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Henri Bergson Zeit und Freiheit

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Academic year: 2022

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Philosophische Bibliothek

Henri Bergson Zeit und Freiheit

Meiner

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HENRI BERGSON

Zeit und Freiheit

Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene

Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von

Margarethe Drewsen

Mit einer Einleitung von Rémi Brague

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 632

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi blio gra phi sche Daten sind im Internet abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›.

ISBN 978-3-7873-2861-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2862-8

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vor behalten.

Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikro verfil- mungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Werkdruckpapier: alte rungsbe ständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zell stoff. Printed in Germany. www.meiner.de

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INHALT

Einleitung. Von Rémi Brague . . . vii

1. Der biographische Zusammenhang vii | 2. Die grundlegende Intuition viii | 3. Ziel und Aufbau des Werks x | 4. Gegen den Begriff einer »intensiven Größe« xi | 5. Die Dauer xii | 6. Eine Befreiung der Freiheit xvi | 7. Bergsons Charakterisierung der Freiheit xviii | 8. Drei verfehlte Versuche, die Freiheit zu defi- nieren bzw. zu vernichten xx | 8. Erfüllte und unerfüllte Ver- heißungen xxii Henri Bergson zeit und freiheit Vorwort . . . 5

Erstes Kapitel Von der Intensität der psychologischen Zustände . . . 7

zweites Kapitel Von der Vielheit der Bewußtseinszustände Die Idee der Dauer . . . 71

drittes Kapitel Von der organischen Strukturierung der Bewußtseinszustände. Die Freiheit . . . 125

Schluß . . . 195

Nachwort der Übersetzerin . . . 211

Glossar . . . 225

Personenregister . . . 229

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EINLEITUNG

1. Der biographische Zusammenhang

Als Bergson seine Erstlingsschrift verfaßte, war er im Unterrichts- wesen in einem lycée der province tätig und nur dem engen Kreis seiner Verwandten und Freunde bekannt. 1859 geboren, hatte er 1878 den Wettbewerb der Ecole Normale Supérieure bestanden, dort und an der Sorbonne studiert, um 1881 sein Studium mit der agrégation de philosophie abzuschließen – als zweiter nach dem völlig unbekannt gebliebenen, weil frühverstorbenen Paul Lesba- zeilles und vor dem später als sozialistischer Politiker und Pazifist berühmt gewordenen Jean Jaurès (ermordet 1914).

Die übliche Laufbahn für einen ehemaligen normalien und agrégé begann mit einer Anstellung als Gymnasiallehrer. Im fran- zösischen System war und bleibt eine Einweihung in die Philoso- phie die Krönung des gymnasialen Unterrichts in den lycées und ein Pflichtfach für das Abitur (baccalauréat).

Der Erwerb der Doktorwürde war die notwendige Voraus- setzung für eine Karriere in der Universität. So bereitete Berg- son seine Dissertation vor, während er als Lehrer in Clermont- Ferrand in der Auvergne tätig war. Der Inhalt seiner damaligen Vorlesungen ist uns jetzt besser bekannt dank der Schülernach- schriften, die inzwischen trotz seines ausdrücklichen Verbots veröffentlicht wurden. Dieser Inhalt hat so gut wie nichts mit den Problemen zu tun, mit denen Bergson damals rang. Vielmehr be- handelte er gewissenhaft die Themen, die das Programm vorgab, ohne sich originelle Ausschweifungen zu gestatten.

Damals bestand eine Doktorarbeit aus zwei Abhandlungen ver- schiedener Länge, einer thèse principale und einer kürzeren sog.

thèse complémentaire. Bergson verfaßte die letztere in lateinischer Sprache, ein Brauch, der damals, und zwar seit der 1808 stattge-

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viii Einleitung fundenen Neugründung der französischen Universität, noch üb- lich war, der jedoch im Begriff war zu verschwinden. Erst 1903 wurde diese Pflicht aufgehoben und die letzte auf Latein geschrie- bene thèse complémentaire wurde 1911 verteidigt. Bergson schrieb seine über Aristoteles’ Auffassung des Raums: Quid Aristoteles de loco senserit1. Mit der griechischen bzw. antiken Philosophie be- hielt er lebenslang einen engen, obwohl kritischen Kontakt.

Die thèse principale mit dem Titel »Essai sur les données im- médiates de la conscience« war eben die vorliegende Abhandlung.

2. Die grundlegende Intuition

Über die Entstehung bzw. den Hintergrund der Arbeit hat Berg- son sich mehrmals geäußert, in Briefen und Gesprächen und auch in rückblickenden Betrachtungen: Zum ersten Mal wohl in einem Brief an den italienischen Schriftsteller Giovanni Papini,2 spä- ter z. B. in einem Gespräch von 1922 mit dem jüngeren Kollegen Jacques Chevalier (1882–1962), der sein Nachlaßverwalter sein durfte,3 und rückblickend u. a. in einem Aufsatz aus der späten Periode seines Schaffens, wohl aus demselben Jahr 1922.4

Ursprünglich war der junge Bergson positivistisch gesinnt, wo- bei er sich von dem damaligen, von einem verwässerten Kantia- nismus gefärbten Spiritualismus der französischen philosophi- schen Zunft abhob. Eine amüsante Anekdote, die sein ehemaliger Kommilitone René Doumic (1860–1937), ein Journalist und Lite-

1 Eine französische Übersetzung liegt vor: L’idée de lieu chez Aris- tote, in: Mélanges, hg. v. André Robinet, Paris: P.U.F. 1972, S. 1 – 56.

2 Brief an Giovanni Papini vom 21. 10. 1903, in: Mélanges, a. a. O., S. 604.

3 Jacques Chevalier, Entretiens avec Bergson [7. 2. 1922], Paris: Plon 1959, S. 38 – 39.

4 Bergson, Introduction, in: La Pensée et le mouvant [1934], Bd. 1, S. 2 – 8, in: Œuvres, hg. v. André Robinet, Paris: P.U.F. 1959, S. 1254 – 1258;

vgl. auch Le possible et le réel [1930], ebd., S. 101 f., ebd., S. 1333.

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Rémi Brague ix raturkritiker, erzählt, zeugt davon: An der Ecole Normale war der junge Bergson als Hilfskraft für die dortige Bibliothek angestellt.

Eines Tages bemerkte ein Lehrer, daß Bücher auf dem Boden la- gen: »Herr Bergson«, rief er, »das muß Ihre Bibliothekarsseele quälen!« Da versetzte der Chor der anderen Studenten: »Seele?

Hat er keine!«5 So entsprach Bergsons Interesse für die Psycholo- gie und für das innere Leben keiner angeborenen Anlage. Es war eher die Folge einer echt philosophischen Einstellung.

Der junge Philosoph war nämlich auf einen Stolperstein gesto- ßen, der eine Weichenstellung nach sich ziehen sollte: Am Anfang stand ein Staunen in der Auseinandersetzung mit dem Werk des zuhöchst bewunderten Herbert Spencer (1820–1903). Der engli- sche Denker, der sich übrigens noch auf dem Gipfel seiner Schaf- fenskraft befand, bot ein System an, das die Hypothese der Evo- lution des Lebendigen, so wie sie Darwin ab 1859 vertreten hatte, derart verallgemeinerte, daß der gesamte Inbegriff der Wissen- schaften darauf beruhen sollte. Spencers Weltsicht war damals das Neueste, was die Philosophie anzubieten hatte, und deshalb Mode, auch in Frankreich, wo seine Werke auch in Übersetzun- gen zugänglich waren. Mit Spencer hatte Bergson lange Zeit ein Hühnchen zu rupfen. Interessant ist, daß Bergsons Hauptwerk von 1907 eben mit einer Kritik des Evolutionismus von Spencer endet: Dieser lasse nur scheinbar den evolutionistischen Intui- tionen Gerechtigkeit widerfahren, wogegen Bergson behauptete, selbst einen »echten« Evolutionismus zu vertreten.6

Noch Anfang der 80er Jahre hingegen plante der junge Phi- losophielehrer, sich ein Gebiet innerhalb des von Spencer urbar gemachten Feldes zu eigen zu machen und es weiter zu bebauen.

Bei der Lektüre der First Principles von 1862 stockte er jedoch,

5 Zum ersten Mal in der Rede aus Anlaß von Bergsons Aufnahme in die Académie Française, 24. 1. 1918. http://www.academie-francaise.fr/

reponse-au-discours-de-reception-de-henri-bergson.

6Schöpferische Evolution (hier = SE), Hamburg: Meiner 2013, S. 414, 416.

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x Einleitung als er Spencers Ausführungen über die Zeit zur Kenntnis nahm.

Die Abschnitte sind in der Tat dürftig, besonders wenn man sie mit Kants Transzendentaler Ästhetik vergleicht.7 Die Zeit, die doch die Dimension darstellt, in der die Evolution des Lebendi- gen stattfindet, spielt dort keine Rolle. Nun hatte sich Bergson bei Aristoteles ein Prinzip geborgt, das er in seiner lateinischen Dis- sertation anführt: Was keine Wirkung hervorbringt (wie z. B. das Leere), existiert nicht.8 Für dieses Prinzip hat Bergson übrigens keine Belegstelle angegeben. Es liegt nahe, daß er es in Aristoteles hineingelesen hat. Man denke eher an Sokrates vorläufige Defini- tion des Seins als Wirkungsmöglichkeit (dynamis).9

3. Ziel und Aufbau des Werks

Ausgehend davon ist Bergson darauf aus, der Zeit ihre Würde zurückzugeben. Dieses Projekt hat sein Schaffen lebenslang be- gleitet und bestimmt, schon in der Erstlingsschrift, obwohl ihr Originaltitel davon nichts verrät. Er entspricht übrigens dem In- halt nur teilweise. Es ist deshalb völlig berechtigt, die eigentlichen Themen, d. h. »Zeit und Freiheit«, im Titel der Übersetzung wie- derzugeben, wobei der französische Titel als Untertitel hinzuge- fügt wird. Diese glückliche Wahl der englischen, niederländi- schen und auch deutschen Übersetzer, die zu Bergsons Lebzeiten und mit seiner Einwilligung wirkten, ist auch in der vorliegenden Neuübersetzung beibehalten worden.

Der Gesamtverlauf der Abhandlung ist relativ einfach. Die Be- handlung des Freiheitsproblems im 3. Kapitel, oder besser gesagt, seine Lösung durch Auflösung und Entlarvung als Scheinpro- blem, ist das Ziel, wohingegen die ersten zwei Kapitel nur eine

7 Herbert Spencer, First Principles, ch. 3, §§ 46 – 51, S. 158 – 171.

8 Quid Aristoteles de loco senserit, S. 74, frz. Mélanges, S. 52.

9 Platon, Sophistes, 247d–e; vgl. Aristoteles, Topik, V, 9, 139a4 – 5.

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Rémi Brague xi Vorbereitung dafür darstellen. Nach Bergsons ausdrücklichem Geständnis ist der Schwerpunkt des Werks im dritten Teil zu fin- den.10 Der Angelpunkt ist jedoch die neue Bestimmung der Zeit- lichkeit im 2. Kapitel. Das Problem der Willensfreiheit, so Berg- son, verschwindet nämlich, sobald man sich der neuen Sichtweise der Zeit annimmt.

4. Gegen den Begriff einer »intensiven Größe«

Im ersten Teil ist der Hinweis auf »das dem Bewußtsein unmit- telbar Gegebene« nicht fehl am Platz. Bergson versucht nämlich eine Rettung des unmittelbar Gegebenen, das von der Erfahrung und der Wissenschaft überlagert wird. Im dritten Teil kehrt die hier entwickelte Hauptidee zurück: Das Ich ist unfehlbar, solange es bei seinen unmittelbaren Beobachtungen bleibt; sobald es aber versucht, sich seine Freiheit zu erklären, verstrickt es sich in Apo- rien, die dieses Unmittelbare verraten (162).

Der Schwerpunkt des ersten Teils ist die Kritik am Begriff ei- ner »intensiven Größe«, ein Begriff, mit dem die Philosophen von Aristoteles bis zu den heutigen experimentellen Psychologen (der Gipfelpunkt lag bei Kant) vertraut sind.11 Nach Bergson haben die Bewußtseinszustände keine ihnen eigene Größe; ihre angebliche

»intensive Größe« rührt immer von einer extensiven Größe her.

Die sog. Intensität ist nur eine Vielheit von einfachen Zuständen (28, 34).

Was uns das unverstellte Bewußtsein gibt, sind lauter Empfin- dungen, nicht deren Ursachen (12, 23, 49 f., 113 f.). Wir bringen aber die Ursache in die Wirkung hinein, mithin die Diskontinui- tät in das Stetige (53, 64 f., 45).

10 Unten, S. 6, vgl. 198.

11 S. 67 u. vgl. Aristoteles, Kategorien, 6, 5b1 – 2. 6 – 7; Kant, Kritik der reinen Vernunft, Antizipationen der Wahrnehmung, A 166 – 176 / B 207 – 218.

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xii Einleitung In all diesen Übermalungen macht sich die unberechtigte Vor- machtstellung des Raums bemerkbar. Bergson bezweckt eine Be- freiung von einer doppelten Tyrannei, derjenigen des Raums und derjenigen der Wörter, wobei beide eng miteinander verbunden sind (28 f.).

Wie kann man erlebte Erfahrungen nebeneinander stellen, um sie zu vergleichen, da sie unmöglich zu gleicher Zeit stattfinden können?

Die reine Intensität erscheint in den tiefen Seelenzuständen.

Je tiefer man herabsteigt, desto weniger darf man die psycholo- gischen Tatsachen wie nebeneinander liegende Dinge behandeln (13 f.). Die Grade eines Gefühls entsprechen qualitativen Verän- derungen.

Die Anstrengungsempfindung ist quantitativer Natur, sie wächst mit der Anzahl der Muskeln und, innerhalb dieser, der Fasern, die eingesetzt werden (27 f.).

Wir deuten die intensive Qualität als intensive Größe, d. h. als Quantität (43, 51), zwei Kategorien, zwischen denen es jedoch kei- nen Berührungspunkt gibt. So entpuppt sich der Begriff einer In- tensität als ein Mischbegriff am Kreuzungspunkt der äußer lichen Erfahrung einer extensiven Größe und des inneren Erlebnisses einer Vielheit (66–69).

5. Die Dauer

Erst mit dem Schluß des ersten Teils kommt der Begriff der »rei- nen Dauer« ins Spiel, der im 2. Kapitel im Zentrum steht (69).

Bergson beginnt mit einer Analyse der Zahl. Sie bereitet die Analyse der Zeit vor, die Aristoteles bekanntlich als Zahl der Be- wegung (αριθμος κινησεως) definiert.12 Die Definition der Zahl, von der er ausgeht, ist die altgriechische, auch bei Kant vorkom- mende: eine Mehrheit von Einheiten, die wiederum als ein ein-

12 Aristoteles, Physik, IV, 11, 219b2.

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Rémi Brague xiii heitliches Gefüge begriffen wird13. Wie können aber mehrere Ein- heiten nebeneinander bestehen, ohne zusammenzuschmelzen?

Dafür braucht man so etwas wie Raum (73). So setzt der Zahl- begriff denjenigen des Raums voraus, als die Materie, mit der der Geist die Zahl konstruiert (78).

In der reinen Zeit kann man zwar eine Reihenfolge bestim- men, aber keine Addition vornehmen. Um das zu denken, führt Bergson eine wichtige Unterscheidung ein. Es gibt zweierlei Arten von Vielheit: diejenige der materiellen Gegenstände als partes ex­

tra partes und diejenige der Bewußtseinstatsachen, die einander durchdringen. Diese letztere Vielheit tritt erst durch eine sym- bolische Vorstellung als Zahl auf, wobei der Raum als Mittelding dazwischentreten muß (79 ff.).

Im Unterschied zur reinen Dauer ist die Zeit, insofern sie ein Medium darstellt, in dem gezählt wird, lediglich Raum: »die Zeit, verstanden im Sinne eines Mediums, in dem man unterscheidet und zählt, [ist] nur Raum« (84). Hier ist der Bedingungssatz we- sentlich. In seiner recht skizzenhaften Zusammenfassung der Bergsonschen Zeitlehre hat ihn Heidegger vernachlässigt, was ihm erlaubt, zu behaupten, daß diese Auffassung sich noch ganz im Sog des Aristoteles bewege.14

Der Raum wird von einem Akt des Geistes hervorgebracht, der ein leeres homogenes Medium begreift. Die Wahrnehmung der Ausdehnung bzw. das Begreifen des Raums ist eine Fähigkeit, die dem Menschen eigen ist. Diese außerordentliche Fähigkeit, einen qualitätslosen Raum wahrzunehmen oder zu begreifen, ist als eine Reaktion zu verstehen gegen die Heterogenität, die den Boden unserer Erfahrung darstellt (87 ff.).

13 Aristoteles, Physik, III, 7, 207b7; Metaphysik, Z, 13, 1039a12;

I, 1, 1053a30; Euclides, VII, Def. 2; Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 142 f. / B 182.

14 Meine Hervorhebung; vgl. Heidegger, Sein und Zeit [1927], § 82a, Tübingen: Niemeyer 1962, S. 432 Anm. 1.

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xiv Einleitung Wenn man sich die Zeit als homogenes Medium vorstellt, gibt man sie sich als zugleich bzw. »auf einmal« existierend, d. h. man tilgt das Dauerartige der Dauer. Die Zeit wird zu einem Mischbe- griff durch das Eindringen des Raums in den Bereich des reinen Bewußtseins. Der Raum ist wesentlich partes extra partes, wohin- gegen die Tatsachen des Bewußtseins einander nicht äußerlich sind. Die Dauer ist das Bewußtsein, das sich leben läßt, dessen Elemente einander durchdringen und die sich organisieren wie in einem Lebewesen oder wie die Noten einer Melodie.15

Selbst die Vorstellung einer Reihenfolge in der Zeit setzt die Raumvorstellung voraus (93).

Es ist äußerst schwierig, sich die Dauer in ihrer ursprünglichen Reinheit vorzustellen. Die Zeit, die der Astronom oder Physiker mißt, ist nämlich nicht die Dauer. Der Naturforscher wie jeder von uns, wenn er die Zeit auf dem Zifferblatt einer Uhr liest, mißt die Dauer keineswegs, sondern zählt Gleichzeitigkeiten (97 f.).

Wie der Zeitbegriff, so ist auch der Bewegungsbegriff ein Misch- ling. Als Handlung, als Fortschreiten, als Bewegtheit (mobilité), als Akt, als »mentale Synthese« ist die Bewegung unteilbar; nur der zurückgelegte Raum ist teilbar. Wenn man sich aber an- schickt, die unteilbare Bewegung durch die Schablone des teil- baren Raums zu vernehmen, ergeben sich unwiderstehlich die Sophismen des Vorsokratikers Zenon von Elea, mit denen sich Bergson immer wieder auseinandergesetzt hat.16

Die Naturwissenschaft treibt das Qualitative der Zeit und der Bewegung aus. Wenn die himmlischen Phänomene sich schnel- ler zutrügen, würde das für die Astronomie keinen Unterschied machen. Eine Gleichung wie diejenige der Mechanik drückt im-

15 S. 89 ff.; Zum Bild der Melodie, S. 94 f., 100 f.; ferner im Werk Berg- sons, vgl. La Pensée et le Mouvant, S. 11, 76, 140 f., 164, 166, 170. Augu- stin, De musica, VI, viii, 21 u. a.

16 S. 107 f., 101 f.; vgl. auch Materie und Gedächtnis, Hamburg: Meiner 2015 [hier = MG], S. 237 ff.; SE, IV, S. 349 – 355.

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Rémi Brague xv mer das Geschehene aus; nur sind die Dauer und die Bewegung wesentlich in fieri (104 – 108).

Unser Ich berührt die Außenwelt durch seine Oberfläche. Das innere Ich ist eine Kraft, dessen Zustände einander durchdringen.

Nur ist das oberflächliche Ich für das soziale Leben, das das tiefe Ich überlagert, und die Sprache geeigneter. Daher die Schwie- rigkeit, das tiefe Ich in der Sprache, die die Empfindung beein- flußt, sachgemäß auszudrücken.17 Das Gefühl lebt und entwik- kelt sich in einer Dauer, deren Momente einander durchdringen, eine Dauer wie diejenige, die wir im Traum und auch in gewissen Erlebnissen des Wachseins (118, 113) erleben. Bergson spielt auf einen wagemutigen Romanschriftsteller an, der das Gewebe un- seres konventionellen Ichs zerreißen könnte. Er dachte wohl an Edmond Dujardin, dessen Werk im Jahr zuvor, 1888, Auf sehen erregt hatte. Marcel Proust, den Bergson übrigens persönlich kannte – mit 21 war er garçon d’honneur auf Bergsons Hochzeit mit seiner Cousine Louise Neuburger –, sollte erst später der lite- rarischen Technik des sog. Bewußtseinsstroms (stream of con­

sciousness), die einige Vorgestalten bei Lew Tolstoï hatte, zum Durchbruch verhelfen, eine Technik, die auch u. a. James Joyce und Virginia Woolf nutzen konnten.18 Ansonsten liegen die Zei- terlebnisse und -auffassungen der beiden Autoren weit ausein- ander.

Bewußtseinszustände haben in sich selbst keinen Bezug zur Quantität, sie sind reine Qualität. Ihre Vielheit ist qualitativer Natur (122, 109). Die Intuition eines homogenen Raums ist dem Menschen eigentlich schon ein Weg zum sozialen Leben. Nur der Mensch hat eine »Welt«, nur er ist »weltbildend«.19 Wenn die Psy-

17 S. 112, 109, vgl. auch 96 f., 109 f., 117 f.

18 S. 118 f. Vgl. Lew Tolstoï, Anna Karenina [1878], VII, Kap. 27 ff.; Ed- mond Dujardin, Les Lauriers sont coupés [1888]; Marcel Proust, Du côté de chez Swann [1913]; James Joyce, Ulysses [1922].

19 S. 122, vgl. S. 206; Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, Frankfurt: Klostermann 1983, S. 263, 397 ff.

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xvi Einleitung chologie das Sich-Machende als ein schon Gemachtes und das Ich durch seine Refraktion in einem homogenen Medium betrachtet, fällt sie in Fallen und wirft falsche Probleme auf, wie kat’exokhen dasjenige der Freiheit.20

6. Eine Befreiung der Freiheit

Im dritten Teil wird das eigentliche Thema angepackt: die Frei- heit. Ziel der Untersuchung ist, zu zeigen, daß dem Ich eine Akti- vität sui generis eignet, die sich nicht mit derjenigen irgendeiner anderen Kraft vergleichen läßt. Für diese wird Bergson spä- ter den Namen »geistige Energie« (énergie spirituelle) vorschla- gen.21

Wenn man von der Annahme ausgeht, daß die Bewegungen der Materie streng determiniert sind, dann bleibt immer noch die materialistisch-reduktionistische These zu beweisen, daß die Be- wußtseinszustände von materiellen Bewegungen abhängen, eine Auffassung, die Bergson in seinem zweiten Buch ausführlich wi- derlegt.22 Der physikalische Determinismus ist letztlich nur der psychologische Determinismus, nach dem ein seelischer Zustand von dem vorhergehenden Zustand abhängt (133).

Das Prinzip der Energieerhaltung gilt zwar uneingeschränkt für das Materielle. Es ist jedoch sehr die Frage, ob es allgemein gilt, d. h. auch für die lebendigen Wesen und innerhalb dieser, für die bewußten Lebewesen. Ursprünglich rührt es von der Me- chanik unbelebter Körper her. Nun ist die Existenz einer anderen Form der Energie durchaus denkbar. Es ist nicht auszuschließen, daß das Bewußtsein Bewegung schöpfen könnte, entweder ohne Energie oder eher, indem es diese Energie in seiner Weise benutzt.

20 S. 123 f., vgl. 190 f.

21 S. 127; vgl. die Aufsatzsammlung dieses Titels, 1919 erschienen.

22 S. 131 f. u. MG.

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Rémi Brague xvii In seinem späteren Werk orchestriert Bergson diese zweite Hypo- these gewaltig.23

Das Prinzip der Erhaltung der Energie läßt sich auf ein System anwenden, auf das die Zeit keinen Einfluß hat. Im Lebendigen wirkt aber die Dauer wie eine Ursache; für das Lebendige, und erst recht für das gedächtnisfähige Bewußte, ist die Vergangen- heit eine Wirklichkeit. Die verstrichene Zeit stellt für beide einen Gewinn dar (137).

Der psychologische Determinismus setzt eine assoziationspsy- chologische Auffassung des Geistes voraus. Ist der heutige Gei- steszustand die Wirkung des früheren (139 f.)? Es geschieht des öfteren, daß eine Entscheidung, die bereits gefällt wurde, sich erst rückblickend Motive sucht – ein Gedanke, den später Sartre wie- deraufnimmt, trotz seiner Kritik an Bergson.24 Die Vorstellung, nach der das Ich ein Gefüge unabhängig voneinander herum- schwebender Seelenzustände sei, ist irreführend und muß einer adäquateren Lehre weichen. Dies benötigt eine Rückkehr zur Unterscheidung der zwei Arten von Vielheit: Nebeneinandersein und gegenseitige Durchdringung. Diese letztere, die den tiefen psychologischen Phänomenen eignet, vernehmen wir zumeist nur durch das dazwischentretende Raster eines Nebeneinanders, das letztendlich räumlichen Ursprungs ist.25

Nun berührt aber das Ich durch seine Oberfläche die Außen- welt. Jeder hat seinen eigenen Stil in den Gefühlen. Dennoch ge- ben wir diesen Gefühlen denselben Namen, um sie in einem ge- meinsamen Raum der Kommunikation ausdrücken zu können.

Die Gefühle sind aber keine Teile der Persönlichkeit, sondern die Gesamtheit dieser Persönlichkeit, mit einer jeweils anderen Färbung (146).

23 S. 135 f.; vgl. SE, III, S. 289 ff.

24 S. 140 f.; vgl. Jean-Paul Sartre, L’Etre et le Néant [1943], IV, 1. Gegen Bergson, S. 520, vgl. auch ebd., S. 80 f.

25 S. 145 u. vgl. 78 f.

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xviii Einleitung 7. Bergsons Charakterisierung der Freiheit

Aufgrund dieser Analysen kann Bergson seine eigene Charak- terisierung der freien Tat vorschlagen. Sie ist paradoxer Natur:

Die freie Tat ist diejenige, die die Gesamtheit des Ichs zum Aus- druck bringt. Diese Bestimmung bringt drei weitere Paradoxien mit sich: Erstens ist die Freiheit kein Absolutes, sie hat Grade.26 Das Ich, das in der freien Handlung zum Ausdruck kommt, wird nämlich allzuoft von einem sozialen »Schmarotzer-Ich« über- deckt. Rührend schreibt Bergson in einem platonisch klingen- den Satz, daß manche leben und sterben, ohne je die echte Frei- heit erlebt zu haben.27

Zweitens: Echt freie Tathandlungen sind selten, ja eher die Aus- nahme als die Regel. Zunächst und zumeist handeln wir automa- tisch. In solchen Fällen hätte T. H. Huxley recht, den Menschen als einen »bewußten Automaten« zu definieren.28

Drittens: Eine grundlose Entscheidung ist der beste Grund, da solch eine Entscheidung unserer gesamten Persönlichkeit, »unse- rer persönlichen Idee von Glück und von Ehre« entspringt. Wir sind frei, wenn unsere Handlungen von unserer gesamten Per- sönlichkeit herrühren, sie ausdrücken, ihr ähnlich sind, wie ein Kunstwerk dem Künstler ähnelt29. Es hilft nichts, zu behaupten, daß unsere Handlungen von unserem sog. »Charakter« abhän- gen. Der Charakter ist nämlich nichts anderes als unser Ich, so wie es sich allmählich konkretisiert und bereichert hat, ein Phä-

26 S. 147 f.; vgl. SE, III, 230.

27 S. 148; vgl. Platon, Staat, VII, 534cd.

28 S. 149 f.; vgl. Thomas Henry Huxley, Rede vor der British Associa- tion for the Advancement of Science [Belfast, 1874]: On the Hypothesis that Animals are Automata, and its History, in: Collected Essays, New York 1968, Bd. 1, S. 199 – 250.

29 S. 153; vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz [1913].

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Rémi Brague xix nomen, für das der spätere Bergson gerne das Bild des Schnee- balls verwendet.30

Am Schluß faßt Bergson seine Thesen zusammen: Freiheit ist das Verhältnis des konkreten Ichs zur Handlung, die es voll- bringt. Freiheit ist undefinierbar. Sie ist ein Faktum, wobei Berg- son sich unerwartet mit der praktischen Philosophie Kants trifft.31 Dahingegen übt er Kritik an der theoretischen Philoso- phie des deutschen Denkers. Der Schwerpunkt dieser Kritik be- steht in einer gewagten Umkehrung der Perspektive: Nicht die Phänomene werden immer durch innere Formen erfaßt, wie es in unterschiedlichem Stil Kant und der Empirismus annehmen.

Vielmehr werden die Zustände des Ichs zumeist durch Formen, die wir uns von der Außenwelt borgen, wahrgenommen (195).

Intensität, Dauer und Willensbestimmung sind die drei Ideen, die von der Idee des Raums verunreinigt werden und die es zu befreien gilt. So gilt es, eine der Wissenschaft symmetrische Ope- ration durchzuführen: So wie die Naturwissenschaft den Raum isoliert, so muß die Psychologie die Dauer an und für sich be- trachten (196, 200).

Und eine Befreiung war genau der Eindruck, den das Werk auf manche Geister ausübte. So sprach der Dichter Charles Péguy, der Bergsons Veranstaltungen an der Ecole Normale Supérieure besucht hatte und mit dem Philosophen in einem regen Brief- wechsel blieb, von einer »Revolution« als einer »allgemeinen Befreiung«.32

30 S. 153 ff.; vgl. MG, III, 185 f.; SE, I, 15. Schneeball: SE, 12.

31 S. 192 f.; Kant, Kritik der praktischen Vernunft, I, 1, § 7, Anm.

32 Charles Péguy, zitiert in meiner Einleitung zu SE, S. XXXVII, Anm. 119.

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xx Einleitung 8. Drei verfehlte Versuche, die Freiheit zu definieren

bzw. zu vernichten

Nachdem Bergson seine eigene Lösung des Freiheitsproblems, besser gesagt die Auflösung des Scheinproblems der Freiheit prä- sentiert hat, muß er, ein wenig wie in einer scholastischen Quae­

stio, die Argumente des sed contra entkräften. So bespricht er drei Formen eines Determinismus, der das Dasein der Freiheit verneint.

a) Die erste Form beruht auf einer Analyse der Entscheidung.

Frei ist eine Entscheidung dann, wenn ein anderer Weg hätte ein- geschlagen werden können. Da begegnen wir dem uralten Bild der Wahl am Scheidewege.33 Die Gegner der Freiheit und deren Verteidiger haben gemeinsam, daß sie ihren Platz nach der Tat einnehmen, sie zeigen die vollzogene Handlung, nicht die sich vollziehende. Beide versuchen, die Zeit durch den Raum adäquat vorzustellen, das Nacheinander durch eine Gleichzeitigkeit, den Prozeß durch ein Ding (160). Das ganze Werk Bergsons zeugt von einer Anstrengung, die Unumkehrbarkeit der Zeit, d. h. die Zeit- lichkeit als solche, ernst zu nehmen.34 Das andere, ebenso uralte Bild der Zeit als einer Linie, das schon bei Aristoteles vorkommt, ist verfehlt und irreführend.35 Ebenso dasjenige eines sich auf ei- ner Ebene ereignenden Handlungsverlaufs, der von einem Berg beobachtet würde, wie bei Boethius’ Auffassung des göttlichen

33 Vgl. z. B. Hesiod, Werke und Tage, Z. 287 – 292; Prodikos in Xeno- phon, Memorabilia, II, i, 21 – 33; Robert Frost, The Road Not Taken, in:

Mountain Interval [1916], usw.

34 Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch (1903 – 1985), der sich als Jünger Bergsons verstand, über den er auch 1931 ein Buch schrieb, hat das Thema ausführlich behandelt in seinem L’Irréversible et la nostalgie, Paris: Flammarion 1974.

35 Aristoteles, Physik, IV, 11, 220a16. 20; 12, 220a28. 30; zum Kontext, vgl. J. Derrida, Ουσια et γραμμη. Note sur une note de Sein und Zeit [1968], in: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, S. 33 – 78.

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Rémi Brague xxi Vorhersehens – das eben kein Vorhersehen im eigentlichen Sinne ist. Die Zeit darf nicht gesehen werden, sie muß erlebt werden.36

Die Freiheit ist eine gewisse Schattierung oder Qualität der Handlung, kein Verhältnis der tatsächlich geschehenen Hand- lung zu dem, was sie nicht ist oder was sie hätte sein können (162).

b) Die zweite Form des Determinismus wendet die These des Mathematikers und Astronomen Laplace gegen die Freiheit:

Ein übermenschlicher Verstand, im Besitz einer vollkommenen Kenntnis der vergangenen Handlungen eines Subjekts, könnte dessen künftige Handlung voraussehen.37 Wenn dies zuträfe, gäbe es keine Freiheit. Diese Auffassung der Freiheit als Unmög- lichkeit des Voraussehens ist eine übliche, die sich etwa bei Witt- genstein wiederfindet, dem zufolge »die Willensfreiheit [darin]

besteht […], daß zukünftige Handlungen jetzt nicht gewußt wer- den können«.38 Diese vollkommene Kenntnis würde aber den Un- terschied zwischen dem Beobachter und dem Handelnden tilgen bzw. deren Identität voraussetzen (166 ff.).

Die Möglichkeit einer Vorhersage des Künftigen scheint von der Naturwissenschaft verbürgt zu sein, z. B. von der Astrono- mie, die etwa seit langem imstande ist, den genauen Zeitpunkt einer Sonnenfinsternis vorauszusagen. Die Zukunft der materi- ellen Welt ist aber etwas völlig anderes als die eines bewußten Wesens. Später in seiner gedanklichen Entwicklung wird Berg- son eine Analogie zwischen dem Leben des Ganzen und dem Be- wußtsein des Einzelnen ziehen.39 Die Astronomie betrachtet nur die Gleichzeitigkeiten und läßt die Dauer außer acht. Dabei wird das Zukünftige zu einem Gegenwärtigen. Was der Astronom mit Fug und Recht vernachlässigt, ist genau das, wofür sich der Psy-

36 S. 169; vgl. Boethius, Trost der Philosophie, V, Pr. vi, Z. 71 f.

37 Pierre Simon de Laplace, Introduction à la théorie analytique des probabilités [1820], in: Œuvres Complètes, Bd. 7, Paris: Gauthier-Villars 1886, S. vif.; zitiert von Bergson, SE, I, S. 52.

38 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico­philosophicus, 5.1362 (S. 92).

39 S. 170 f; SE, I, S. 20 f.

(24)

xxii Einleitung chologe interessiert. So ist jedes vermeintliche Voraussehen in der Tat nichts anderes als ein Sehen schlechthin (171 ff.).

c) Gemäß einem dritten Versuch, den Determinismus zu be- weisen, seien die psychologischen Tatsachen dem Kausalitätsge- setz unterworfen. Was heißt aber hier Ursache? Vorhergehendes bringt Folgendes überall dort notwendig hervor, wo eine Regel- mäßigkeit empirisch belegbar ist. Wir wissen aber nicht, ob sich das bei den Tatsachen des Bewußtseins beobachten läßt. Das Ur- sache-Wirkung-Verhältnis wird als eine Präformation der Wir- kung in der Ursache vorgestellt (178 ff.). Nun gibt es zwei Arten von Präformation, eine mathematisch-mechanische und eine dy- namische, die es zu unterscheiden gilt.

Die erstere richtet sich nach einem mathematischen Modell, demzufolge die Konstruktion einer Figur alle Theoreme virtuell enthält. In der Physik wird von den qualitativen Eigenschaften derart abstrahiert, daß die Phänomene auf Gleichungen zurück- geführt werden. So wird Kausalität zu einer Form der Identität und das Nacheinander zu einer Inhärenz (180 – 185).

Die zweite Art der Präformation beruht auf dem Gefühl der Anstrengung als dem Gefühl einer Kraft, die Wirkungen hervor- bringt. So enthält das Kausalitätsprinzip zwei Auffassungen der Dauer, die wir miteinander vermengen, wobei Kraft und Notwen- digkeit miteinander identifiziert werden (187 ff.).

9. Erfüllte und unerfüllte Verheißungen

Abgesehen von einigen Vorstellungen, die eher bildlicher Natur sind und die auch in späteren Werken belegt sind, wie etwa dieje- nige einer Kruste40, enthält die Erstlingsschrift Vorgestalten und Andeutungen späterer Gedanken, von denen Bergson einige wei-

40 S. 149 f. u. vgl. Les deux sources de la morale et de la religion [1932], III, S. 282.

(25)

Rémi Brague xxiii ter entwickelte, ja gewaltig orchestrierte. Andere sind dagegen virtuell geblieben.

Unter den Gedanken, die später zur Entfaltung kommen durf- ten, kann man zwei wichtige Hinweise anführen:

a) Als Leitfaden einer Naturphilosophie dient das Prinzip, demzufolge die Natur zutiefst auf das Nützliche eingestellt ist.

Die Intensität einer schmerzhaften Empfindung hängt von dem Anteil ab, den ein mehr oder weniger großer Teil des Organismus daran nimmt (35 ff.). Aus Anlaß der Analyse der Gefühle der Lust und des Schmerzes bemerkt Bergson ferner, daß die Empfindung entweder keinen Existenzgrund hat oder als ein Beginn von Frei- heit zu verstehen ist, insofern sie eine Handlung vorbereitet. Sie bereitet eher die Zukunft vor, als daß sie über das Vergangene unterrichtet. Später wird Bergson das Bewußtsein als Freiheit de- finieren.41

b) Die Betrachtungen über das Lebendige und die Art und Weise, wie eine Energie die Mittel ihrer Verwirklichung findet, kommen zu ihrer völligen Entfaltung in der Schöpferischen Evo­

lution (1907).42

Unter den keimhaft gebliebenen Gedanken seien hier vier ge- nannt:

a) Bergsons Werk enthält Vorgestalten einer Soziologie der Erkenntnis, indem er das Gewicht des Sozialen, vor allem der Sprache als einer prägenden Kraft für die Empfindung betont.

Die Namengebung ermöglicht die Errichtung eines gemeinsa- men Bereichs, innerhalb dessen sich das soziale Leben zuträgt (67, 117 f., 202). Als die Dissertation veröffentlicht wurde, war Emile Durkheim (geb. 1858) erst dreißig und Max Weber (geb. 1864) fünfundzwanzig.

b) Eine Philosophie der Geschichte: Der Begriff einer Ge- schichte (histoire) spielt hier eine zentrale, obwohl unterschwel-

41 S. 36; SE, III, S. 306.

42 S. 134 – 138; SE, III, S. 289 ff.

(26)

xxiv Einleitung lige Rolle.43 Erst in der letzten Phase seines Schaffens findet man Andeutungen zu dem, was gewöhnlich als Geschichtsphiloso- phie gilt, d. h. die Suche nach einem Sinn im Ablauf der Ereig- nisse oder in der Entwicklung der Ideen, v.a. in der Religion. Eine Theorie der Geschichtlichkeit läßt sich aber belegen.44 Das Den- ken des Ereignisses (événement), das jetzt im Zentrum der zeit- genössischen französischen Phänomenologie steht (Jean-Luc Ma- rion, Claude Romano usw.) und auch Paul Ricœurs (gest. 2005) Gedanken über Erzählung und Geschichtsschreibung haben deutliche Vorgestalten bei Bergson.

c) Mit der oben zitierten und im Text nicht besonders betonten Äußerung, nach der die Zeit nicht gesehen werden darf, sondern erlebt werden muß (169) wird diskret dem jahrtausendelangen mehr oder weniger bewußten Primat des Sehens in der Philoso- phie (von Platon her) ein Ende bereitet, zugunsten des Erlebten, des Sicherfassens des Lebendigen. Trotz einer gewissen Abnei- gung gegen Bergson wurde diese Intuition etwa im Werke von Michel Henry (gest. 2002) fortgeführt.

d) Eine Ästhetik: Bergson betrachtet beiläufig das ästhetische Gefühl als das Ergebnis eines Wiegenprozesses, der uns betäubt und willfährig macht, wobei er sich mit Schopenhauer gewisser- maßen trifft. Erst innerhalb dieser Bereitschaft, sich affizieren zu lassen, kann man den Verfremdungseffekt (приём остранения) erfahren, dem die russischen Formalisten eine so große Bedeu- tung beimessen.45 Sehr anregend ist auch die Bemerkung, nach

43 S. 164 ff., 176, 20 f. u. vgl. MG, I, S. 16, SE, I, S. 19.

44 Vgl. Henri Davenson [= der Altertumshistoriker Henri Irénée Mar- rou], Bergson et l’histoire, in: Hommage posthume à Henri Bergson, La Baconnière 1941, S. 213 – 221; Raymond Aron, Réflexions sur la philoso- phie bergsonienne [1941], in: Histoire et politique. Textes et témoignages, Paris: Julliard 1985, S. 351 – 358.

45 S. 18 f.; Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, III,

§ 38; Viktor Schklowski, Искусство как приём, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1971, S. 3–35.

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