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Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften
Schiefer, J.
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Schiefer, J. (1948). Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften. In Verhandlungen des 8. Deutschen Soziologentages vom 19.-21. September 1946 in Frankfurt am Main: Vorträge und Diskussionen in der
Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen (S. 162-182). Tübingen: Mohr Siebeck. https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-190252
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IÖ2
VII
Sechster
Vortrag
Oberkreisdirektor Dr.
J.
SchieferZur Soziologie der deutschen Gewerkschaften
Künftige Zentralstellung
derGewerkschaften
Die
Behandlung
diesesVortragsthemas
auf einem deutschenSoziologentage ergibt
sichausder Annahme derhöchstwahrschein¬lichen
künftigen Zentralstellung
der Gewerkschaften im deutschen Wirtschafts- undSozialleben,
nicht zuletzt aber auchausder zwin¬genden Notwendigkeit,
den Wiederaufbau der deutschen Gewerk¬schaften mit den
Ergebnissen soziologischer Forschungsarbeit
tat¬kräftig
zu unterstützen. Eine Sozialwissenschaft von so eminentergesellschaftlicher Bedeutung
wie dieSoziologie
muß ihre wissen¬schaftliche Schauweise und Erkenntnisse in den Dienst solcher
gesellschaftsformender Beziehungs-
undGestaltungsgebilde stellen,
wie die Gewerkschaften sind.Aufgabe
derSoziologie
Jede
sozialwissenschaftlicheForschungsarbeit
darf nicht Selbstzwecksein,
nicht nurBefriedigung
desForscherglücks,
sondern muß letzten Endes in den zentralen Sinn
münden,
daß wir Wesen einer menschlichen Gesellschaftsind,
die wir in der Fülle ihrer sozialen Problematik erkennen müssen, um sie zu for¬men und die mit dem denkbar
glücklichsten
KulturinhaltzurFör¬derung
des menschlichen Gesamtwohls auf unsere Weise mitzu-gestalten,
das Ziel unserer Wissenschaft ist.Fehlen
soziologischer Untersuchungen
überGewerkschaften
Die Gewerkschaften sind bis 1933 vonder
soziologischen
For¬schungsarbeit
so viel wie unberührtgeblieben
und in den Zeitendes
Naziregimes
konnteüberhaupt
keine Rede davon sein. Es fehlengründliche soziologische Untersuchungen
über das Wesenund Wirken der Gewerkschaften
allgemein;
es fehlensoziologische Untersuchungen
über den Tarif- undArbeitsvertrag
als Grund¬lagen
zurGestaltung
ordnender und aufbauenderSozialprozesse,
die mit der
Schaffung
ihrerBeziehungen
das soziale Einzel- undGruppenschicksal
intiefgehender
Weisebestimmen;
esfehlen sozio¬logische Untersuchungen
über dasSchlichtungswesen,
die Arbeits¬gerichtsbarkeit,
denTyp
desgewerkschaftlich Organisierten,
desUnorganisierten,
desGewerkschaftsfunktionärs,
der Gewerkschafts¬bürokratie,
denBetriebsrat,
dasAlternsoziologischer
Gebilde wiedie
Gewerkschaften,
dieGewerkschaftspresse,
die Gewerkschafts¬moral und nicht zuletzt so
eminent-wichtige soziologische
Erschei¬nungen wie der Streik und die
Aussperrung;
es fehlen soziolo¬gische Untersuchungen
über den Arbeiter ganzallgemein,
denAngestellten
und den Beamten alsObjekte
der Gewerkschaften.Jede
dieser dreiArbeitnehmergruppen
nimmt einesoziologische Sonderstellung
ein. Allein schon dieTatsache,
daß dieAngestell¬
ten rund ein
Jahrhundert später
als industrielle Massenerschei¬nung nach den Arbeitern in die
Sozialgeschichte eingetreten
sindund 50
Jahre später
als die Arbeiterbegannen
sichzögernd
in Ge¬werkschaftenzu
organisieren,
wirft eineMenge soziologischer
Pro¬bleme
auf,
mit denen auch heute dergewerkschaftliche
Wieder¬aufbau schwer zu
kämpfen
hat. Nochschwieriger liegen
die Ver¬hältnisse beim
Beamten,
der alsjüngste Arbeitnehmergruppe
indie
Sozialgeschichte
eintrat und erst nach dem erstenWeltkrieg Organisationsobjekt
der Gewerkschaften wurde.Soziologie
derGewerkschaften
Meine
Untersuchungen bewegen
sich im Rahmen einerallge¬
meinen
soziologischen Betrachtung
undZielsetzung.
Eine Sozio¬logie
der Gewerkschaften mußversuchen,
die zwischenmensch¬lichen
Beziehungen
undHandlungen
dieser sozialen Gebilde alsorganisatorische Erscheinungsformen
von besonders auffallendergesellschaftlicher Prägung
undBestimmung
im Ablauf des Gesell¬schaftsprozesses,
insbesondere deskapitalistischen
Wirtschafts¬systems
zu klären und zu ordnen. Im Sinne diesersoziologischen
Schauweise sollen hier
einige
Probleme betrachtet werden.11*
J. Schiefer,Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften
I.
Gewerkschaftsbildende Sozialpr'ozesse
Es sind bestimmte
Sozialprozesse,
die zurBildung
von Ge¬werkschaftenführen.Die Gewerkschaften entstanden in allen Län¬
dern im
Zuge
derkapitalistischen Wirtschaftsentwicklung,
derenarbeitsmäßige Grundlage
die industriellen Lohnarbeitermassenbilden.
Entstehung
der LohnarbeitermassenDer
Kapitalismus
schufdie industriellenLohnarbeitermassen,
wie sie kein früheresWirtschaftssystem
indiesemgewaltigen
Klas-senausmaß und in dieser sozialen Struktur
gekannt
hat. ImRechts¬sinnefreie Lohnarbeiter hatte es neben dem Sklaven imAltertum und dem
Leibeigenen
im Feudalismus immergegeben.
Aber denIndustriearbeiter als
gesellschaftstypische
Massen- und Klassen¬erscheinung,
alsarbeitsmäßige Grundlage kapitalistischer
Produk¬tion
gibt
es erst seit Bestehen desKapitalismus,
seitßeginn
desIndustriezeitalters um 1800. Der Arbeiter ist besitzlos im Sinne
kapitalistischer Produktionsmöglichkeit, abhängig
in der Verwer¬tung
seiner Arbeitskraft und in derRegel
dauernd und erblich auffremdbestimmte Arbeitangewiesen. Angehöriger
dieser Klassezu
sein,
ist sozialesSchicksal,
und der Ausbruch aus ihrgelingt
nur
wenigen,
die sich unter dem Antriebglücklicher
Geistes- undCharaktereigenschaften
undunterAusnutzung günstiger
Umständeenergisch
durchsetzen. Dieser Industrialismus schufvöllig
neueArbeitsmittel und -techniken. Er vermehrte die
Bevölkerung
unddie Produktion in nie
gekannter
Weise. Es entstanden Großbe¬triebe und Großstädte.
Entwicklung
desKapitalismus
Die räumliche
Ausdehnung
der Kultur und Zivilisation nahmzu. Der Lebensstandard breiter
Bevölkerungsmassen
wurde ver¬bessert. Die
Verdichtung
desVerkehrs- undNachrichtennetzes und dieSchnelligkeit
in derÜberwindung
des Raumes und der Zeit erzielten riesenhafte Fortschritte. Wirtschaftsmacht und Reich¬tum ballten sich auf der einen
Seite,
undAusbeutung
und Elendverschärften und häuften sich auf der anderen. Wirtschaftskrisen und
imperialistische Kriege hochkapitalistischer
Wirtschaftsmächte erschütterten das wirtschaftliche undgesellschaftliche
Leben.Verdichtung
der zwischenmenschlichenBeziehungen
So verdichteten sich die
zwischenmenschlichen Beziehungen
zu
ungeahnter
Fülle und schufenneuartige
sozialeGebilde,
wie die Gewerkschaften u. a. sind. Menschen undMenschengruppen
in sozial undwirtschaftlichrelativ
gleich
verwurzelterLage
müssenunter dem zunehmenden
Zwang
desSelbsterhaltungstriebes
be¬wußtseinsmäßig
und ideenverwandtzusammenrücken,
zwangs¬läufig Fühlung nehmen,
sichvereinigen
undorganisiert
zur.Selbst¬hilfeschreiten.
Selbsterhaltungstrieb
undSelbsthilfe
Sie
verkörpert
ein uraltes soziales Gesetz im Leben der Völker invieltausendfacherErscheinung,
das durchJahrhunderte
kultur¬schaffend
gewirkt
hat.Großbetrieb
undBeziehungen
Für die
Gewerkschaftsentstehung
schafft derkapitalistische Großbetrieb,
obFabrik, Kaufhaus, Bergwerk, Hochofen,
Verkehrs¬gesellschaft
oder technisches und kaufmännisches Bürohaus einer Industrie- oderHandelsgesellschaft,
eine in derSozialgeschichte
nie
gekannte Zusammenballung
undVielseitigkeit
an zwischen¬menschlichen
Beziehungen. Hunderte,
tausende und zehntausendevon Arbeitern und
Angestellten
arbeiten in einem Betrieb oder Unternehmen. Sie sind schon rein äußerlich durch ihrgemein¬
samesArbeitsschicksal
zwangsläufig
zu vielen Kontakten und Be¬ziehungen
miteinander verbunden.Weg
aus der IsoliertheitEs läßt sich ein
idealtypischer Weg
aus der Isoliertheit des EinzelnenzurGewerkschaft,
vonderFühlungnahme
biszur inten¬siven Einzel- oder
Kollektivbeziehung aufzeigen, beispielsweise
anden sozialen Prozessen eines Fabrikbetriebes:
Typen
1. Mensch-Sach-Kontakteund
Beziehungen
zumateriellenObjek¬
ten wie
Art, Menge, Anstrengung
und Verdienst derArbeit,
zu den
Arbeitswerkzeugen
und-stücken, -erfolgen,
zumArbeitsraum,
zurFabrik;
2. zwischenmenschliche Kontakte und
Beziehungen
zu sozialenObjekten
wie zum nächstenMitarbeiter,
zurArbeitsgruppe,
l66 J.Schiefer, Zur Soziologie derdeutschen Gewerkschaften
zum
Gruppenführer
oderVorarbeiter,
zu den Arbeitern einerAbteilung,
z. B. einerSchmiede,
Schreinerei oderSchlosserei,
zumMeister oder
Werkführer,
zudem technischen und kauf¬männischen
Personal,
zurGesamtbelegschaft
oderzum Leiteroder Direktor der
Fabrik;
3. Zwischenmenschliche Kontakte und
Beziehungen
als unmit¬telbar wirkende
gewerkschaftsbildende Sozialprozesse
zu denorganisierten Gewerkschaftskollegen,
zu denUnorganisierten,
zum
Abteilungsfunktionär
derGewerkschaft,
zudeneinzelnenBetriebsratsmitgliedern
und zumGesamtbetriebsrat,
zu dengewerkschaftlichen Organen
und ihren Sekretären.Diese
soziologische Aufgliederung
läßt sichbeijedem
anderenbeliebigen Objekt
durchführen.Kontakte und
Beziehungen
Kontakte als
Übergangsphasen
undBeziehungen!
Beide Prozesse vermischen sich und sind nicht scharf zu trennen. Sie weisen hinsichtlich ihrer
Heftigkeit
und Dauer einelange
Skala vonAbstufungen
auf. Bei dem einen Arbeiter oderAngestellten
werden dieFühlungnahme
und dieBeziehungen
inder
Freizeit,
zum Betrieb und zur Gewerkschaftzuflüchtigen
Bin¬dungen abklingen,
während sie bei anderen Arbeitern auch außer¬halb des Betriebes
fortdauern, ja
zur Gewerkschaft sich noch stei¬gern können, wenn es sich um Funktionäre
handelt,
die in ihrer Gewerkschaftsarbeitaufgehen,
eine moralische Pflicht und ein Ideal darin sehen.Großstadt
Wie der Großbetrieb in
jeder
der dreiWirtschaftssphären (Produktion,
Zirkulation undDistribution)
durch dieHäufung
undVerdichtung
der sozialen Probleme derSoziologie gänzlich
neueund
vielseitige Aufgaben
inbezug
auf diezwischenmenschlichen Sozialprozesse
für dieEntstehung
und dieHandlungen
der Ge¬werkschaften
geschaffen hat,
so wirkt sich auch die fast unüber¬sehbare Fülle zwischenmenschlicher
Sozialprozesse
in der Gro߬stadt
gewerkschaftsbildend
aus. Hier setzen sich die zwischen¬menschlichen
Beziehungen
des Arbeitslebens in der Fabrik in anderen Variationen fort.Folgende wichtigste
Kontakt- und Be¬ziehungskomplexe
lassen sich hier umrahmen:Kontakt- und
Beziehungskomplexe
i. durch Bewohnen von
Werkswohnungen
der Arbeiter und An¬gestellten
einer Fabrik oder einerUnternehmung;
2. durch das Wohnen bestimmter Arbeiter- und
Angestellten¬
kategorien,
einerFirma,
einesKartells,
einesTrusts,
Kauf¬und Bürohauses u. ä. im selben
Stadtteil,
derselbenStraße,
im selben Häuserblock oder im selbenHaus;
3. durch Interessen für
gesellige, sportliche, politische, gewerk¬
schaftliche,
kulturelle undreligiöse Veranstaltungen, Feiern, Feste, Vereinigungen
undOrganisationen.
Stadien sozialer Prozesse
Im Rahmen dieser
aufgezählten
sozialenBeziehungskomplexe
sind alle Stadien sozialer Prozesse
denkbar;
Vor- undÜbergangs¬
stadien,
Stadien der vollkommenenAssoziierung
durchVereinigung
in einerGewerkschaftoder deren
organisatorische Ausdehnung
undsoziale
Betätigung.
Raum und Umwelt
Die sozialen
Prozesse,
die zurBildung
von Gewerkschaftenführen,
sind in ihrer Dichte undHeftigkeit
andie Größe des Raumes und der sozialen Umweltgebunden.
In den Großbetrieben und Großstädten verbinden sie sich zugewerkschaftlichen, organi- sationsgestaltenden
Kräften.Über
die Mittel- und Kleinbetriebe hinaus bis zurHandwerksstube,
über die Mittel- und Landstadt bis hinab ins Dorf verebben diegewerkschaftsbildenden
Sozial¬prozesse bis zum
völligen
Verschwinden. Die städtischen Industrie¬arbeiter und
Angestellten,
die auch in der Stadtwohnen,
sind auf Grund ihrer ganzen sozialen undsozialpsychologischen
Verwurze¬lung
für eine Gewerkschaft viel schneller und dauernder zu ge¬winnen als die Industriearbeiter und
Angestellten,
die auf dem Dorfe wohnen' undeigentumsverhaftet
sind. Dasgilt
besonders für dieLohnarbeiterschaft in der Land- und Forstwirtschaft mit ihrem halbbäuerlichen Bewußtsein und Lebensweise. Die deutsche Ge¬werkschaftsgeschichte
liefert hierfür viel Beweismaterial.Induslriearten
Die räumliche
Abstufung
nachArbeits- und Wohnstätten für dieHeftigkeit
des Auftretens sozialer Prozesse alsorganisatorisches
IÖ8 J. Schiefer, Zur Soziologie der deutschenGewerkschaften
Gestaltungsprinzip
läßt sichgleichfalls
fürdieIndustriearten,-
for¬men und -stufen nachweisen.
Schwere, mittlere,
leichte und feine Industrieformen wirken sichverschiedenartig gewerkschaftsgestal-
tend aus. Geschichtlich waren
beispielsweise
imKohlenbergbau
—verschieden selbst im
Ruhrgebiet
und Oberschlesien— andere Be¬dingungen gegeben
als in derSolinger
Stahlwarenindustrie. Während dort die Arbeiter durch vielerlei natürliche und seelische Einflüssegehemmt wurden, Organisationstraditionen
vom mittelalterlichenBergbau
her durchÜberfremdung
undVermassung
der Arbeiter¬schaft
erstickten,
wurden diebergischen
Stahlwarenarbeiter mit ihren reichen Verbands- und TariftraditionenGewerkschaftsgrün¬
der von
geschichtlicher Bedeutung
bis weit über den Standort der Industrie hinaus.Zusammenfassung
»Die Kräfte zur
gewerkschaftlichen Machtentfaltung
flössenaus zahlreichen
Quellen.
DieGrundlage
waren diekapitalistische
Wirtschaft und Gesellschaft. Die zeitliche und räumliche Geschichte der Gewerkschaften
folgte
dem Aufbau dergroßen
Wirtschafts¬gruppen, den Gewerbe- und
Industriezweigen,
dem Stufenbau derWirtschaft,
den Formenkapitalistischer Unternehmungen.
Allesachlichen und menschlichen Faktoren haben im Bereich dieser Grundtatsachen Steine und Mörtel zum Aufbau der Gewerkschaf¬
ten
geliefert.«
»Vom Betrieb bis zur
Stadt,
vom Rohstoff bis zumEndpro¬
dukt,
vomHandlanger
bis zumMaschinensetzer,
vom Grenzkuli bis zumArbeiteraristokraten,
vomLohn bis zurWeltanschauung,
von der
Seßhaftigkeit
biszurBewegung
im Raum ausmancherleiGründen,
von derpersönlichen Intelligenz
des Arbeiters bis zurOrganisationsgabe
desAgitators
undGründers,
vomMenschen biszur Masse und
umgekehrt,
von dem Verhalten des Unternehmers bis zumZwangs-
undMachtapparat
desStaates,
von der Volks-bis zurWeltwirtschaft undvon der Krise biszur
Konjunktur
undumgekehrt ging
ein breiterundtiefer Strom vonKräften und Wir¬kungen
auf dieGewerkschaftsbewegung
aus, stimulierte das ge¬werkschaftliche
Organisationsprinzip
auf der Basis einerkapitali¬
stischen Wirtschaft zum
Aufschwung
oder hinderte seine Entfal¬tung.« (Mein
»Leitfaden der Geschichte der deutschen freien Ge¬werkschaften«,
Aachen1946.)
Gewerkschaftsbildende Sozialprozesse
durchHandlungen
der Gewerk¬schaften
Dies sind
gewerkschaftsbildende Sozialprozesse,
die ihre An¬triebskräfte von
außergewerkschaftlichen Trägern
deswirtschaft¬lichen und sozialen Lebens
empfangen.
Esgibt
aber auchgewerk¬
schaftsbildende
Sozialprozesse,
deren treibende Kräfte durch be¬stimmte
Handlungen
der Gewerkschaftenausgelöst
werden. Zu dieserKategorie
rechnen dieLohnbewegungen,
verbesserte Tarif¬abschlüsse, Werbungsaktionen
durch Wort undSchrift, erfolg¬
reiche
Angriffs-
undAbwehrstreiks, günstige Schiedssprüche,
Nie¬derlagen
der Unternehmer beiAussperrungen, Erfolge
der Gewerk¬schaften durch
Verbesserungen
in derSozialversicherung,
imArbei¬terschutz und im Arbeitsrecht. Die
Verbesserung
der Lohn- undArbeitsbedingungen
in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Viel¬seitigkeit
und die Abwehr ihrerVerschlechterung
sind dieprimären Aufgaben
derGewerkschaften,
dieGrundlage
ihrer Existenz imKapitalismus.
Wandelt sichdieser,
werden die Gewerkschaften in andereAufgaben
hineinwachsen. DerErfolg
oderMißerfolg
ge¬werkschaftlicher
Handlungen
löst entweder konstruktive oder destruktiveSozialprozesse
aus, entfesseltgewerkschaftsaufbauende
oder
gewerkschaftszerstörende
Prozesse. Die Lebenselemente derGewerkschaften,
wieallerhöherenSozialgebilde,
heißen Aktionen.Von der Intensität dieser Aktionen und ihrer
Erfolge hängt
ihrGedeihen ab. Aktionsarme oder
aktionsunfähige
Gewerkschaften sind nichtlebensfähig.
Dergegenwärtige
Wiederaufbau der deut¬schen Gewerkschaften leidet in erheblichem Maße an Aktions-
losigkeit,
demMangel
anHandlungs-Chäncen,
anBetätigungs¬
möglichkeiten
im Sinne ihrerBestimmungen.
Diese treten injeder
normalen Wirtschaftskrise auf. Die
Wiederaufbauperiode
der deut¬schen Gewerkschaftenfällt aber in eine Zeit nationaler
Katastrophe,
wie die deutsche Geschichte sie in diesem Ausmaß noch nicht ge¬
kannt hat.
Ideologische
und moralische Faktoren sind für Sozial¬gebilde
wie die Gewerkschaftenzwarschöpferische Prinzipien,
aberder Wille zu
korporativer Selbsthilfe,
der allegeistige
undseelischeGrundhaltung
bestimmende Trieb derSelbsterhaltung,
zur Schaf¬fung
vonbesserenLebensmöglichkeiten
imWege
desorganisierten
Zusammenschlusses und
gemeinsamen
Handelns ist die stärkstesozialgebildeschaffende
Kraft im Gewerkschaftswesen.170 J.Schiefer,Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften
II. Die Gewerkschaften als soziale
Beziehungsgebilde
Wesensmerkmale
Die Gewerkschaften zählen zu den sozialen
Gruppen
wie Ge¬nossenschaften, Arbeitgeberverbände, politische
Parteien und ähn¬liche höher
organisierte
soziale Gebilde. Sie besitzen bestimmteWesensmerkmale,
die sie alsBeziehungsgebilde
höhererOrdnung
kennzeichnen und ihr Dasein
bedingen,
nämlichReifegrad
derOrganisation
1. einen
gewissen Reifegrad
derorganisatorischen Erfassung
ihrer
Mitglieder,
wieAbgabe
einerWillenserklärung
zum Eintrittin die
Gewerkschaft, Anerkennung
des Status oder derSatzung,
die Rechte und Pflichten des einzelnen
Mitglieds
sowie der Ge¬werkschaft diesem
gegenüber enthält, Zahlung
eines Eintritts¬geldes,
einesregelmäßig
wiederkehrendenBeitrages,
bestimmtezweckgebundene Unterstützungen
an dieMitglieder
bei Arbeits¬losigkeit, Streiks, Aussperrungen, Krankheit,
Invalidität u.ä.,
dieallgemeinen
Ziele der Gewerkschaft wieVerbesserung
der Lohn-und
Arbeitsbedingungen, Pflege
desBerufsinteresses,
Wahrneh¬mung bestimmter arbeits- und sozialrechtlicher
Forderungen
derMitglieder, Herausgabe
einerZeitung, Teilnahmepflicht
an denMitgliederversammlungen,
Wahlen und funktionelleAufgaben
imAufbau des Verbandes sowie die
Austrittsbedingungen.
2. Kontinuierlichkeit des Zusammenschlusses
Die
organisatorische
Verbundenheit ist ein dauerndes und ununterbrochenes VerhältniszwischendenMitgliedern,
keinZufall,
kein
Ereignis,
keinzeit-,
räum-odersozialgebundener sozio-psycho- logischer
Tatbestand wie beieinemStraßenauflauf,
einemTumult,
einer DemonstrationHungernder,
einerGeschäftsplünderung,
einemwilden
Streik,
einer wildenVersammlung, einem passiven
Wider¬stand und vieler anderer
Erscheinungsformen
der Masse im sozio¬logischen
Sinne. Der nüchternabwägende
Verstand vieler und ihr kollektiver Wille zur Selbsthilfe auf unbestimmte Zeit und mit ununterbrochenerDauerbestimmt dieOrganisationsform
und denInhalt beieiner Gewerkschaft. Besondere soziale Gebilde als Voll¬
zugsorgane wie
Vorstand,
Beirat und Ausschuß sindvorhanden,
die im
Auftrag
undin Vollmacht derMitglieder Beziehungen pfle¬
gen, beschließen und handeln.
3.
Gewerkschaftsgeist
Gewerkschaftsgeist
oder eingewerkschaftliches
Bewußtseiner¬füllt die
Mitglieder
hinsichtlichihrergeistig
seelischen Verbunden¬heit innerhalbihrer Gewerkschaften und zu anderen Gewerkschaf¬
tendes In- und Auslandes wie
Kollegialität
undEinigkeit, Opfer¬
bereitschaft und
Gegenseitigkeitshilfe,
Verbandstreue und -diszi-plin,
Berufsstolz und demokratischeGleichberechtigung, Pflege
bestimmter Verbandstraditionen und
-gewohnheiten
und der Willezur Selbsthilfe im einzelnen wie in der Gesamtheit der
Mitglieder
zur
Erreichung
derVerbandsziele,
alsoBildung
einergeistig
see¬lischen
Verfassung
mit bestimmterethischer,
ideeller und materi¬eller
Zielsetzung,
die nach den Persönlichkeitswertenmannigfaltig abgestuft
ist. Dasgewerkschaftliche
Bewußtsein ist die Seele zumkollektiven
Handeln,
der Wille zur sozialen Tat.4.
Daseinszwingende Beziehungen
Daseinszwingende Beziehungen
zu anderenBeziehungsgebil¬
den sind den Gewerkschaften
wesenseigen, Beziehungen
zumStaate und seinen
Einrichtungen,
zuArbeitgeberverbänden,
Pro¬duktiv- und
Konsumgenossenschaften, politischen
Parteien undWohlfahrtsorganisationen,
Kultur-undWirtschaftsverbänden,
alsozu einer Vielzahlvon
Körperschaften
des sozialen Lebens.III. Der
soziologische
Aufbau der deutschen Gewerkschaften bis zurAuflösung
Verfassungs-
undVerwaltungsorgane
Eine Gewerkschaft setzt sich aus einer Anzahl sozialer Be¬
ziehungsgebilde
zusammen, um handeln zu können:Verfassungs¬
und
Verwaltungsorgane
wieZahlstellen, Bezirksleitungen, Haupt¬
vorstand,
Ausschuß und Beirat. DieseBeziehungsgebilde
formenzusammen den
Beziehungsorganismus
einerGewerkschaft.Solange
es sich um lokale Berufsverbände handelt mit
zwangsläufig
be¬schränkter
Mitgliederzahl,
wie dies in dergewerkschaftlichen
Früh¬zeit,
in den 40er, 50er und 60erJahren
des 19.Jahrhunderts
dieRegel
war, hält sich dersoziologische
Aufbau einer Gewerkschaft172 J.Schiefer, Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften
in sehr einfachem Rahmen. Die lokalen
Bildungs-
und Berufs¬vereine in dieser
Zeit,
dieBuchdrucker, Schriftsetzer, Buchbinder, Zigarrenarbeiter,
Schneider und Bäckerbegnügten
sich mit einem ehrenamtlichenVereinsvorstand,
der nochjedes Mitglied persön¬
lich kannte und
Beziehungen
zu ihm unterhielt. Auch sein Hand¬lungsgebiet
warortsgebunden: Pflege
derkollegialen
und beruf¬lichen
Beziehungen
derVereinsmitglieder untereinander,
Kas¬sierung
derBeiträge, Abhaltung
von örtlichenVersammlungen, Mitgliederwerbung, Planung
undFührung
vonBoykotts
undkleineren
Streiks, Betreuung
derAusgesperrten
undWandernden,
soweit dies nicht Sache besondererEinrichtungen
war. Sobaldsich
jedoch
eine Gewerkschaft räumlichausdehnt,
ihreMitglieder¬
zahl
wächst,
vermehrtsich auch die Zahl derinnerorganisatorischen Beziehungsgebilde,
die in denVerfassungs-
undVerwaltungs¬
organen soziale Formen annehmen.
Erste
Reichsgewerkschaften
Die ersten
Zentralgewerkschaften
mit reichsräumlicher Aus¬dehnung
wie der»Allgemeine
DeutscheZigarrenarbeiterverein«, 1865,
und der »DeutscheBuchdruckerverein«, 1866,
waren kar¬tellähnliche
Vereinigungen
vonweitgehend selbständig
bleibendenOrtsvereinen mit einem
Hauptvorstand
alsVerbandsspitze,
dieden sozialen
Handlungswillen
derGesamtmitgliedschaft
zumAus¬druck brachte.
Verfeinerung
dessoziologischen Aufbaues
Die Geschichte der deutschen Gewerkschaften bis 1933
zeigt
eine fortschreitende
Differenzierung
undVerfeinerung
ihres sozio¬logischen
Aufbauesje
mehr sie sich vonkleinen örtlichenVereinenzu
großen
zentralenKörperschaften,
zu Berufs- und Industrie¬gewerkschaften, entwickelten, je
mehr sich also derHandlungs¬
raumund
Aufgabenkreis erweiterte,
dieBeziehungsverflechtungen
zu ihren
Mitgliedern
in allen sozialenLebenssphären,
zuStaat, Politik, Wirtschaft, Sozialpolitik, Arbeitgeberverbänden,
Gewerk¬schaften des In- und Auslandes und vielen anderen
Beziehungs¬
gebilden
der Gesellschaften zunahmen und sich verdichteten. In der letztenEntwicklungsphase
der deutschenGewerkschaften,
der freien christlichen undHirsch-Dunkerschen,
von1918
bis 1933,gestaltete
sich ihr Aufbau nachfolgendem
Schema:1. Oberstes
Organ
Die oberste
Körperschaft
einer Gewerkschaft war ihr Ver¬bands-, Haupt-
oder Zentralvorstand. Seine Wahlerfolgte
durchden
Verbandstag
oder dieGeneralversammlung,
ein Parlamentvon
Delegierten
undAbgeordneten,
das vondenVerbandsmitglie¬
dern
gewählt
wurde. DieSatzung
bestimmte seineAufgaben:
Ge¬schäftsführung
desGesamtverbandes,
Abschluß von Reichstarif¬verträgen, Rechtsberatung
undProzeßvertretung
in Arbeitsrechts¬streitigkeiten
vongrundsätzlicher Bedeutung, Leitung
oder An¬weisung
für dieKampfhandlungen
undSchlichtungsverfahren
biszuden
Ortsgruppen hinab, Agitation, Propaganda, Bildungs-
undSchulungswesen.
Hauptbeziehungen
im Innenverhältnis: zu den Gau- und Be¬zirksleitungen,
zu den Zahlstellen oderOrtsgruppen; Hauptbe¬
ziehungen
imAußenverhältnis:
zu deneigenen
Wirtschaftsunter¬nehmungen
undBildungseinrichtungen,
zu denArbeitgeberver¬
bänden, privaten
und öffentlichenKörperschaften, Wirtschafts-,
Partei- undKulturorganisationen, sozialpolitischen Vereinigungen
und
Kongressen,
zu anderenGewerkschaften,
den Gewerkschafts¬bünden
(Dachorganisationen),
zu berufsverwandtenGewerkschaf¬
ten des
Auslandes,
den Berufsinternationalen(Internationale
Ver¬einigungen
berufsverwandterGewerkschaften),
deninternationalenGewerkschaftsbünden,
deminternationalenArbeitsamt,
den inter¬nationalen
sozialpolitischen Kongressen
undWeltwirtschaftskon¬
ferenzen.
2.
Ergänzungsorgane
Dem
Hauptvorstand
standen zur Seite: Der Verbandsaus¬schuß und der Verbandsbeirat. Beide
Körperschaften
wurdenvonder
Generalversammlung
derDelegierten
des Verbandesgewählt.
Der Verbandsausschuß kontrollierte die
Handlungen
desHaupt¬
vorstandes und bildete die Beschwerdeinstanzfür die
Mitglieder,
weshalb ihm
Verbandsangestellte
in derRegel
nichtangehören
durften. Im Verbandsbeirat saßen Gau- und
Bezirksleiter,
Zahl-stellenleiter, Mitglieder
aus denBetrieben,
demHauptvorstand
und dem Verbandsausschuß. Er hatte beratende Funktionen in allen
wichtigen Verbandsangelegenheiten.
174 J- Schiefer, Zur Soziologieder deutschen Gewerkschaften
3. Mittelinstanzen
Gau- oder
Bezirksleitungen
hießen die mittleren Verbands¬organe. Gau- oder Bezirksleiter standen an der
Spitze
mit Sekre¬tären und
Mitgliedern
als Vorstand. DieSatzung
bestimmte dieAufgaben: Geschäftsführung
in derBezirksebene,
Abschluß vonBezirkstarifverträgen, Leitung
oderAnweisung
für dieKampf¬
handlungen, Agitation, Propaganda, Durchführung
von Arbeits¬rechtsprozessen
undSchlichtungsverfahren, Beratung
der Mit¬glieder
undKampfführung
in derBezirksebene,
Kontroll- und Aufsichtsfunktionen nachuntenund Beschwerdeinstanz im Bezirk.Auch auf dieser Stufe
gab
esBeziehungen
im Innen- und Außen¬verhältnis: zu den Zahlstellen oder
Ortsgruppen
nach unten, zumHauptvorstand
nachoben,
zu denregionalen Körperschaften
derDachorganisationen
undzu allen sozialen Gebilden im Lebensraum der Gewerkschaft im Bezirk.4. Unterste
Organe
Die untersten
Verwaltungsorgane
der Gewerkschaftenhießen:Zahlstellen, Mitgliedschaften, Filialen, Ortsgruppen
oderBauge¬
werkschaften
je
nach den Verbandstraditionen. Sie waren derorganisatorische
Zusammenschluß in einem bestimmten Gebiet.Die
Mitglieder
wähltensich in derJahresgeneralversammlung
einenVorstand,
dem örtlicheVerbandsangestellte
undMitglieder
imArbeitsverhältnis
angehörten.
DieAufgaben ergaben
sichsatzungs¬
gemäß
:Geschäftsführung
imOrtsbereich,
Abschluß von Ortstarif¬verträgen, Kampfhandlungen
undSchlichtungsverfahren, Agita¬
tion, Propaganda, Durchführung
vonArbeitsgerichtsprozessen, Beratung
derMitglieder, Beitragskassierungen
in der Ortsebene.Die
Beziehungen
schieden sich nach dem Innen- und Außen¬verhältnis: nach unten in der
Betreuung
derMitglieder
in Ver¬bandsangelegenheiten, Pflege
derKollegialität, Solidarität,
Berufs¬und
Bildungsbestrebungen,
Gedankenaustausch in den Versamm¬lungen
über dieVerbesserung
der Lohn- undArbeitsbedingungen
als
Hauptaufgabe
derOrganisation;
nach oben zu den Gau- undBezirksleitungen
und zumHauptvorstand;
nach außen zu allensozialen
Beziehungsgebilden
im Lebensraum des Ortsvereins.Gewerkschaftssysteme
Bekanntlich
gab
esbis 1933 dreiGewerkschaftseinrichtungen
in Deutschland. Die Gewerkschaften
jeder
dieserRichtungen
be-saßen eine
Dachorganisation:
die freien Gewerkschaften den»Allge¬
meinen Deutschen Gewerkschaftsbund«
(der
Afa-Bund:Allge¬
meiner freier
Angestelltenbund, Mitglied
undBeziehungen
zumInternationalen Bund der
Privatangestellten, Amsterdam,
und derADB
»Allgemeiner
Deutscher Beamten-Bund«gehörten
zu dieserRichtung
und besaßen eine ähnlichesoziologische
Struktur wie derADGB,
aber bei weitem nicht dessenMitgliederzahl)
die christ¬lichen Gewerkschaften den »Deutschen Gewerkschaftsbund« und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften den »Gewerkschafts¬
ring«.
Ihrsoziologischer
Aufbaugestaltete
sich wiefolgt:
1. Freie Gewerkschaften
Allgemeiner
Deutscher Gewerkschaftsbund: 1931:65,9 %
derOrganisierten,
a)
30 Gewerkschaften waren seineMitglieder.
Bundesvorstand
b)
Einallgemeiner
deutscherGewerkschaftskongreß
wählte denBundesvorstand.
Aufgaben: Geschäftsführung
desBundes, Ausführung
derKongreß-
und Bundesausschußbeschlüsse.Hauptbeziehungen
im Innenverhältnis: zu den Bezirksaus¬schüssen
(regionale Bundesorgane)
und den Ortsausschüssen(ört¬
liche
Bundesorgane).
Beziehungen
Hauptbeziehungen
im Außenverhältnis: zu deneigenen
Wirt¬schaftsunternehmungen
undBildungseinrichtungen,
zu den ange¬schlossenen
Mitgliedsgewerkschaften
und zu den Bünden andererGewerkschaftseinrichtungen
zugemeinsamem Handeln,
zu aus¬ländischen Gewerkschaftsbünden und zum Internationalen Ge¬
werkschaftsbund;
zur sozialdemokratischenPartei,
zum Zentral¬verband Deutscher
Konsumvereine,
zu den freienArbeitersport-
und
Kulturorganisationen,
zu Staat undWirtschaft;
zur Vereini¬gung Deutscher
Arbeitgeberverbände;
zusozialpolitischen
Vereini¬gungen und
Kongressen,
zum Internationalen Arbeitsamt und zuden Weltwirtschaftskonferenzen.
Bundesausschuß
c)
Der Bundesausschuß stand dem Bundesvorstand zur Seite.Jede
der 30Mitgliedsgewerkschaften
des Bundes schickteJ. Schiefer,Zur Soziologieder deutschenGewerkschaften
ihren Vorsitzenden in dieses
Organ,
das sich mit Vertretern der Gewerkschaft nach einerMitgliedsquote ergänzte.
DerBundesausschuß warBeschluß- und
Überwachungsorgan
fürden
Bundesvorstand,
was seineBeziehungs-
undHandlungs¬
funktionen im Innen- und Außenverhältnis
begrenzte.
Bezirksausschüsse
d)
Die mittlerenBundesorgane
hießen Bezirksausschüsse undwarenterritoriale
Körperschaften
des Bundes. Eine Konferenzvon
Ortsausschußdelegierten
wählte den Vorstand.Aufgaben: Wahrnehmung
der Bundesinteressen in der Be¬zirksebene.
Hauptbeziehungen
im Innenverhältnis: nach oben zumBundesvorstand und Bundesausschuß und nach unten zu den Ortsausschüssen.
Hauptbeziehungen
im Außenverhältnis: zu denangeschlossenen
Gewerkschaften in derBezirksebene,
zu den territorialenKörperschaften
der anderen Gewerkschaftseinrich¬tungen, Arbeitgeberverbänden,
zu Staat undWirtschaft und ihrenEinrichtungen
im Bezirk.Ortsausschüsse
-
e)
Die unterstenBundesorgane
hießen Ortsausschüsse.Vertreter der
Ortsverwaltungen
derMitgliedsgewerkschaften
wählten den Ortsausschußvorstand.Aufgaben: Wahrnehmung
der Bundesinteressen in der Orts¬ebene.
Hauptbeziehungen
im Innenverhältnis: nach oben zu denBezirksausschüssen,
zum Bundesausschuß und -vorstand.Haupt¬
beziehungen
im Außenverhältnis: zu denOrtsverwaltungen
derangeschlossenen Mitgliedsgewerkschaften,
zu den örtlichenKörper¬
schaftenanderer
Gewerkschaftseinrichtungen
zwecksgemeinsamem Handeln,
zu Gemeinde- undKreisregierungen,
zuArbeitgeber¬
verbänden,
zuArbeitersport-
undKulturorganisationen.
Christliche Gewerkschaften
2. Deutscher Gewerkschaftsbund: 1931:
18,5
Prozent der
gewerkschaftlich Organisierten.
EbenfallsDreiglie¬
derung
wie ADGB.Mitglieder
waren:a)
der Gesamtverband der christlichen GewerkschaftenDeutsch¬lands mit 18
Zentralgewerkschaften;
b)
der Gesamtverband derAngestelltengewerkschaften
mit14
Zentralgewerkschaften;
c)
der Gesamtverband deutscher Verkehrs- undStaatsbedien¬
stetermit 11 Verbänden.
Vorstand und
Ausschuß
Der Bund besaß einen Vorstand mit einem Ausschuß. Ersterer wurde vom Ausschuß
gewählt
und letzterer auf einemKongreß
der
Delegierten
der Gesamtverbände.Landes- und Bezirkskartelle
Als mittlere
Verwaltungsorgane
besaß der Bund Landes- undBezirkskartelle,
die GesamtverbändeLandesgeschäftsstellen,
alsunterste
Verwaltungskörperschaften
besaß der Bund Ortskartelle und die Gesamtverbände Bezirks- und Ortskartelle.Beziehungen
Die
Beziehungen
im Innen- und Außenverhältnis waren mit Ausnahme starkerchristlich religiöser Weltanschauungsbindungen
die
gleichen
wie beim ADGB. Der DGB war alsMitglied
deminternationalen Bund christlicher Gewerkschaften mit dem Sitz in Utrecht
angeschlossen,
dersich inFachinternationale,
wieBerg¬
arbeiter, Holzarbeiter,
Metallarbeiter usw.aufgliederte.
Der Ge¬samtverband der
Angestelltengewerkschaften
warMitglied
undunterhielt
Beziehungen
zum InternationalenBund der christlichenAngestelltengewerkschaften Paris,
der der Christlichen Gewerk¬schaftsinternationale
angehörte.
Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften 3. Deutscher
Gewerkschaftsring:
1931:8,3%
der
gewerkschaftlich Organisierten.
EbenfallsDreigliederung
wiedie beiden ersten:
a)
die Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften mit 22Berufsspar¬
ten;
b) Angestelltenverbände,
Gewerkschaftsbund derAngestellten, größte Mitgliederzahl;
c)
Beamtenverbände.Mitglieder
waren 6 Verbände. Als mittlere Instanzenfungier¬
ten Landes- und
Provinzkörperschaften,
als untersteOrgane
ört¬liche
Verbindungen
der Zentralverbände.Eine Internationale bestand nicht.
Verhandlungendes VIII. Soziologentages 12
J. Schiefer, Zur Soziologieder deutschenGewerkschaften
Beziehungen
Hauptbeziehungen
wie beim ADGB undDGB,
aber wegen der vielgeringeren Mitgliederzahl
waren dieseweniger vielseitig
und
weniger
intensiv als beijenen.
Splittergewerkschaften
Nebendiesen drei
Gewerkschaftssystemen
standen nochSplit¬
terorganisationen beziehungslos
und als isolierte Gebilde. Eswarenkommunistische, syndikalistische, wirtschaftsfriedliche,
revolutio¬näre und
selbständige Gewerkschaften,
die zusammen 7,3 allergewerkschaftlich organisierten
Personen umfaßten.Neubildung, Industrieverbandssystem
Die deutschen Gewerkschaften treten nach
zwölfjähriger Unterdrückung
in die Periode ihrerorganisatorischen Neubildung
ein. Das
Organisationssystem
des Industrieverbandes ist als der ökonomisch undsoziologisch zweckmäßigste zugrunde gelegt
ohneAufteilung
der Gewerkschaften inRichtung
derWeltanschauung
und Politik. Diese hätten sich auch ohne
Unterbrechung
durchden Nationalsozialismus wegen der
innersoziologischen
undorgani¬
satorischen
Vereinheitlichung
desgewerkschaftlichen. Aufbaues,
insbesondere aberinfolge
derAngleichung
der sozial- und wirt¬schaftspolitischen Programme
inlangsamer
und ununterbrochenerEntwicklung
überlebt.Vereinigung
aller ArbeitnehmerDar
Organismus
einerIndustriegewerkschaft
istbeziehungs¬
reicher als bei einem Berufsverband. Alle Arbeitnehmer einer Indu¬
strie, Arbeiter, Angestellte
und Beamte sind in einer Gewerkschaftvereinigt.
Die alteDreiteilung
derBerufsgewerkschaft
inHaupt¬
vorstand, Bezirksverwaltungen
undOrtsverwaltungen
kehrt imIndustrieverband
wieder, jedoch
mit einem neuensoziologischen
Inhalt höherer
Ordnung.
In allenVerwaltungsorganismen
der dreiStufen sitzen die Vertreter der
gewerkschaftlich Organisierten
allerdrei
Arbeitnehmergruppen. Jede Verwaltungsstufe
ist in Abtei¬lungen
undFachgruppen gegliedert.
Die einzelneFachgruppe
istein
Selbstverwaltungskörper
mit einem Vorstand aufjeder
Stufeund im Rahmen der
Gesamtgewerkschaft.
Organismus beziehungsreicher
Der ganze
Organismus
istbeziehungsreicher
alsdie alte Berufs¬gewerkschaft
war. DieBeziehungen
im Innenverhältnis der Indu¬striegewerkschaft
sind besondersvielseitig
undintensiv. Die Sozial¬prozesse
zeigen
demnach einegroße Reichhaltigkeit
undHeftig¬
keit. Die
organisatorische Zusammenfassung
undVerschmelzung sozial-heterogener
ElementewieArbeiter, Angestellte
undBeamte, ergeben neuartige Beziehungen
im Innen- und Außenverhältnis einer Gewerkschaft. Die sozialenIntegrierungsprozesse
vollziehensich nicht ohne
heftige Spannungen, Reibungen
und Ausbruchs¬und
Isolierungsversuche
bestimmterGruppen
bei dergegenwär¬
tigen Reorganisation
der deutschen Gewerkschaften zu Industrie¬verbänden.
Neue
Beziehungen,
neueSozialprozesse
Neue
Beziehungen
werdenneueSozialprozesse
schaffen. Tarif¬vertrag, Arbeitsrecht, Schlichtungswesen, Sozialpolitik, Bildungs¬
wesen,
Presse,
Streiks undAussperrungen
werdenWandlungen
erfahren und sich im Lebensraum einer
Industriegewerkschaft zwangsläufig
denExistenzbedingungen
eines solchen hoch ent¬wickelten
Soziälgebildes
anpassen müssen.IV.
Über
dieallgemeinen Beziehungen
der Gewerkschaften
Beziehungen
auf der Arbeitsstätte=Das einfache
Gewerkschaftsmitglied
am Schraubstock oder Amboß kennt dieAlltagsworte:
Mit einemUnorganisierten Fühlung
aufnehmen zwecks Aufnahme als
Mitglied
in dieGewerkschaft,
mit dem
Arbeitgeber Fühlung
nehmen zwecksAufnahme vonVer¬handlungen
zurVerbesserung
der Lohn- undArbeitsbedingungen,
zum
Ortsgruppen-,
Bezirks- oderHauptvorstand gute
oderschlechteBeziehungen
unterhalten. Dieszeigt,
welche lebensnahe Wissen¬schaft die
Beziehungslehre
ist und welche wertvollen Dienste sie den Gewerkschaften leistenkann,
wenn sie das Gewirr der zwi¬schenmenschlichen
Beziehungen
dieserBeziehungsgebilde
klärt undordnet.
Jede Vergesellschaftung
von Menschen beruht zwangs¬läufig
auf einemBeziehungsgeflecht
und dieseswirdnurgeschaffen,
um zu anderen sozialen Gebilden
Beziehungen
zu unterhalten und durchHandlungen
herauszustellen.12*
l8o J.Schiefer, ZurSoziologieder deutschen Gewerkschaften
Organisieren heißt Beziehungen schaffen.
Beziehungen
schaffen heißt im Sinne der Gewerkschaftenorganisieren.
Die Gewerkschaften stehen durch ihre vollkommeneOrganisationsform
auf der höchsten Stufe derBeziehungsgebilde.
Zweiteilung
derBeziehungen
Die hier verstandene und auf das Gewerkschaftswesen ange¬
wandte
Soziologie
als Lehre von den zwischenmenschlichen Be¬ziehungen legt
eineZweiteilung
derBeziehungsarten zugrunde,
wie L. vonWiese sie
gebraucht:
Zueinander
i.
Beziehungen
desZueinander(nach Spencer: Integration),
dieSozialprozesse
derFühlungnahme,
derAnnäherung, Anpas¬
sung,
Angleichung
undVereinigung,
Auseinander
2.
Beziehungen
desAuseinander(nach Spencer: Differenzierung), Sozialprozesse
derKonkurrenz,
derOpposition,
des Konfliktes undKampfes.
Kreissystem
derBeziehungen
Auf diese beiden Generalnenner der
Beziehungskategorien
lassen sich alle
Handlungen
der Gewerkschaften zurückführen.Sehr anschaulich läßt sich zwecks
Klärung
undOrdnung
der ge¬werkschaftlichen
Beziehungen
einegraphische Darstellung
auf¬stellen. Um die Gewerkschaft
möge
ein Kreis gezogen werden.Alle
Beziehungen
im Innenverhältnis diesesGebildes, Beziehungen
zu ihren Funktionären und
Sekretären,
zuGewerkschaftskollegen untereinander,
derMitglieder
zu ihrerOrtsgruppe
undumgekehrt,
diese zu anderen
Ortsgruppen,
zu denBezirksleitungen
und diese untereinanderundzumHauptvorstand
und Beirat undumgekehrt,
sind in diesen inneren Kreis zu verweisen. Um diesen sind weitere Kreise zu
ziehen,
in die dieBeziehungen
im Außenverhältnis dem Grade ihrerHeftigkeit
und Dauer nacheingeordnet
werden.Beziehungen
zu allen außerhalb der Gewerkschaft stehendenBeziehungsgebilden,
zu Gewerkschaften anderer Berufe und Indu¬strien und Gewsrkschaftsbünden imIn- und
Auslande,
zu Arbeit¬geberverbänden, Wirtschafts-, Kultur-, Sport-
undParteiorgani-
sationen,
zum Staat und seinenEinrichtungen.
Die unbedeutend¬sten und lockersten
Beziehungen
der Gewerkschaft zu anderenSozialgebilden mögen
im äußersten Kreise stehen.Schwierigkeit
derOrdnung
derBeziehungen
Es lassen sich aber auch zwei
Kreissysteme vorgenannter
Art aufstellen. In dem einen finden dieBeziehungen
des Zu- und Mit¬einander Aufnahme und im anderen die
Beziehungen
des Aus¬einander. Erst das tiefere Schauen auf den Strom des
Beziehungs¬
flusses
zeigt,
wie überausschwierig
esist,
Klarheit undOrdnung
in dieses Gewirr von
Beziehungen
zubringen.
Wie fruchtbar und interessant ist esbeispielsweise,
dieBeziehungen
des Zueinanderzu
kennen,
das Verhältnis der Gewerkschaft zuihrenMitgliedern,
zu den
Unorganisierten
in einemBetrieb,
einem Beruf und einer Industrie für dieorganisatorische Erfassung,
für Streiksund Aus¬sperrungen.
Stadien der
Sozialprozesse
Alle Stadiender
Sozialprozesse
vomFühlungnehmen
über dasAnnähern, Anpassen, Angleichen
bis zurVereinigung
in der Ge¬werkschaft müssen durchleuchtet werden. Welche
Beziehungen
halten den
Unorganisierten
vonder Gewerkschaftfern,
und welche ziehen ihn an? Sind sie materieller odergeistig
seelischer Art?Lassen sich
jene
lösen und diese binden? Auch dieGleichgültigen
sind
beziehungsmäßig verhaftet,
und man kann sie erst aus dieserGleichgültigkeit
zur Gewerkschafthinziehen,
wenn man die bin¬denden
Sozialprozesse
genau kennt.Staat und
Gewerkschaften
Oder der Staat sei als
Beziehungsgebilde
den Gewerkschaftengegenübergestellt.
Er kann z. B. die Gewerkschaften als notwen¬diges Übel dulden,
sie hassen undschikanieren,
überall den Kon¬flikt suchen bis zum offenen
Kampf
und ihrerVernichtung.
Sohandelte der StaatunterBismarck und Hitler. Er kann aber auch die Gewerkschaften anerkennen und
fördern,
ihnen bestimmte Hoheitsrechteübertragen
wie Abschluß vonTarifverträgen,
dasSchlichtungswesen
bei Streiks undAussperrungen
und bei Tarif¬streitigkeiten,
die mitwirkendeRechtsprechung
bei Einzelarbeits¬und tariflichen