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Die Zauberflöte. Märchen oder Mysterium?

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DIE ZAUBERFLÖTE - M Ä R C H E N O D E R M Y S T E R I U M ?

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Jan Assmann

Die Frage im Titel dieses Beitrags kennzeichnet das ästhetische Problem u n d das hermeneutische Rätsel der Zauberflöte. Die O p e r beginnt als ein Zaubermär­

chen u n d geht mit d e m Finale des ersten Akts in ein Mysterienspiel über: das Ritual der Einweihung in die Mysterien der Isis. Gleichzeitig ändern einige zentrale Figuren ihren Charakter: Aus der Königin der Nacht, die wir zuvor als isis­ oder auch marienhafte Himmels­

königin u n d t r a u e r n d e D e m e t e r erlebt haben, wird eine dämonische Rachefurie, u n d Sarastro, der uns als Bösewicht geschildert wurde, erweist sich als gütiger u n d weiser Herrscher. Papageno, der als Vogelfänger in den Diensten der Königin der Nacht steht, wech­

selt auf die Seite Sarastros, u n d der brutale M o h r Monostatos, den Sarastro z u m W ä c h t e r Paminas ein­

gesetzt hatte, läuft zur Königin der N a c h t über. Die drei D a m e n werden aus hilfreichen Geistern zu Ver­

führerinnen, d i e T a m i n o vom rechten Weg abbringen wollen, w ä h r e n d ihre hilfreiche Rolle von den drei Knaben ü b e r n o m m e n wird, die dieselben drei D a m e n

zu T a m i n o s u n d Papagenos F ü h r e r n bestellt haben.

Alles wandelt u n d widerspricht sich in dieser Oper, und w e n n m a n schon die hermeneutischen Wider­

sprüche auf sich beruhen lassen könnte, da sich eine Oper, mit Hans Ulrich G u m b r e c h t zu reden, ja ohne­

hin eher „diesseits des Sinns" bewegt1 und, wie Schiller Meinte, „das Wunderbare, welches hier einmal gedul­

det wird, m ü ß t e n o t w e n d i g gegen den Stoff gleich­

gültiger m a c h e n "2, bleibt doch das ästhetische Pro­

blem, mit d e m sich jede Inszenierung wieder neu aus- einandersetzen muss.

So verwundert es nicht, dass sich schon bald nach dem einzigartigen Siegeszug, den diese O p e r noch in den

' 7 9 0 e r Jahren auf praktisch allen deutschsprachigen k ü h n e n angetreten hatte, die ,Bruch­Hypothese' bil­

den k o n n t e , die, o b w o h l längst d u r c h U n t e r s u c h u n ­ gen am Autograph schlüssig widerlegt, bis heute nicht

aus der Welt ist. Ignaz von Seyfried hat die Legende in U m l a u f gesetzt, M o z a r t u n d Schikaneder h ä t t e n m i t t e n in der schon weit in den ersten Akt hinein fortgeschrittenen Arbeit die H a n d l u n g u m g e w o r f e n , aus dem Zaubermärchen ein freimaurerisches Myste­

rium gemacht u n d dieses nach Ägypten verlegt, u m nicht mit einer auf dem gleichen Märchen (Lulu oder die Zauberflöte) b e r u h e n d e n Zauberoper in Konkur­

renz zu treten, die im Sommer 1791 auf dem Leopold­

städter Theater in Szene ging. Diese Legende, an der historisch ü b e r h a u p t nichts dran ist, bringt d e n n o c h das ästhetische Problem der Zauberflöte auf den Punkt und hat sich aus diesem G r u n d bis heute halten kön­

nen: Märchen oder Mysterium? Erst das eine, d a n n das andere; die O p e r verwandelt sich in ihrem Verlauf.

Für das ästhetische Problem, w e n n auch nicht für das semantische Rätsel, haben Kenner der Theatertraditio­

nen des 18. Jahrhunderts eine wesentlich überzeugen­

dere Lösung vorgeschlagen. So schreibt Jörg Krämer:

„Es ging Schikaneder in seinem .Patchwork' aus Ver­

satzstücken aller Art nicht u m literarische Stringenz oder Originalität, sondern primär u m T h e a t e r w i r k ­ samkeit für heterogene Publiken u n d Ansprüche (wo­

rauf schon Goethe mehrfach hinwies) ­ u n d u m Raum f ü r die M u s i k . "3 Dieter Borchmeyer spricht vom

„Patchwork der Zauberflöte, die ­ entsprechend der einzigartigen synkretistischen Theatersituation Wiens

­ heterogene literarisch­theatrale, ideelle u n d mentale Traditionen übereinanderschichtet, deren divergie­

rende, sich wechselseitig in Frage stellende Perspekti­

ven nicht konsequent unter einen klar abgrenzbaren

1 G u m b r e c h t , Diesseits des Sinns. In der O p e r g e h t es

n i c h t u m „Substantialität", s o n d e r n u m „Präsenz", d i e G u m b r e c h t in s e i n e m B u c h Production of presence als G e g e n i n s t a n z zu „Sinn" a u f b a u t .

2 G o e t h e , Brief an G o e t h e v o m 2 9 . 12. 1 7 9 7 , S. 4 8 0 . 3 Krämer, S. 5 4 7 .

Ostfildern 2006, S. 761-769

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7 6 2 Jan Assmann

Autorstandpunkt gezwungen werden".4Die Zauber- flöte ist dieser Theorie zufolge so tief im Wiener Vor­

stadttheater verankert, dass sich dessen geistiger u n d sozialer Kontext m i t all seinen W i d e r s p r ü c h e n , Ge­

gensätzen u n d Synkretismen in ihr ausgeprägt hat.

Die Zauberflöte wäre d a n n die charakteristischste al­

ler Produktionen des alten Wiener Vorstadttheaters5; es lässt sich aber k a u m ein Werk finden, das diesen R a h m e n deutlicher sprengt.

N u n ist die Zauberflöte aber n i c h t n u r das Werk Schikaneders, der im Kontext des W i e n e r Vorstadt­

theaters wie kein anderer zuhause war, sondern auch das Werk Mozarts, der zuvor so gut wie alle seine Werke für höfische Bühnen geschrieben hatte. Mozart k o m m t aus einem anderen geistigen Umfeld, das sich so klar in dieser O p e r ausprägt, dass m a n Mozarts Anteil an der G e s a m t k o n z e p t i o n wesentlich h ö h e r einschätzen muss als bisher geschehen: der W i e n e r Freimaurerei. O b w o h l kein Kapitel in Mozarts Bio­

graphie als so gut erforscht gelten kann wie sein En­

g a g e m e n t als F r e i m a u r e r6, u n d obwohl kein Aspekt der Zauberflöte so gründlich ausgeleuchtet wurde wie ihre freimaurerischen Bezüge7, gibt es hier noch viel zu entdecken. M a n muss n u r die Forschungsarbeiten der Loge „ Z u r W a h r e n E i n t r a c h t " über die antiken Mysterien durchlesen, d a n n e r k e n n t m a n schnell, dass diese Loge eine sehr eigenartige Konzeption über die Struktur dieser Religionen u n d ihrer Rituale aus­

gearbeitet hatte. Diese Konzeption liegt auch der Zauberflöte als F o r m p r i n z i p z u g r u n d e .

Die Ergebnisse dieser Forschungen w u r d e n als Vor­

träge in s o g e n a n n t e n Ü b u n g s l o g e n gehalten u n d in d e m von der Loge herausgegebenen Journal für Frei-

maurer (im Folgenden: JF) publiziert. Auf diese Weise kamen insgesamt nicht weniger als 13 größere Arbei­

ten über antike Mysterien zustande. Das war vermut­

lich n u r die Spitze des Eisbergs. Im letzten Viertel des 18. J a h r h u n d e r t s w u r d e das geistige Europa von ei­

n e m wahren Mysterienfieber erfasst. Zwischen 1776 u n d 1800 erschienen außer den Arbeiten der Wiener Loge gewiss m e h r als zwei Dutzend größerer Abhand­

lungen über die antiken Mysterien.8 Der Auslöser dieser Faszination lässt sich genau angeben. Es ist die Schrift des Göttinger Philosophen Christoph Meiners

Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusini- schen Geheimnisse (\77'6). Sie diente Adam Weishaupt

als Modell bei der G r ü n d u n g des Illuminatenordens im gleichen Jahr. Das N e u e , ja B a h n b r e c h e n d e an diesem Buch war die politische Dimension, in die es die eleusinischen u n d anderen Mysterien einstellte.

D a m i t hörten sie auf, ein G e g e n s t a n d rein antiqua­

rischen Interesses zu sein; sie erschienen den Zeitge­

nossen plötzlich als Spiegel u n d Vorbild ihrer eigenen Situation. Dabei war Meiners nicht einmal originell­

Er griff zurück auf das dreibändige Werk des englischen Bischofs, Literaturwissenschafters u n d Altphilologen William W a r b u r t o n , The Divine Legation of Moses, das 1 7 3 8 ­ 1741 erschienen war u n d im zweiten von neun Büchern die antiken Mysterien behandelt.

Warburtons Frage war, wie Religionen funktionieren, die nicht auf göttliche O f f e n b a r u n g gegründet sind.

Die Heiden, die von der O f f e n b a r u n g ausgeschlossen sind, waren auf das angewiesen, was m a n im 18. Jahr­

h u n d e r t n a t ü r l i c h e Theologie' nannte: die Erkennt­

nis Gottes aus der Natur, durch Rückschluss von der S c h ö p f u n g auf den Schöpfer. So w u r d e n sie zu Deis­

ten, ja Spinozisten avant la lettre. Auf dieser Religion aber, das war W a r b u r t o n s These, lässt sich kein Staat aufbauen. Die Religion der Vernunft oder die natürli­

che Theologie kann nicht staatstragend sein. Der Staat braucht Götter zum Schutz der Gesetze und zum Aus­

druck nationaler Identität. So k o m m t es zur Spaltung der Religion in einen exoterischen, staatstragenden Volkspolytheismus u n d einen esoterischen Deismus der Elite. Als Urbild u n d Modell aller heidnischen Staatswesen u n d Religionen galt die altägyptische Kultur, für deren S t r u k t u r sich schon vor Warburton der Begriff der duplex philosophia eingebürgert hatte­

4 Borchmeyer, S. 8 6 .

5 Z u d e s s e n T r a d i t i o n e n vgl. i m m e r n o c h das

klassische Werk v o n R o m m e l .

6 Z u M o z a r t als Freimaurer vgl. v o r a l l e m d i e K a p 't e

„Mozart von der Wohltätigkeit" in Knepler, S. 184 — 204,

„Mozart u n d die Freimaurerei" in Braunbehrens, S. 2 4 3 2 8 5 , u n d „Freemasonry" in S o l o m o n , S. 3 2 1 - 3 3 5 - 7 Vgl. Chailley, Schuler, Perl, Rosenberg, Irmen (hier auch

Mozarts a n g e b l i c h e B e z i e h u n g e n zu d e n Asiatischen Bru d e r n ) , van den Berk u . v . a .

8 E i n f l u s s r e i c h e r n o c h als d i e z a h l r e i c h e n Wissenschaft 1

c h e n A b h a n d l u n g e n m e i s t v o n M i t g l i e d e r n verschie ner F r e i m a u r e r o r d e n s i n d z w e i R o m a n e : [Terrasson.

Sethos ( d t . Ü b e r s e t z u n g M a t t h i a s C l a u d i u s ) u n d Johann H e i n r i c h Jung, g e n . Stilling, Das Heimweh.

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Für diese doppelte, in eine exoterische u n d eine eso­

terische Seite gespaltene Philosophie oder Religion bot W a r b u r t o n n u n eine politische D e u t u n g an. Die eso­

terische Religion beziehungsweise Philosophie muss­

te im Verborgenen, im U n t e r g r u n d praktiziert u n d tradiert werden, weil das Volk davon nichts wissen durfte. Warburton ging allerdings nicht so weit zu be­

h a u p t e n , dass die heidnischen Staaten geradezu auf Lüge gegründet seien. Im Gegenteil, er betont die Un­

abdingbarkeit, ja, m a n ist im Vorgriff auf Nietzsche versucht zu sagen: die Lebensdienlichkeit der Fik­

tionen, auf denen die Volksreligion beruht. O h n e sie wären eine zivile Gesellschaft u n d ein geordnetes Staatswesen undenkbar. M a n muss sie daher vor den Wahrheiten schützen, die sie als Fiktionen entlarven würden.

Die Lösung, die die Ägypter für dieses Problem gefun­

den haben, besteht in dreierlei: in der Stiftung eines Ordens, d e m die Pflege u n d Weitergabe der staatsge­

rährdenden Wahrheit oblag, in der Ausbildung einer Symbolschrift für eine nur Eingeweihten lesbare Auf­

zeichnung u n d schließlich in der Anlage ausgedehnter unterirdischer Archive, Forschungsstätten u n d Ritual­

b ü h n e n , in denen die esoterische Religion in voll­

k o m m e n e r Verborgenheit vor den Augen der Unein­

geweihten praktiziert werden k o n n t e . Die von den Ägyptenreisenden beschriebenen über u n d über be­

schrifteten Gänge, K a m m e r n , Hallen u n d Säle k o n n ­ ten ja unmöglich alle zu Begräbniszwecken gedient haben, u n d der einzige Sinn, der sich vernünftiger­

weise mit diesen aufwendigen Installationen verbinden ließ, war die Schaffung eines Raums für die esoteri­

sche Religion. So lieferte die Archäologie mit der täg­

lich weiterreichenden E n t d e c k u n g des unterirdischen Ägypten den letzten, entscheidenden Beweis für die Richtigkeit der Warburtonschen These. Der von ihm behauptete Antagonismus der öffentlichen, staatstra­

genden Volksreligionen u n d der geheimen, philoso­

phischen Mysterienreligionen fand in Ägypten seinen Ausdruck im Gegensatz zwischen H o c h b a u u n d Tief­

bau, oberirdischen u n d unterirdischen Anlagen. Am klarsten u n d eindrucksvollsten k o m m t dieses Bild der ägyptischen Mysterien in einem Aufsatz von A n t o n Kreil über die wissenschaftliche Freimaurerei9 zum Ausdruck, den Mozart nachweislich gekannt hat.

Es liegt auf der H a n d , welche große Faszination dieses

Bild einer unter D u l d u n g , ja Förderung des Staates buchstäblich in den Untergrund gegangenen Elite auf eine Leserschaft ausüben musste, die sich ihrerseits zu einer Art innerer Emigration gezwungen sah, u m im Schutz der Logen u n d Geheimgesellschaften ihr Projekt der A u f k l ä r u n g zu betreiben. Die Parallele zwischen den altägyptischen Weisen, die u n t e r der Erde den G o t t der Philosophen verehrten u n d an der Veredelung der Metalle, des eigenen Selbst u n d der menschlichen Gesellschaft arbeiteten, u n d den euro­

päischen Freimaurern, die in ihren Logen das gleiche Projekt verfolgten, erschien so perfekt, dass sich die Freimaurer als Erben jener altägyptischen Priesteror­

den fühlen k o n n t e n .

Aus dieser Konzeption der doppelten Religion als ei­

nes k u l t u r i m m a n e n t e n ­ nicht nur Pluralismus, son­

dern A n t a g o n i s m u s allerschärfster Ausprägung, der zu völliger G e h e i m h a l t u n g zwang, folgte n u n eine Vorstellung des Einweihungsrituals, die Mozart auf­

grund ihrer bedeutenden ästhetischen Implikationen fasziniert haben wird. Er war im Dezember 1784 der Loge „Zur Wohlthätigkeit" beigetreten und führte sei­

nen Vater Leopold bei dessen Wienbesuch im Früh­

jahr 1785 in die Schwesrerloge „ Z u r W a h r e n Ein­

tracht" ein. Bei den Logensitzungen am 16. u n d 22.

April w u r d e Leopold in den Gesellen­ u n d Meister­

stand a u f g e n o m m e n ; zu diesem Anlass hielt Bruder Anton Kreil zwei Vorträge, in denen er das erwähnte höchst lebendige Bild von d e m ägyptischen Priester­

orden u n d seinen Z u s a m m e n h ä n g e n mit der neueren Freimaurerei entwarf. Sie w u r d e n u n t e r d e m Titel

Über die wissenschaftliche Maurerey a n o n y m im JF ( A n m . 9) veröffentlicht. Bisher schrieb m a n diese Ar­

beit Ignaz von Born zu u n d e r k a n n t e daher nicht, dass sie aus den beiden Vorträgen hervorgegangen sein muss, die Kreil laut Protokoll Über szientifische Maurerey zur Gesellen­ u n d Meisterweihe Leopold Mozarts gehalten hat u n d bei d e n e n , ebenfalls laut Protokoll, auch Wolfgang Amadeus Mozart als besu­

chender Bruder anwesend war.1 0

9 [ A n t o n Kreil], Über die wissenschaftliche Maurerey, JF 7, 1785, S. 4 9 - 7 8 .

10 Irmcn, Protokolle, S. 271, Nr. 374 vom 16. April 1785 und S. 272, Nr. 376 vom 22. April 1785. Irmen und Alexander Giese, der Herausgeber des Neudrucks des

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7 6 4 Jan Assmann

Im Licht der freimaurerischen Mysterientheorie lässt sich n u n auch verstehen, was der scheinbare ,Bruch' in der Zauberflöte, der unvermittelte Umschlag vom M ä r c h e n z u m Mysterium, zu bedeuten hat. In der O p e r geht es u m die Konversion des Initianden, in die der Zuschauer m i t hineingezogen wird, weil er selbst zum Teilnehmer des Rituals wird; hier werden die Mysterien der Isis unmittelbar vollzogen, u n d das nicht erst im zweiten Teil, n a c h d e m sich die H a n d ­ lung in ein scheinbares Ägypten verlagert hat, son­

dern vom ersten Ton, von den geheimnisvollen fünf Akkordschlägen an, mit denen die Ouvertüre anhebt.

Schon da soll d e m Zuschauer klar werden, dass ihn kein Märchen erwartet — auch wenn die ersten Bilder alles tun, um ihn in die Irre zu führen. Die O p e r wan­

delt sich nicht vom Märchen zum Mysterium, sondern ist als Ganzes ein Mysterium, in das die Märchenwelt der ersten Szenen in der Funktion der Jllusionierung' integriert ist. Die Illusion wird im weiteren Verlauf der O p e r zerstört, um der Wahrheit zu weichen. Das Besondere dieses dramaturgischen Kunstgriffs besteht darin, dass sich die Illusion auch im Zuschauer auf­

baut: Er wird unwiderstehlich in das Einweihungs­

geschehen hineingezogen u n d gewissermaßen selbst zum Neophyten. Auf der Bühne vollzieht sich ,in Echt­

zeit' ein Ritual, an d e m der Zuschauer buchstäblich teilnimmt u n d das ihn im Innersten affiziert.

Interessant ist n u n , dass sich das U m d e n k e n oder die Konversion bei den Protagonisten ungleichzeitig abspielt. T a m i n o m a c h t den A n f a n g , er erweist sich schon bei der ersten P r ü f u n g als vollständig aufge­

klärt. Diese besteht in dem Auftritt der drei D a m e n , die T a m i n o u n d Papageno vor den bösen Absichten der Priester warnen wollen ( I I / 5 , Q u i n t e t t o Nr. 12).

Vorher hatten die beiden Priester, die als Mystago­

gen fungieren, den beiden Prüflingen in einem D u e t t eingeschärft, sich vor „Weibertücken" zu bewahren.

Dieses D u e t t ( I I / 3 , Nr. 11) h ö r t m a n im Licht der Mysterientheorie anders. Es entspricht einem orphi­

schen H y m n u s , den schon W a r b u r t o n als Rede des H i e r o p h a n t e n an die N e o p h y t e n gedeutet hat. D o r t heißt es in einer Übersetzung des 18. Jahrhunderts:

„Hütet euch vor Vorurteilen und Leidenschaften, wel­

che euch von d e m rechten Wege der Glückseligkeit entfernen werden."1 1Da Mozarts O p e r diese „Vorur­

teile", die sich in der Mysterientheorie auf die illusio­

nären Gottesvorstellungen der Volksreligion bezie­

hen, durch die Königin der N a c h t u n d ihre Sphäre repräsentiert, werden sie hier als „Weibertücken" dar­

gestellt.1 2

W ä h r e n d T a m i n o diese P r ü f u n g glänzend besteht, m a c h t Papageno eine eher klägliche Figur: Er wird die geforderte Konversion bis zum Schluss nicht voll­

ziehen, sondern bleibt i m m e r derselbe, profane Cha­

rakter. Er hält die exoterische Perspektive der Volks­

religion auch im Bereich des Geheimnisses durch u n d sorgt dadurch für komische Kontraste zwischen innen u n d a u ß e n . Es gehört zu den W u n d e r n dieser O p e r n h a n d l u n g , dass der Mysterienernst des Rituals in Gestalt des Papageno durchgehend ironisiert und parodiert wird, o h n e dass Ernst u n d W i r k u n g der Mysterien dadurch im Geringsten beeinträchtigt wer­

den. D u r c h die Einbeziehung der Justigen Figur' aus der Tradition des Wiener Volkstheaters gewinnt das Freimaurerritual vielmehr Z ü g e des barocken Welt­

theaters hinzu. W i e steht es aber mit Paminas Kon­

version? Sie wird sich am E n d e zu der neuen W i r k ­ lichkeit d u r c h r i n g e n , b r a u c h t d a f ü r aber viel mehr Zeit als T a m i n o . In der Szene ihrer Begegnung mit ihm, in der er nicht mir ihr sprechen darf u n d die für ihn die zweite P r ü f u n g darstellt, k o m m t es daher zu einer tragischen Konfrontation.

U m diese Szene zu würdigen, müssen wir auf Schika­

neders Verwandlungstechnik eingehen, die auf die Schnitttechnik des m o d e r n e n Films vorauszuweisen scheint. D u r c h den a b r u p t e n Wechsel von der einen zur anderen H a n d l u n g s e b e n e entsteht der Eindruck der Gleichzeitigkeit (siehe Tabelle).

W i r müssen uns vorstellen, dass die Szenen in den Spalten l , 3 u n d 5 gleichzeitig ablaufen. Sie zeigen die jeweiligen Prüfungssituationen der Liebenden, m denen sie getrennt sind. Ihnen folgt jeweils eine Szene

Journals für Freimaurer, schreiben d i e Rede [, v. Born zu

„anläßlich einer M e i s t e r e r h e b u n g " ( I n n e n , S. 2 6 ) , Giese setzt sogar n o c h hinzu: „Worte e i n e s Sarastro" (S. 71)­

1 1 Grata Repoa, S. 8 f., mit Verweis auf Eusebius, I'raeparatio ev. 1.13 und C l e m e n s , Admonit. adgentes (Protreptikos)- 12 In einigen Rekonstruktionen wird der N e o p h y t aber auc

n o c h speziell w e i b l i c h e n , n ä m l i c h sexuellen Versuchun­

gen ausgesetzt, u n d zwar durch „die Frauen der Priester, w e l c h e ( . . . ) ihn b e s u c h t e n u n d i h n a u f alle m ö g l i c h1

Weise zur Liebe reizten." (Crata Repoa, S. I I ) .

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1 2 3 4 5 6 Pamina, in der Hand

des Monostatos, Erste Begegnung flieht mit Papageno

Tamino im Prüfungstempel

Zweite Begeg­

nung: Taminos Schweigen

Pamina an der Schwelle des Selbstmords

Die letzte Begegnung

Tamino, von den

drei Knaben und sofortige geleitet, betritt Trennung den Tempelbezirk

Pamina in der Gartenlaube

Zweite Trennung und „letztes Lebewohl"

Tamino vor den

„Schreckens pforten"

und endgültige Vereinigung

des Wiederfindens und der erneuten Trennung. Das ist die S t r u k t u r des antiken Liebesromans, die hier äußerst geschickt mit der Ritualstruktur der Einwei­

h u n g verknüpft ist: W ä h r e n d Pamina in ihrem „ägyp­

tischen Z i m m e r " von M o n o s t a t o s eingesperrt u n d von Papageno befreit wird, wird T a m i n o von den drei Knaben in den Tempelgarten g e f ü h r t u n d begegnet dem alten Priester (Spalte 1); während Tamino u n d Papageno im Prüfungstempel die ersten Stationen ih­

res Prüfungswegs beschreiten, schläft Pamina in ihrer Blumenlaube u n d empfängt den Besuch des M o n o ­ statos, dann ihrer Mutter, zuletzt Sarastros (Spalte 3);

w ä h r e n d Pamina von den Knaben vor d e m Selbst­

m o r d bewahrt wird, gelangt T a m i n o vor die „Schre­

c k e n s p f o r t e n " seiner letzten P r ü f u n g (Spalte 5);

während Pamina und T a m i n o durch Feuer u n d Was­

ser wandeln, will einerseits Papageno sich aufhängen u n d erhält mit Hilfe der drei Knaben endlich seine Papagena, andererseits versucht die Königin der Nacht mit ihrem Damengefolge und ihrem neuen Verbün­

deten M o n o s t a t o s Sarastros Herrschaft zu stürzen.

Hier vollziehen sich die gleichzeitigen Vorgänge also sogar auf drei verschiedenen Handlungsebenen, ein schwindelerregendes Accelerando der Verwandlung, eine Art Show­down zum triumphalen Ende hin. Die .Schnitte' sind allesamt hart u n d extrem kontrastiv.

Zwischen Paminas „ägyptischem Z i m m e r " u n d d e m Tempelgarten, zwischen dem ruinösen Tempelvorhof und Paminas Blumenlaube, zwischen dem Garten, in dem sie und später Papageno sich das Leben n e h m e n wollen, u n d den „großen Bergen" mit Feuer u n d Wasser, die T a m i n o mit d e m Tod b e d r o h e n , liegen Welten, visuell und emotional. Mit ihren schon von Goethe gelobten scharfen Kontrasten ruft die Zauber­

flöte geradezu nach filmischer Umsetzung.

U m n u n auf die Szene der zweiten P r ü f u n g zurück­

z u k o m m e n , ergibt sich aus diesem Verständnis, dass Pamina sich im Zustand äußerster Angst u n d Des­

o r i e n t i e r u n g zu T a m i n o flüchtet. H i n t e r ihr liegen die traumatische Begegnung mit ihrer M u t t e r , der Erpressungsversuch von Monostatos u n d die Hallen­

arie Sarastros, der ihr mit seinem Eingreifen im letz­

ten Augenblick das Leben gerettet hat. Was sie jetzt nötiger als alles andere braucht ist Trost u n d Z u w e n ­ dung. T a m i n o ist ihre einzige H o f f n u n g , ihr einziger Lebenssinn. Aber er schweigt, winkt ihr, sich zu ent­

fernen, verweigert jede Erklärung seines unbegreifli­

chen Betragens. „O, das ist mehr als Kränkung, m e h r als Tod! Liebster, einziger Tamino!" Pamina kann sich Taminos Schweigen nur als Zeichen erkalteter Liebe erklären. Die g­moll­Arie, die sie n u n a n s t i m m t (II/

18, Nr. 17), bietet alle Mittel affektiver Erschütterung auf, die Mozart zur Verfügung standen ­ u n d welche standen ihm nicht zur Verfügung? Es fordert von T a m i n o ein M a ß an S e l b s t ü b e r w i n d u n g , angesichts dieser verzweifelten Wehklage s t u m m zu bleiben, wie es O r p h e u s in vergleichbarer Situation nicht aufge­

bracht hatte. Die Szene erfüllt in der O p e r die Funk­

tion der emotionalen Erschütterung der Initianden, zu denen wir, wie gesagt, auch die Z u h ö r e r zu rechnen haben. Sie bildet den emotionalen H ö h e p u n k t . D e r O r p h e u s ­ M y t h o s ist ein durchgängiger Subtext der Zauberflöte. Auch in ihm geht es u m die verwan­

delnde Kraft der Musik, die t o d ü b e r w i n d e n d e Kraft der Liebe und den Initiationsritus der Unterweltfahrt.

O r p h e u s ist der Heros der Mysterien, der sie aus Ägyp­

13 Ingmar B e r g m a n , Die Zauberflöte ( 1 9 7 4 ) ; Bergman sah sich in s e i n e m ­ g e l u n g e n e n ­ Film allerdings zu U m s t e l ­ l u n g e n einiger Szenen im zweiten Akt g e z w u n g e n , u m die Kontraste a b z u s c h w ä c h e n u n d vor allem den R h y t h m u s der V e r w a n d l u n g e n zu v e r l a n g s a m e n .

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766 Jan Assmann

ten nach Griechenland gebracht haben soll. Sein My­

thos steht aber nicht von ungefähr auch am A n f a n g der Operngeschichte; es ist der M y t h o s der Musik, u n d seine Dramatisierung durch Claudio Monteverdi und Alessandro Striggio bildet gewissermaßen die ,Ur­

szene' des Musikdramas. An diese Urszene k n ü p f t die Zauberflöte an: Auch sie entfaltet den M y t h o s von der verwandelnden Kraft der Musik; auch Tamino be­

zaubert m i t seiner Musik die wilden Tiere u n d be­

zwingt die Schrecken der Unterwelt. In der entschei­

denden Szene aber, in der O r p h e u s scheitert, beweist Tamino Besonnenheit. W ä h r e n d O r p h e u s mit Eurydi­

ke sprechen, aber sie nicht ansehen darf, darf T a m i n o Pamina sehen, aber nicht mit ihr sprechen. Diese Szene ist der Form nachgebildet, die Gluck u n d Calz­

abigi in der O p e r Orfeo ed Euridice (1762) d e m Mythos gegeben haben. Hier deutet Euridice die Tat­

sache, dass O r f e o sich nicht nach ihr umsieht, als Zeichen erkalteter Liebe u n d will, wie Pamina, den Tod vorziehen. T a m i n o gelingt es jedoch, anders als O r p h e u s , sich in dieser Situation zu beherrschen u n d zu schweigen.

Sowohl diese Szene als auch das bald darauf folgen­

de Terzett (11/21, Nr. 19) von Pamina, T a m i n o u n d Sarastro m i t d e m „letzten Lebewohl" versteht m a n nur, wenn m a n sich klar macht, dass Pamina noch in ihrer alten W i r k l i c h k e i t s k o n s t r u k t i o n befangen ist, also T a m i n o s Konversion noch nicht vollzogen hat.

Für sie ist Sarastro noch i m m e r undurchsichtig, den Priestern traut sie nicht, die P r ü f u n g e n hält sie f ü r ein böses K o m p l o t t , u n d die W e n d u n g „das letzte Lebewohl" kann sie nicht anders denn als eine finstere D r o h u n g verstehen. Das Terzett stellt in den Augen der meisten Interpreten der Zauberflöte ein schweres dramaturgisches Problem dar. D e n n w a r u m spricht Pamina ihren T a m i n o nicht auf sein ihr so unver­

ständliches, sie so tief kränkendes Schweigen an, und w a r u m will sie sich nach dieser im Ganzen doch tröst­

lichen Begegnung das Leben nehmen? Was soll über­

haupt dieses Lebewohl mitten in der Sequenz der Prü­

fungen? Dieser scheinbaren Unlogik versuchen viele A u f f ü h r u n g e n durch Umstellungen zu entgehen. Wir müssen also fragen, w a r u m Mozart u n d Schikaneder das Terzett dort, wo es steht, eingefügt haben. Seine dramaturgische F u n k t i o n ergibt sich aus der bisher nicht erkannten Ritualstruktur der Handlung. Mozart

und Schikaneder k o m m t es darauf an, die ersten bei­

den Prüfungen, bei denen Papageno noch dabei ist, u n d die letzte P r ü f u n g , zu der T a m i n o n u r allein, d a n n aber auf eine das Ritual revolutionierende und die Priester selbst überraschende Weise z u s a m m e n mit Pamina zugelassen ist, durch eine starke Zäsur voneinander abzusetzen. In der Mysterientheorie ent­

spricht diese Zäsur der Unterscheidung zwischen den kleinen u n d den großen Mysterien. Die großen My­

sterien weihen den von seinen Vorurteilen u n d Lei­

denschaften gereinigten Mysten z u m E p o p t e n , zum Erleuchteten („erleuchtet wird er d a n n im Stande sein, sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn").

u n d werden n u r den stärksten u n d reifsten Naturen zuteil. Das Terzett markiert die Zäsur; dadurch, dass n u n auch Pamina den Schleier der Initianden erhält, wird das Geschehen deutlich auf eine neue Stufe ge­

hoben. Papageno n i m m t an keiner der folgenden Prü­

fungen mehr teil, er b e k o m m t kurz vor Schluss noch einen Auftritt und seine Papagena, aber aus dem Ritu­

algeschehen ist er ausgeschieden. W ä h r e n d Tamino, n u n o h n e Papageno, auf diesem Weg voranschreitet, versucht die verzweifelte Pamina, sich das Leben zu nehmen, und ringt sich schließlich ihrerseits mit Hil­

fe der drei Knaben zur Wahrheit durch. N u n k o m m t es, nach der dritten Trennung, zur endgültigen Verei­

nigung. Pamina vereinigt sich mit Tamino zur letzten lebensgefährlichen P r ü f u n g , ja m e h r noch: Sie fasst ihn bei der H a n d u n d ü b e r n i m m t die F ü h r u n g . Wie wir sehen, prägt sich die Mysterienkonzeption der Freimaurer sehr deutlich im Aufbau der O p e r aus. Das Ritual der Einweihung in die Mysterien, wie es sich aus der antagonistischen Konzeption der doppelten Reli­

gion ergab, sieht drei Stufen vor, deren Reihenfolge in den einzelnen Rekonstruktionen schwankt. Die eine Sture bestand in der Befreiung des N e o p h y t e n von den Vorurteilen u n d Irrlehren der Volksreligion, also in Aufklärung im eigentlichen Sinne. Die andere Stu­

fe bestand in P r ü f u n g e n , die den Novizen schweren e m o t i o n a l e n Erschütterungen aussetzen u n d bis an den Rand einer Todeserfahrung führen mussten, um seine Seele für den E m p f a n g der Wahrheit vorzuberei­

ten, die als letzte Stufe an die Stelle der Irrtümer tre­

ten sollte. Bei W a r b u r t o n stehen die Reinigungen, P r ü f u n g e n u n d Belehrungen am A n f a n g u n d bilden die kleinen Mysterien, während die Desillusionierung

(7)

des Neophyten am Anfang der großen Mysterien steht.

In der Zauberflöte dagegen gehört die Desillusionie­

rung, die Befreiung Taminos von den falschen Vorstel­

lungen, die ihm die Königin der Nacht eingeflößt hat, zu den allerersten, den Prüfungen der kleinen Myste­

rien noch vorausgehenden Reinigungen. Die dritte und letzte Stufe, die nur den zur Ausübung des Herrscher­

amts bestimmten N a t u r e n vorbehalten war, bestand d a n n in der Schau der entschleierten Wahrheit.

Die Zauberflöte ist nichts anderes als eine ästhetische Performanz der freimaurerischen Mysterienkonzep­

tion, deren genaue U m s e t z u n g in ein musiktheatra­

lisches Kunstwerk. Die G l i e d e r u n g der O p e r in vier Teile spiegelt dies wieder; sie ist musikalisch sowohl durch die Unterscheidung von Nummernfolge mit ge­

sprochenen Dialogen einerseits u n d ungefähr gleich langen, d u r c h k o m p o n i e r t e n Finali o h n e gesprochene Dialoge andererseits, sowie durch die Tonartenver­

teilung angezeigt. Die Teile enden immer in der Ton­

art, in der sie beginnen, also E s ­ D u r (1. Teil), C ­ D u r (2. Teil), F ­ D u r (3. Teil) u n d wieder E s ­ D u r (4. Teil);

(siehe Tabelle).

Akt Teil Tonart

1 1 Ouvertüre und N u m m e r n 1 („Introduction") bis 7

(Duetto „Bei Männern"): Es Dur 2 N u m m e r 8: 1. Finale: C Dur II 3 N u m m e r n 9 (Marcia) bis 20

(Aria „Ein Mädchen") F Dur

4 N u m m e r 21: 2. Finale: Es Dur

Jeder dieser vier Teile bildet einen Abschnitt des Prü­

fungsweges „durch Nacht zum Licht". Der erste Teil, die Welt der Königin der N a c h t , vertritt die Illusio­

nierung. W i e schon e r w ä h n t , werden d e m Helden u n d mit ihm dem Publikum die falschen Vorstellun­

gen vermittelt, von denen er u n d es sich im Verlauf der Einweihung befreien müssen. Die Königin der Nacht erscheint ihm u n d uns auf ihrer Mondsichel als Isis, die H i m m e l s k ö n i g i n , u n d in ihrer Trauer u m die ge­

raubte Tochter als Demeter, die in der Antike u n d im 18. Jahrhundert mit Isis gleichgesetzt wurde. Ihre Dar­

stellung des „Bösewichts" Sarastro u n d der verbre­

cherischen E n t f ü h r u n g ihrer Tochter erscheint als lau­

tere Wahrheit. Diese Perspektive wird so weit durch­

geführt u n d mit dem letzten Bild dieses Abschnitts, in d e m wir die von M o n o s t a t o s b e d r o h t e Pamina erblicken, so stark bestätigt, dass sich im Zuschauer präzise E r w a r t u n g e n z u m Fortgang der H a n d l u n g bilden. Diese werden im zweiten u n d dritten Teil gründlich enttäuscht. Die Zuschauer müssen genau so u m d e n k e n wie T a m i n o u n d einen entsprechenden Perspektivenwechsel vollziehen. D e r zweite Teil zeigt in der Sprecherszene (1/15) die Desillusionierung des Helden. T a m i n o sieht ein, dass er die Vorstellungen über Sarastro aufgeben muss, die ihm die Königin der Nacht eingeflößt hat, u n d dass er, um Pamina zu erringen, den Weg der Einweihung betreten muss.

Pamina b r a u c h t m e h r Zeit, u m sich zu dieser Per­

spektive zu bekehren; so wird auch das Publikum in der Schwebe gehalten. Der dritte Teil ist den kleinen Mysterien gewidmet, zu denen auch Papageno zuge­

lassen ist. Sie bestehen in Schweigeprüfungen: In der ersten müssen die Prüflinge gegenüber den Einflüste­

rungen der drei D a m e n schweigen, die sie zu ihrer ur­

sprünglichen Sicht rekonvertieren u n d vom Pfad der E i n w e i h u n g beziehungsweise der Tugend abbringen wollen; in der zweiten P r ü f u n g geht es u m Schweigen gegenüber der Geliebten.

D e n großen Mysterien ist der vierte u n d letzte Teil gewidmet. Nach der Mysterientheorie konfrontieren sie den N e o p h y t e n mit den „Schrecken des Todes", denen er standhalten k ö n n e n muss, u m seine Seele z u m E m p f a n g der W a h r h e i t beziehungsweise in der Zauberflöte d e m Blick ins H e i l i g t u m des G r ö ß t e n Lichts vorzubereiten. Das geschieht bei d e m G a n g durch Feuer u n d Wasser, zu dem sich gegen jede Regel u n d Erwartung T a m i n o u n d Pamina vereinigen. Für den Gesang der G e h a r n i s c h t e n , die T a m i n o die In­

schrift über den Schreckenspforten vorlesen, verwen­

det Mozart einen lutherischen Choral u n d behandelt ihn im reinsten Stil Johann Sebastian Bachs als Cantus firmus über einer fugierten Begleitung, u m durch die Verwendung einer musikalischen .Fremdsprache' die Fremdsprachlichkeit der hieroglyphischen Inschrift auszudrücken. Aber auch Pamina und Papageno wer­

den durch ihre versuchten Selbstmorde an die Schwel­

le des Todes geführt u n d so auf die Einweihung vorbe­

reitet, die Pamina im vollen, Papageno jedoch nur im profanen Sinne gewährt wird; er b e k o m m t Papagena

(8)

7 6 8 Jan Assmann

u n d gehört n u n zu dem Volk, das von den Priestern weise regiert wird.

D a m i t ist aber nur der eine von zwei Handlungssträn­

gen erfasst; die O p e r n h a n d l u n g entwickelt sich näm­

lich in der Verflechtung von Taminos Initiationsweg u n d dem Schicksal der beiden Liebenden beziehungs­

weise von Bildungsroman u n d Liebesroman. Das O r p h e u s ­ T h e m a gehört in den Z u s a m m e n h a n g des Liebesromans, der d a d u r c h die T h e m e n Musik u n d Liebe verknüpft ­ die für die O p e r zentral sind, aber in der Mysterienkonzeption keine Rolle spielen (siehe Tabelle).

W i r verstehen n u n besser die ungewöhnliche Kom­

plexität des Handlungsaufbaus, die zur romantischen Bruch­Hypothese u n d zur postmodernen Patchwork­

Theorie geführt hat. In dem zum ästhetischen Kunst­

werk transformierten Ritual oder Mysterium, das die Zauberflöte inszeniert, der Einweihung in die Myste­

rien der Isis, geht es um W a n d l u n g u n d Veränderung u n d d a m i t u m Ambivalenzen, Kontraste u n d W i d e r ­ sprüche. Zweifellos gibt es k a u m ein Kunstwerk, das die Devise „Wer vieles bringt, wird m a n c h e m etwas bringen" treffender u n d erfolgreicher verkörpert als die Zauberflöte, aber das schließt hier genauso wenig wie bei Goethes Faust die Möglichkeit aus, dass mehr dahintersteckt als eine von H a u s aus synkretistische Theatertradition. D a m i t ziele ich nicht auf den Begriff

Aufzug Teil Ritualstruktur Liebesroman

1 1

Taminos lllusionierung

,Amour naissant':

die Entstehung der Liebe durch den Anblick eines Bildes

2 Taminos Des- illusionierung

Erste B e g e g n u n g und Trennung der Liebenden

II 3 Die kleinen Mysterien

Zweite Begeg­

nung: Orpheus­

Tamino widersteht, Pamina­Eurydike verzweifelt;

zweite Trennung

4 Die großen

Mysterien

Dritte B e g e g n u n g und endgültige Vereinigung

der , A u t o r i n t e n t i o n \ der bei einem Autorenkollektiv ganz besonders problematisch ist; es geht ja hier um Mozart u n d Schikaneder, u n d der N a m e Schikaneder steht wie bei seinen anderen Bühnenwerken für eine Z u s a m m e n a r b e i t , bei der auf die eine oder andere Weise auch der notorische Karl Ludwig Giesecke be­

teiligt war.1 4Vielmehr würde ich an Schillers Begriff der „Totalidee" erinnern, den er in einem Brief an G o e t h e vom 27. März 1801 entwickelt: „ O h n e eine solche d u n k l e aber mächtige Totalidee, die allem Technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen, u n d die Poesie, d ä u c h t mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mitteilen zu k ö n n e n , das heißt es in ein O b j e k t zu übertragen." '*

Dieser Begriff hat im Unterschied zur ,Autorinten­

tion' den großen Vorteil, auch die Anteile des Unbe­

wussten („jenes Bewußtlose") am kreativen Prozess in R e c h n u n g zu stellen. Was die hinter der Zauberflöte stehende u n d in ihr objektivierte Totalidee angeht, so sehe ich das ausschlaggebende Motiv in der Mysterien­

faszination des späten 18. J a h r h u n d e r t s .1 6An dieser Idee muss freilich Mozart einen unendlich größeren Anteil als Schikaneder gehabt haben. N u r Mozart war mit der Mysterienforschung der Freimaurer so eng vertraut, dass sich in ihm die Idee einer (gewiss „teut­

schen") Mysterienoper bilden k o n n t e . Als im Früh­

jahr 1791 Schikaneder mit seinem Plan einer musik­

theatralischen U m s e t z u n g von Z a u b e r m ä r c h e n aus Wielands Dschinnistan an Mozart herantrat, muss das bei diesem auf fruchtbaren Boden gefallen sein u n d seine gewiss seit Jahren schwelenden Pläne zur alsbaldigen Kristallisation geführt haben. Schikaneder w i e d e r u m gehörte in Regensburg f ü r sechs Monate einer Freimaurerloge an (bis er wegen seiner Liebes­

affären relegiert wurde) u n d war seinerseits eingeweiht genug, um Mozarts Ideen aufgreifen u n d umsetzen zu k ö n n e n . In dieser D e u t u n g sehe ich zwar eine

14 D i e These, dass das T e x t b u c h der Zauberflöte ganz oder teilweise n i c h t v o n Schikaneder, sondern v o n Giesecke s t a m m t , w u r d e v o n Julius C o r n e t 1849 ( a u f g r u n d einer B e h a u p t u n g v o n Giesecke selbst) in die Welt gesetzt, vo O t t o Jahn in seiner maßgeblichen M o z a r t h i o g r a p h i e au gegriffen u n d v o n W o l f g a n g Hildesheimer neu a u f g o ß1' 15 Z i t . nach Knepler, S. 3 5 1 .

16 V g l . Assmann, bes. S. 8 3 ­ 121, 1 4 7 ­ 1 6 6 , 2 0 7 ­ 2 3 0 ­

(9)

plausible Lösung des ästhetischen Problems, das die Zauberflöte in den Augen auch der Gebildeten unter ihren Verächtern darstellt, aber nicht die Lösung des Rätsels. Das Rätsel Zauberflöte möchte ich lieber un­

angetastet lassen. Die Zauberflöte ist eine Hierogly­

phe' im Sinne des 18. Jahrhunderts, die ihre ästheti­

sche u n d intellektuelle Faszination gerade aus ihrer u n e r g r ü n d l i c h e n B e d e u t u n g bezieht.

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Referenzen

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