubventio- nen zulasten oder zugunsten des einzel- nen Akteurs geben.
Wasem prognostiziert: Eine Paralle- lität von altem und neuem Ordnungs- rahmen wird es auf längere Sicht weiter geben. Die gravierenden konzeptionel- len und technischen Schwierigkeiten des Übergangs – und der Umstellung zu lösen, ist eine große Herausforderung der Zukunft. Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K
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A2842 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 42⏐⏐21. Oktober 2005