DIE ZAUBERFLÖTE - M Ä R C H E N O D E R M Y S T E R I U M ?
7 6 1
Jan Assmann
Die Frage im Titel dieses Beitrags kennzeichnet das ästhetische Problem u n d das hermeneutische Rätsel der Zauberflöte. Die O p e r beginnt als ein Zaubermär
chen u n d geht mit d e m Finale des ersten Akts in ein Mysterienspiel über: das Ritual der Einweihung in die Mysterien der Isis. Gleichzeitig ändern einige zentrale Figuren ihren Charakter: Aus der Königin der Nacht, die wir zuvor als isis oder auch marienhafte Himmels
königin u n d t r a u e r n d e D e m e t e r erlebt haben, wird eine dämonische Rachefurie, u n d Sarastro, der uns als Bösewicht geschildert wurde, erweist sich als gütiger u n d weiser Herrscher. Papageno, der als Vogelfänger in den Diensten der Königin der Nacht steht, wech
selt auf die Seite Sarastros, u n d der brutale M o h r Monostatos, den Sarastro z u m W ä c h t e r Paminas ein
gesetzt hatte, läuft zur Königin der N a c h t über. Die drei D a m e n werden aus hilfreichen Geistern zu Ver
führerinnen, d i e T a m i n o vom rechten Weg abbringen wollen, w ä h r e n d ihre hilfreiche Rolle von den drei Knaben ü b e r n o m m e n wird, die dieselben drei D a m e n
zu T a m i n o s u n d Papagenos F ü h r e r n bestellt haben.
Alles wandelt u n d widerspricht sich in dieser Oper, und w e n n m a n schon die hermeneutischen Wider
sprüche auf sich beruhen lassen könnte, da sich eine Oper, mit Hans Ulrich G u m b r e c h t zu reden, ja ohne
hin eher „diesseits des Sinns" bewegt1 und, wie Schiller Meinte, „das Wunderbare, welches hier einmal gedul
det wird, m ü ß t e n o t w e n d i g gegen den Stoff gleich
gültiger m a c h e n "2, bleibt doch das ästhetische Pro
blem, mit d e m sich jede Inszenierung wieder neu aus- einandersetzen muss.
So verwundert es nicht, dass sich schon bald nach dem einzigartigen Siegeszug, den diese O p e r noch in den
' 7 9 0 e r Jahren auf praktisch allen deutschsprachigen k ü h n e n angetreten hatte, die ,BruchHypothese' bil
den k o n n t e , die, o b w o h l längst d u r c h U n t e r s u c h u n gen am Autograph schlüssig widerlegt, bis heute nicht
aus der Welt ist. Ignaz von Seyfried hat die Legende in U m l a u f gesetzt, M o z a r t u n d Schikaneder h ä t t e n m i t t e n in der schon weit in den ersten Akt hinein fortgeschrittenen Arbeit die H a n d l u n g u m g e w o r f e n , aus dem Zaubermärchen ein freimaurerisches Myste
rium gemacht u n d dieses nach Ägypten verlegt, u m nicht mit einer auf dem gleichen Märchen (Lulu oder die Zauberflöte) b e r u h e n d e n Zauberoper in Konkur
renz zu treten, die im Sommer 1791 auf dem Leopold
städter Theater in Szene ging. Diese Legende, an der historisch ü b e r h a u p t nichts dran ist, bringt d e n n o c h das ästhetische Problem der Zauberflöte auf den Punkt und hat sich aus diesem G r u n d bis heute halten kön
nen: Märchen oder Mysterium? Erst das eine, d a n n das andere; die O p e r verwandelt sich in ihrem Verlauf.
Für das ästhetische Problem, w e n n auch nicht für das semantische Rätsel, haben Kenner der Theatertraditio
nen des 18. Jahrhunderts eine wesentlich überzeugen
dere Lösung vorgeschlagen. So schreibt Jörg Krämer:
„Es ging Schikaneder in seinem .Patchwork' aus Ver
satzstücken aller Art nicht u m literarische Stringenz oder Originalität, sondern primär u m T h e a t e r w i r k samkeit für heterogene Publiken u n d Ansprüche (wo
rauf schon Goethe mehrfach hinwies) u n d u m Raum f ü r die M u s i k . "3 Dieter Borchmeyer spricht vom
„Patchwork der Zauberflöte, die entsprechend der einzigartigen synkretistischen Theatersituation Wiens
heterogene literarischtheatrale, ideelle u n d mentale Traditionen übereinanderschichtet, deren divergie
rende, sich wechselseitig in Frage stellende Perspekti
ven nicht konsequent unter einen klar abgrenzbaren
1 G u m b r e c h t , Diesseits des Sinns. In der O p e r g e h t es
n i c h t u m „Substantialität", s o n d e r n u m „Präsenz", d i e G u m b r e c h t in s e i n e m B u c h Production of presence als G e g e n i n s t a n z zu „Sinn" a u f b a u t .
2 G o e t h e , Brief an G o e t h e v o m 2 9 . 12. 1 7 9 7 , S. 4 8 0 . 3 Krämer, S. 5 4 7 .
Ostfildern 2006, S. 761-769
7 6 2 Jan Assmann
Autorstandpunkt gezwungen werden".4Die Zauber- flöte ist dieser Theorie zufolge so tief im Wiener Vor
stadttheater verankert, dass sich dessen geistiger u n d sozialer Kontext m i t all seinen W i d e r s p r ü c h e n , Ge
gensätzen u n d Synkretismen in ihr ausgeprägt hat.
Die Zauberflöte wäre d a n n die charakteristischste al
ler Produktionen des alten Wiener Vorstadttheaters5; es lässt sich aber k a u m ein Werk finden, das diesen R a h m e n deutlicher sprengt.
N u n ist die Zauberflöte aber n i c h t n u r das Werk Schikaneders, der im Kontext des W i e n e r Vorstadt
theaters wie kein anderer zuhause war, sondern auch das Werk Mozarts, der zuvor so gut wie alle seine Werke für höfische Bühnen geschrieben hatte. Mozart k o m m t aus einem anderen geistigen Umfeld, das sich so klar in dieser O p e r ausprägt, dass m a n Mozarts Anteil an der G e s a m t k o n z e p t i o n wesentlich h ö h e r einschätzen muss als bisher geschehen: der W i e n e r Freimaurerei. O b w o h l kein Kapitel in Mozarts Bio
graphie als so gut erforscht gelten kann wie sein En
g a g e m e n t als F r e i m a u r e r6, u n d obwohl kein Aspekt der Zauberflöte so gründlich ausgeleuchtet wurde wie ihre freimaurerischen Bezüge7, gibt es hier noch viel zu entdecken. M a n muss n u r die Forschungsarbeiten der Loge „ Z u r W a h r e n E i n t r a c h t " über die antiken Mysterien durchlesen, d a n n e r k e n n t m a n schnell, dass diese Loge eine sehr eigenartige Konzeption über die Struktur dieser Religionen u n d ihrer Rituale aus
gearbeitet hatte. Diese Konzeption liegt auch der Zauberflöte als F o r m p r i n z i p z u g r u n d e .
Die Ergebnisse dieser Forschungen w u r d e n als Vor
träge in s o g e n a n n t e n Ü b u n g s l o g e n gehalten u n d in d e m von der Loge herausgegebenen Journal für Frei-
maurer (im Folgenden: JF) publiziert. Auf diese Weise kamen insgesamt nicht weniger als 13 größere Arbei
ten über antike Mysterien zustande. Das war vermut
lich n u r die Spitze des Eisbergs. Im letzten Viertel des 18. J a h r h u n d e r t s w u r d e das geistige Europa von ei
n e m wahren Mysterienfieber erfasst. Zwischen 1776 u n d 1800 erschienen außer den Arbeiten der Wiener Loge gewiss m e h r als zwei Dutzend größerer Abhand
lungen über die antiken Mysterien.8 Der Auslöser dieser Faszination lässt sich genau angeben. Es ist die Schrift des Göttinger Philosophen Christoph Meiners
Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusini- schen Geheimnisse (\77'6). Sie diente Adam Weishaupt
als Modell bei der G r ü n d u n g des Illuminatenordens im gleichen Jahr. Das N e u e , ja B a h n b r e c h e n d e an diesem Buch war die politische Dimension, in die es die eleusinischen u n d anderen Mysterien einstellte.
D a m i t hörten sie auf, ein G e g e n s t a n d rein antiqua
rischen Interesses zu sein; sie erschienen den Zeitge
nossen plötzlich als Spiegel u n d Vorbild ihrer eigenen Situation. Dabei war Meiners nicht einmal originell
Er griff zurück auf das dreibändige Werk des englischen Bischofs, Literaturwissenschafters u n d Altphilologen William W a r b u r t o n , The Divine Legation of Moses, das 1 7 3 8 1741 erschienen war u n d im zweiten von neun Büchern die antiken Mysterien behandelt.
Warburtons Frage war, wie Religionen funktionieren, die nicht auf göttliche O f f e n b a r u n g gegründet sind.
Die Heiden, die von der O f f e n b a r u n g ausgeschlossen sind, waren auf das angewiesen, was m a n im 18. Jahr
h u n d e r t n a t ü r l i c h e Theologie' nannte: die Erkennt
nis Gottes aus der Natur, durch Rückschluss von der S c h ö p f u n g auf den Schöpfer. So w u r d e n sie zu Deis
ten, ja Spinozisten avant la lettre. Auf dieser Religion aber, das war W a r b u r t o n s These, lässt sich kein Staat aufbauen. Die Religion der Vernunft oder die natürli
che Theologie kann nicht staatstragend sein. Der Staat braucht Götter zum Schutz der Gesetze und zum Aus
druck nationaler Identität. So k o m m t es zur Spaltung der Religion in einen exoterischen, staatstragenden Volkspolytheismus u n d einen esoterischen Deismus der Elite. Als Urbild u n d Modell aller heidnischen Staatswesen u n d Religionen galt die altägyptische Kultur, für deren S t r u k t u r sich schon vor Warburton der Begriff der duplex philosophia eingebürgert hatte
4 Borchmeyer, S. 8 6 .
5 Z u d e s s e n T r a d i t i o n e n vgl. i m m e r n o c h das
klassische Werk v o n R o m m e l .
6 Z u M o z a r t als Freimaurer vgl. v o r a l l e m d i e K a p 't e
„Mozart von der Wohltätigkeit" in Knepler, S. 184 — 204,
„Mozart u n d die Freimaurerei" in Braunbehrens, S. 2 4 3 2 8 5 , u n d „Freemasonry" in S o l o m o n , S. 3 2 1 - 3 3 5 - 7 Vgl. Chailley, Schuler, Perl, Rosenberg, Irmen (hier auch
Mozarts a n g e b l i c h e B e z i e h u n g e n zu d e n Asiatischen Bru d e r n ) , van den Berk u . v . a .
8 E i n f l u s s r e i c h e r n o c h als d i e z a h l r e i c h e n Wissenschaft 1
c h e n A b h a n d l u n g e n m e i s t v o n M i t g l i e d e r n verschie ner F r e i m a u r e r o r d e n s i n d z w e i R o m a n e : [Terrasson.
Sethos ( d t . Ü b e r s e t z u n g M a t t h i a s C l a u d i u s ) u n d Johann H e i n r i c h Jung, g e n . Stilling, Das Heimweh.
Für diese doppelte, in eine exoterische u n d eine eso
terische Seite gespaltene Philosophie oder Religion bot W a r b u r t o n n u n eine politische D e u t u n g an. Die eso
terische Religion beziehungsweise Philosophie muss
te im Verborgenen, im U n t e r g r u n d praktiziert u n d tradiert werden, weil das Volk davon nichts wissen durfte. Warburton ging allerdings nicht so weit zu be
h a u p t e n , dass die heidnischen Staaten geradezu auf Lüge gegründet seien. Im Gegenteil, er betont die Un
abdingbarkeit, ja, m a n ist im Vorgriff auf Nietzsche versucht zu sagen: die Lebensdienlichkeit der Fik
tionen, auf denen die Volksreligion beruht. O h n e sie wären eine zivile Gesellschaft u n d ein geordnetes Staatswesen undenkbar. M a n muss sie daher vor den Wahrheiten schützen, die sie als Fiktionen entlarven würden.
Die Lösung, die die Ägypter für dieses Problem gefun
den haben, besteht in dreierlei: in der Stiftung eines Ordens, d e m die Pflege u n d Weitergabe der staatsge
rährdenden Wahrheit oblag, in der Ausbildung einer Symbolschrift für eine nur Eingeweihten lesbare Auf
zeichnung u n d schließlich in der Anlage ausgedehnter unterirdischer Archive, Forschungsstätten u n d Ritual
b ü h n e n , in denen die esoterische Religion in voll
k o m m e n e r Verborgenheit vor den Augen der Unein
geweihten praktiziert werden k o n n t e . Die von den Ägyptenreisenden beschriebenen über u n d über be
schrifteten Gänge, K a m m e r n , Hallen u n d Säle k o n n ten ja unmöglich alle zu Begräbniszwecken gedient haben, u n d der einzige Sinn, der sich vernünftiger
weise mit diesen aufwendigen Installationen verbinden ließ, war die Schaffung eines Raums für die esoteri
sche Religion. So lieferte die Archäologie mit der täg
lich weiterreichenden E n t d e c k u n g des unterirdischen Ägypten den letzten, entscheidenden Beweis für die Richtigkeit der Warburtonschen These. Der von ihm behauptete Antagonismus der öffentlichen, staatstra
genden Volksreligionen u n d der geheimen, philoso
phischen Mysterienreligionen fand in Ägypten seinen Ausdruck im Gegensatz zwischen H o c h b a u u n d Tief
bau, oberirdischen u n d unterirdischen Anlagen. Am klarsten u n d eindrucksvollsten k o m m t dieses Bild der ägyptischen Mysterien in einem Aufsatz von A n t o n Kreil über die wissenschaftliche Freimaurerei9 zum Ausdruck, den Mozart nachweislich gekannt hat.
Es liegt auf der H a n d , welche große Faszination dieses
Bild einer unter D u l d u n g , ja Förderung des Staates buchstäblich in den Untergrund gegangenen Elite auf eine Leserschaft ausüben musste, die sich ihrerseits zu einer Art innerer Emigration gezwungen sah, u m im Schutz der Logen u n d Geheimgesellschaften ihr Projekt der A u f k l ä r u n g zu betreiben. Die Parallele zwischen den altägyptischen Weisen, die u n t e r der Erde den G o t t der Philosophen verehrten u n d an der Veredelung der Metalle, des eigenen Selbst u n d der menschlichen Gesellschaft arbeiteten, u n d den euro
päischen Freimaurern, die in ihren Logen das gleiche Projekt verfolgten, erschien so perfekt, dass sich die Freimaurer als Erben jener altägyptischen Priesteror
den fühlen k o n n t e n .
Aus dieser Konzeption der doppelten Religion als ei
nes k u l t u r i m m a n e n t e n nicht nur Pluralismus, son
dern A n t a g o n i s m u s allerschärfster Ausprägung, der zu völliger G e h e i m h a l t u n g zwang, folgte n u n eine Vorstellung des Einweihungsrituals, die Mozart auf
grund ihrer bedeutenden ästhetischen Implikationen fasziniert haben wird. Er war im Dezember 1784 der Loge „Zur Wohlthätigkeit" beigetreten und führte sei
nen Vater Leopold bei dessen Wienbesuch im Früh
jahr 1785 in die Schwesrerloge „ Z u r W a h r e n Ein
tracht" ein. Bei den Logensitzungen am 16. u n d 22.
April w u r d e Leopold in den Gesellen u n d Meister
stand a u f g e n o m m e n ; zu diesem Anlass hielt Bruder Anton Kreil zwei Vorträge, in denen er das erwähnte höchst lebendige Bild von d e m ägyptischen Priester
orden u n d seinen Z u s a m m e n h ä n g e n mit der neueren Freimaurerei entwarf. Sie w u r d e n u n t e r d e m Titel
Über die wissenschaftliche Maurerey a n o n y m im JF ( A n m . 9) veröffentlicht. Bisher schrieb m a n diese Ar
beit Ignaz von Born zu u n d e r k a n n t e daher nicht, dass sie aus den beiden Vorträgen hervorgegangen sein muss, die Kreil laut Protokoll Über szientifische Maurerey zur Gesellen u n d Meisterweihe Leopold Mozarts gehalten hat u n d bei d e n e n , ebenfalls laut Protokoll, auch Wolfgang Amadeus Mozart als besu
chender Bruder anwesend war.1 0
9 [ A n t o n Kreil], Über die wissenschaftliche Maurerey, JF 7, 1785, S. 4 9 - 7 8 .
10 Irmcn, Protokolle, S. 271, Nr. 374 vom 16. April 1785 und S. 272, Nr. 376 vom 22. April 1785. Irmen und Alexander Giese, der Herausgeber des Neudrucks des
7 6 4 Jan Assmann
Im Licht der freimaurerischen Mysterientheorie lässt sich n u n auch verstehen, was der scheinbare ,Bruch' in der Zauberflöte, der unvermittelte Umschlag vom M ä r c h e n z u m Mysterium, zu bedeuten hat. In der O p e r geht es u m die Konversion des Initianden, in die der Zuschauer m i t hineingezogen wird, weil er selbst zum Teilnehmer des Rituals wird; hier werden die Mysterien der Isis unmittelbar vollzogen, u n d das nicht erst im zweiten Teil, n a c h d e m sich die H a n d lung in ein scheinbares Ägypten verlagert hat, son
dern vom ersten Ton, von den geheimnisvollen fünf Akkordschlägen an, mit denen die Ouvertüre anhebt.
Schon da soll d e m Zuschauer klar werden, dass ihn kein Märchen erwartet — auch wenn die ersten Bilder alles tun, um ihn in die Irre zu führen. Die O p e r wan
delt sich nicht vom Märchen zum Mysterium, sondern ist als Ganzes ein Mysterium, in das die Märchenwelt der ersten Szenen in der Funktion der Jllusionierung' integriert ist. Die Illusion wird im weiteren Verlauf der O p e r zerstört, um der Wahrheit zu weichen. Das Besondere dieses dramaturgischen Kunstgriffs besteht darin, dass sich die Illusion auch im Zuschauer auf
baut: Er wird unwiderstehlich in das Einweihungs
geschehen hineingezogen u n d gewissermaßen selbst zum Neophyten. Auf der Bühne vollzieht sich ,in Echt
zeit' ein Ritual, an d e m der Zuschauer buchstäblich teilnimmt u n d das ihn im Innersten affiziert.
Interessant ist n u n , dass sich das U m d e n k e n oder die Konversion bei den Protagonisten ungleichzeitig abspielt. T a m i n o m a c h t den A n f a n g , er erweist sich schon bei der ersten P r ü f u n g als vollständig aufge
klärt. Diese besteht in dem Auftritt der drei D a m e n , die T a m i n o u n d Papageno vor den bösen Absichten der Priester warnen wollen ( I I / 5 , Q u i n t e t t o Nr. 12).
Vorher hatten die beiden Priester, die als Mystago
gen fungieren, den beiden Prüflingen in einem D u e t t eingeschärft, sich vor „Weibertücken" zu bewahren.
Dieses D u e t t ( I I / 3 , Nr. 11) h ö r t m a n im Licht der Mysterientheorie anders. Es entspricht einem orphi
schen H y m n u s , den schon W a r b u r t o n als Rede des H i e r o p h a n t e n an die N e o p h y t e n gedeutet hat. D o r t heißt es in einer Übersetzung des 18. Jahrhunderts:
„Hütet euch vor Vorurteilen und Leidenschaften, wel
che euch von d e m rechten Wege der Glückseligkeit entfernen werden."1 1Da Mozarts O p e r diese „Vorur
teile", die sich in der Mysterientheorie auf die illusio
nären Gottesvorstellungen der Volksreligion bezie
hen, durch die Königin der N a c h t u n d ihre Sphäre repräsentiert, werden sie hier als „Weibertücken" dar
gestellt.1 2
W ä h r e n d T a m i n o diese P r ü f u n g glänzend besteht, m a c h t Papageno eine eher klägliche Figur: Er wird die geforderte Konversion bis zum Schluss nicht voll
ziehen, sondern bleibt i m m e r derselbe, profane Cha
rakter. Er hält die exoterische Perspektive der Volks
religion auch im Bereich des Geheimnisses durch u n d sorgt dadurch für komische Kontraste zwischen innen u n d a u ß e n . Es gehört zu den W u n d e r n dieser O p e r n h a n d l u n g , dass der Mysterienernst des Rituals in Gestalt des Papageno durchgehend ironisiert und parodiert wird, o h n e dass Ernst u n d W i r k u n g der Mysterien dadurch im Geringsten beeinträchtigt wer
den. D u r c h die Einbeziehung der Justigen Figur' aus der Tradition des Wiener Volkstheaters gewinnt das Freimaurerritual vielmehr Z ü g e des barocken Welt
theaters hinzu. W i e steht es aber mit Paminas Kon
version? Sie wird sich am E n d e zu der neuen W i r k lichkeit d u r c h r i n g e n , b r a u c h t d a f ü r aber viel mehr Zeit als T a m i n o . In der Szene ihrer Begegnung mit ihm, in der er nicht mir ihr sprechen darf u n d die für ihn die zweite P r ü f u n g darstellt, k o m m t es daher zu einer tragischen Konfrontation.
U m diese Szene zu würdigen, müssen wir auf Schika
neders Verwandlungstechnik eingehen, die auf die Schnitttechnik des m o d e r n e n Films vorauszuweisen scheint. D u r c h den a b r u p t e n Wechsel von der einen zur anderen H a n d l u n g s e b e n e entsteht der Eindruck der Gleichzeitigkeit (siehe Tabelle).
W i r müssen uns vorstellen, dass die Szenen in den Spalten l , 3 u n d 5 gleichzeitig ablaufen. Sie zeigen die jeweiligen Prüfungssituationen der Liebenden, m denen sie getrennt sind. Ihnen folgt jeweils eine Szene
Journals für Freimaurer, schreiben d i e Rede [, v. Born zu
„anläßlich einer M e i s t e r e r h e b u n g " ( I n n e n , S. 2 6 ) , Giese setzt sogar n o c h hinzu: „Worte e i n e s Sarastro" (S. 71)
1 1 Grata Repoa, S. 8 f., mit Verweis auf Eusebius, I'raeparatio ev. 1.13 und C l e m e n s , Admonit. adgentes (Protreptikos)- 12 In einigen Rekonstruktionen wird der N e o p h y t aber auc
n o c h speziell w e i b l i c h e n , n ä m l i c h sexuellen Versuchun
gen ausgesetzt, u n d zwar durch „die Frauen der Priester, w e l c h e ( . . . ) ihn b e s u c h t e n u n d i h n a u f alle m ö g l i c h1
Weise zur Liebe reizten." (Crata Repoa, S. I I ) .
1 2 3 4 5 6 Pamina, in der Hand
des Monostatos, Erste Begegnung flieht mit Papageno
Tamino im Prüfungstempel
Zweite Begeg
nung: Taminos Schweigen
Pamina an der Schwelle des Selbstmords
Die letzte Begegnung
Tamino, von den
drei Knaben und sofortige geleitet, betritt Trennung den Tempelbezirk
Pamina in der Gartenlaube
Zweite Trennung und „letztes Lebewohl"
Tamino vor den
„Schreckens pforten"
und endgültige Vereinigung
des Wiederfindens und der erneuten Trennung. Das ist die S t r u k t u r des antiken Liebesromans, die hier äußerst geschickt mit der Ritualstruktur der Einwei
h u n g verknüpft ist: W ä h r e n d Pamina in ihrem „ägyp
tischen Z i m m e r " von M o n o s t a t o s eingesperrt u n d von Papageno befreit wird, wird T a m i n o von den drei Knaben in den Tempelgarten g e f ü h r t u n d begegnet dem alten Priester (Spalte 1); während Tamino u n d Papageno im Prüfungstempel die ersten Stationen ih
res Prüfungswegs beschreiten, schläft Pamina in ihrer Blumenlaube u n d empfängt den Besuch des M o n o statos, dann ihrer Mutter, zuletzt Sarastros (Spalte 3);
w ä h r e n d Pamina von den Knaben vor d e m Selbst
m o r d bewahrt wird, gelangt T a m i n o vor die „Schre
c k e n s p f o r t e n " seiner letzten P r ü f u n g (Spalte 5);
während Pamina und T a m i n o durch Feuer u n d Was
ser wandeln, will einerseits Papageno sich aufhängen u n d erhält mit Hilfe der drei Knaben endlich seine Papagena, andererseits versucht die Königin der Nacht mit ihrem Damengefolge und ihrem neuen Verbün
deten M o n o s t a t o s Sarastros Herrschaft zu stürzen.
Hier vollziehen sich die gleichzeitigen Vorgänge also sogar auf drei verschiedenen Handlungsebenen, ein schwindelerregendes Accelerando der Verwandlung, eine Art Showdown zum triumphalen Ende hin. Die .Schnitte' sind allesamt hart u n d extrem kontrastiv.
Zwischen Paminas „ägyptischem Z i m m e r " u n d d e m Tempelgarten, zwischen dem ruinösen Tempelvorhof und Paminas Blumenlaube, zwischen dem Garten, in dem sie und später Papageno sich das Leben n e h m e n wollen, u n d den „großen Bergen" mit Feuer u n d Wasser, die T a m i n o mit d e m Tod b e d r o h e n , liegen Welten, visuell und emotional. Mit ihren schon von Goethe gelobten scharfen Kontrasten ruft die Zauber
flöte geradezu nach filmischer Umsetzung.
U m n u n auf die Szene der zweiten P r ü f u n g zurück
z u k o m m e n , ergibt sich aus diesem Verständnis, dass Pamina sich im Zustand äußerster Angst u n d Des
o r i e n t i e r u n g zu T a m i n o flüchtet. H i n t e r ihr liegen die traumatische Begegnung mit ihrer M u t t e r , der Erpressungsversuch von Monostatos u n d die Hallen
arie Sarastros, der ihr mit seinem Eingreifen im letz
ten Augenblick das Leben gerettet hat. Was sie jetzt nötiger als alles andere braucht ist Trost u n d Z u w e n dung. T a m i n o ist ihre einzige H o f f n u n g , ihr einziger Lebenssinn. Aber er schweigt, winkt ihr, sich zu ent
fernen, verweigert jede Erklärung seines unbegreifli
chen Betragens. „O, das ist mehr als Kränkung, m e h r als Tod! Liebster, einziger Tamino!" Pamina kann sich Taminos Schweigen nur als Zeichen erkalteter Liebe erklären. Die gmollArie, die sie n u n a n s t i m m t (II/
18, Nr. 17), bietet alle Mittel affektiver Erschütterung auf, die Mozart zur Verfügung standen u n d welche standen ihm nicht zur Verfügung? Es fordert von T a m i n o ein M a ß an S e l b s t ü b e r w i n d u n g , angesichts dieser verzweifelten Wehklage s t u m m zu bleiben, wie es O r p h e u s in vergleichbarer Situation nicht aufge
bracht hatte. Die Szene erfüllt in der O p e r die Funk
tion der emotionalen Erschütterung der Initianden, zu denen wir, wie gesagt, auch die Z u h ö r e r zu rechnen haben. Sie bildet den emotionalen H ö h e p u n k t . D e r O r p h e u s M y t h o s ist ein durchgängiger Subtext der Zauberflöte. Auch in ihm geht es u m die verwan
delnde Kraft der Musik, die t o d ü b e r w i n d e n d e Kraft der Liebe und den Initiationsritus der Unterweltfahrt.
O r p h e u s ist der Heros der Mysterien, der sie aus Ägyp
13 Ingmar B e r g m a n , Die Zauberflöte ( 1 9 7 4 ) ; Bergman sah sich in s e i n e m g e l u n g e n e n Film allerdings zu U m s t e l l u n g e n einiger Szenen im zweiten Akt g e z w u n g e n , u m die Kontraste a b z u s c h w ä c h e n u n d vor allem den R h y t h m u s der V e r w a n d l u n g e n zu v e r l a n g s a m e n .
766 Jan Assmann
ten nach Griechenland gebracht haben soll. Sein My
thos steht aber nicht von ungefähr auch am A n f a n g der Operngeschichte; es ist der M y t h o s der Musik, u n d seine Dramatisierung durch Claudio Monteverdi und Alessandro Striggio bildet gewissermaßen die ,Ur
szene' des Musikdramas. An diese Urszene k n ü p f t die Zauberflöte an: Auch sie entfaltet den M y t h o s von der verwandelnden Kraft der Musik; auch Tamino be
zaubert m i t seiner Musik die wilden Tiere u n d be
zwingt die Schrecken der Unterwelt. In der entschei
denden Szene aber, in der O r p h e u s scheitert, beweist Tamino Besonnenheit. W ä h r e n d O r p h e u s mit Eurydi
ke sprechen, aber sie nicht ansehen darf, darf T a m i n o Pamina sehen, aber nicht mit ihr sprechen. Diese Szene ist der Form nachgebildet, die Gluck u n d Calz
abigi in der O p e r Orfeo ed Euridice (1762) d e m Mythos gegeben haben. Hier deutet Euridice die Tat
sache, dass O r f e o sich nicht nach ihr umsieht, als Zeichen erkalteter Liebe u n d will, wie Pamina, den Tod vorziehen. T a m i n o gelingt es jedoch, anders als O r p h e u s , sich in dieser Situation zu beherrschen u n d zu schweigen.
Sowohl diese Szene als auch das bald darauf folgen
de Terzett (11/21, Nr. 19) von Pamina, T a m i n o u n d Sarastro m i t d e m „letzten Lebewohl" versteht m a n nur, wenn m a n sich klar macht, dass Pamina noch in ihrer alten W i r k l i c h k e i t s k o n s t r u k t i o n befangen ist, also T a m i n o s Konversion noch nicht vollzogen hat.
Für sie ist Sarastro noch i m m e r undurchsichtig, den Priestern traut sie nicht, die P r ü f u n g e n hält sie f ü r ein böses K o m p l o t t , u n d die W e n d u n g „das letzte Lebewohl" kann sie nicht anders denn als eine finstere D r o h u n g verstehen. Das Terzett stellt in den Augen der meisten Interpreten der Zauberflöte ein schweres dramaturgisches Problem dar. D e n n w a r u m spricht Pamina ihren T a m i n o nicht auf sein ihr so unver
ständliches, sie so tief kränkendes Schweigen an, und w a r u m will sie sich nach dieser im Ganzen doch tröst
lichen Begegnung das Leben nehmen? Was soll über
haupt dieses Lebewohl mitten in der Sequenz der Prü
fungen? Dieser scheinbaren Unlogik versuchen viele A u f f ü h r u n g e n durch Umstellungen zu entgehen. Wir müssen also fragen, w a r u m Mozart u n d Schikaneder das Terzett dort, wo es steht, eingefügt haben. Seine dramaturgische F u n k t i o n ergibt sich aus der bisher nicht erkannten Ritualstruktur der Handlung. Mozart
und Schikaneder k o m m t es darauf an, die ersten bei
den Prüfungen, bei denen Papageno noch dabei ist, u n d die letzte P r ü f u n g , zu der T a m i n o n u r allein, d a n n aber auf eine das Ritual revolutionierende und die Priester selbst überraschende Weise z u s a m m e n mit Pamina zugelassen ist, durch eine starke Zäsur voneinander abzusetzen. In der Mysterientheorie ent
spricht diese Zäsur der Unterscheidung zwischen den kleinen u n d den großen Mysterien. Die großen My
sterien weihen den von seinen Vorurteilen u n d Lei
denschaften gereinigten Mysten z u m E p o p t e n , zum Erleuchteten („erleuchtet wird er d a n n im Stande sein, sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn").
u n d werden n u r den stärksten u n d reifsten Naturen zuteil. Das Terzett markiert die Zäsur; dadurch, dass n u n auch Pamina den Schleier der Initianden erhält, wird das Geschehen deutlich auf eine neue Stufe ge
hoben. Papageno n i m m t an keiner der folgenden Prü
fungen mehr teil, er b e k o m m t kurz vor Schluss noch einen Auftritt und seine Papagena, aber aus dem Ritu
algeschehen ist er ausgeschieden. W ä h r e n d Tamino, n u n o h n e Papageno, auf diesem Weg voranschreitet, versucht die verzweifelte Pamina, sich das Leben zu nehmen, und ringt sich schließlich ihrerseits mit Hil
fe der drei Knaben zur Wahrheit durch. N u n k o m m t es, nach der dritten Trennung, zur endgültigen Verei
nigung. Pamina vereinigt sich mit Tamino zur letzten lebensgefährlichen P r ü f u n g , ja m e h r noch: Sie fasst ihn bei der H a n d u n d ü b e r n i m m t die F ü h r u n g . Wie wir sehen, prägt sich die Mysterienkonzeption der Freimaurer sehr deutlich im Aufbau der O p e r aus. Das Ritual der Einweihung in die Mysterien, wie es sich aus der antagonistischen Konzeption der doppelten Reli
gion ergab, sieht drei Stufen vor, deren Reihenfolge in den einzelnen Rekonstruktionen schwankt. Die eine Sture bestand in der Befreiung des N e o p h y t e n von den Vorurteilen u n d Irrlehren der Volksreligion, also in Aufklärung im eigentlichen Sinne. Die andere Stu
fe bestand in P r ü f u n g e n , die den Novizen schweren e m o t i o n a l e n Erschütterungen aussetzen u n d bis an den Rand einer Todeserfahrung führen mussten, um seine Seele für den E m p f a n g der Wahrheit vorzuberei
ten, die als letzte Stufe an die Stelle der Irrtümer tre
ten sollte. Bei W a r b u r t o n stehen die Reinigungen, P r ü f u n g e n u n d Belehrungen am A n f a n g u n d bilden die kleinen Mysterien, während die Desillusionierung
des Neophyten am Anfang der großen Mysterien steht.
In der Zauberflöte dagegen gehört die Desillusionie
rung, die Befreiung Taminos von den falschen Vorstel
lungen, die ihm die Königin der Nacht eingeflößt hat, zu den allerersten, den Prüfungen der kleinen Myste
rien noch vorausgehenden Reinigungen. Die dritte und letzte Stufe, die nur den zur Ausübung des Herrscher
amts bestimmten N a t u r e n vorbehalten war, bestand d a n n in der Schau der entschleierten Wahrheit.
Die Zauberflöte ist nichts anderes als eine ästhetische Performanz der freimaurerischen Mysterienkonzep
tion, deren genaue U m s e t z u n g in ein musiktheatra
lisches Kunstwerk. Die G l i e d e r u n g der O p e r in vier Teile spiegelt dies wieder; sie ist musikalisch sowohl durch die Unterscheidung von Nummernfolge mit ge
sprochenen Dialogen einerseits u n d ungefähr gleich langen, d u r c h k o m p o n i e r t e n Finali o h n e gesprochene Dialoge andererseits, sowie durch die Tonartenver
teilung angezeigt. Die Teile enden immer in der Ton
art, in der sie beginnen, also E s D u r (1. Teil), C D u r (2. Teil), F D u r (3. Teil) u n d wieder E s D u r (4. Teil);
(siehe Tabelle).
Akt Teil Tonart
1 1 Ouvertüre und N u m m e r n 1 („Introduction") bis 7
(Duetto „Bei Männern"): Es Dur 2 N u m m e r 8: 1. Finale: C Dur II 3 N u m m e r n 9 (Marcia) bis 20
(Aria „Ein Mädchen") F Dur
4 N u m m e r 21: 2. Finale: Es Dur
Jeder dieser vier Teile bildet einen Abschnitt des Prü
fungsweges „durch Nacht zum Licht". Der erste Teil, die Welt der Königin der N a c h t , vertritt die Illusio
nierung. W i e schon e r w ä h n t , werden d e m Helden u n d mit ihm dem Publikum die falschen Vorstellun
gen vermittelt, von denen er u n d es sich im Verlauf der Einweihung befreien müssen. Die Königin der Nacht erscheint ihm u n d uns auf ihrer Mondsichel als Isis, die H i m m e l s k ö n i g i n , u n d in ihrer Trauer u m die ge
raubte Tochter als Demeter, die in der Antike u n d im 18. Jahrhundert mit Isis gleichgesetzt wurde. Ihre Dar
stellung des „Bösewichts" Sarastro u n d der verbre
cherischen E n t f ü h r u n g ihrer Tochter erscheint als lau
tere Wahrheit. Diese Perspektive wird so weit durch
geführt u n d mit dem letzten Bild dieses Abschnitts, in d e m wir die von M o n o s t a t o s b e d r o h t e Pamina erblicken, so stark bestätigt, dass sich im Zuschauer präzise E r w a r t u n g e n z u m Fortgang der H a n d l u n g bilden. Diese werden im zweiten u n d dritten Teil gründlich enttäuscht. Die Zuschauer müssen genau so u m d e n k e n wie T a m i n o u n d einen entsprechenden Perspektivenwechsel vollziehen. D e r zweite Teil zeigt in der Sprecherszene (1/15) die Desillusionierung des Helden. T a m i n o sieht ein, dass er die Vorstellungen über Sarastro aufgeben muss, die ihm die Königin der Nacht eingeflößt hat, u n d dass er, um Pamina zu erringen, den Weg der Einweihung betreten muss.
Pamina b r a u c h t m e h r Zeit, u m sich zu dieser Per
spektive zu bekehren; so wird auch das Publikum in der Schwebe gehalten. Der dritte Teil ist den kleinen Mysterien gewidmet, zu denen auch Papageno zuge
lassen ist. Sie bestehen in Schweigeprüfungen: In der ersten müssen die Prüflinge gegenüber den Einflüste
rungen der drei D a m e n schweigen, die sie zu ihrer ur
sprünglichen Sicht rekonvertieren u n d vom Pfad der E i n w e i h u n g beziehungsweise der Tugend abbringen wollen; in der zweiten P r ü f u n g geht es u m Schweigen gegenüber der Geliebten.
D e n großen Mysterien ist der vierte u n d letzte Teil gewidmet. Nach der Mysterientheorie konfrontieren sie den N e o p h y t e n mit den „Schrecken des Todes", denen er standhalten k ö n n e n muss, u m seine Seele z u m E m p f a n g der W a h r h e i t beziehungsweise in der Zauberflöte d e m Blick ins H e i l i g t u m des G r ö ß t e n Lichts vorzubereiten. Das geschieht bei d e m G a n g durch Feuer u n d Wasser, zu dem sich gegen jede Regel u n d Erwartung T a m i n o u n d Pamina vereinigen. Für den Gesang der G e h a r n i s c h t e n , die T a m i n o die In
schrift über den Schreckenspforten vorlesen, verwen
det Mozart einen lutherischen Choral u n d behandelt ihn im reinsten Stil Johann Sebastian Bachs als Cantus firmus über einer fugierten Begleitung, u m durch die Verwendung einer musikalischen .Fremdsprache' die Fremdsprachlichkeit der hieroglyphischen Inschrift auszudrücken. Aber auch Pamina und Papageno wer
den durch ihre versuchten Selbstmorde an die Schwel
le des Todes geführt u n d so auf die Einweihung vorbe
reitet, die Pamina im vollen, Papageno jedoch nur im profanen Sinne gewährt wird; er b e k o m m t Papagena
7 6 8 Jan Assmann
u n d gehört n u n zu dem Volk, das von den Priestern weise regiert wird.
D a m i t ist aber nur der eine von zwei Handlungssträn
gen erfasst; die O p e r n h a n d l u n g entwickelt sich näm
lich in der Verflechtung von Taminos Initiationsweg u n d dem Schicksal der beiden Liebenden beziehungs
weise von Bildungsroman u n d Liebesroman. Das O r p h e u s T h e m a gehört in den Z u s a m m e n h a n g des Liebesromans, der d a d u r c h die T h e m e n Musik u n d Liebe verknüpft die für die O p e r zentral sind, aber in der Mysterienkonzeption keine Rolle spielen (siehe Tabelle).
W i r verstehen n u n besser die ungewöhnliche Kom
plexität des Handlungsaufbaus, die zur romantischen BruchHypothese u n d zur postmodernen Patchwork
Theorie geführt hat. In dem zum ästhetischen Kunst
werk transformierten Ritual oder Mysterium, das die Zauberflöte inszeniert, der Einweihung in die Myste
rien der Isis, geht es um W a n d l u n g u n d Veränderung u n d d a m i t u m Ambivalenzen, Kontraste u n d W i d e r sprüche. Zweifellos gibt es k a u m ein Kunstwerk, das die Devise „Wer vieles bringt, wird m a n c h e m etwas bringen" treffender u n d erfolgreicher verkörpert als die Zauberflöte, aber das schließt hier genauso wenig wie bei Goethes Faust die Möglichkeit aus, dass mehr dahintersteckt als eine von H a u s aus synkretistische Theatertradition. D a m i t ziele ich nicht auf den Begriff
Aufzug Teil Ritualstruktur Liebesroman
1 1
Taminos lllusionierung
,Amour naissant':
die Entstehung der Liebe durch den Anblick eines Bildes
2 Taminos Des- illusionierung
Erste B e g e g n u n g und Trennung der Liebenden
II 3 Die kleinen Mysterien
Zweite Begeg
nung: Orpheus
Tamino widersteht, PaminaEurydike verzweifelt;
zweite Trennung
4 Die großen
Mysterien
Dritte B e g e g n u n g und endgültige Vereinigung
der , A u t o r i n t e n t i o n \ der bei einem Autorenkollektiv ganz besonders problematisch ist; es geht ja hier um Mozart u n d Schikaneder, u n d der N a m e Schikaneder steht wie bei seinen anderen Bühnenwerken für eine Z u s a m m e n a r b e i t , bei der auf die eine oder andere Weise auch der notorische Karl Ludwig Giesecke be
teiligt war.1 4Vielmehr würde ich an Schillers Begriff der „Totalidee" erinnern, den er in einem Brief an G o e t h e vom 27. März 1801 entwickelt: „ O h n e eine solche d u n k l e aber mächtige Totalidee, die allem Technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen, u n d die Poesie, d ä u c h t mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mitteilen zu k ö n n e n , das heißt es in ein O b j e k t zu übertragen." '*
Dieser Begriff hat im Unterschied zur ,Autorinten
tion' den großen Vorteil, auch die Anteile des Unbe
wussten („jenes Bewußtlose") am kreativen Prozess in R e c h n u n g zu stellen. Was die hinter der Zauberflöte stehende u n d in ihr objektivierte Totalidee angeht, so sehe ich das ausschlaggebende Motiv in der Mysterien
faszination des späten 18. J a h r h u n d e r t s .1 6An dieser Idee muss freilich Mozart einen unendlich größeren Anteil als Schikaneder gehabt haben. N u r Mozart war mit der Mysterienforschung der Freimaurer so eng vertraut, dass sich in ihm die Idee einer (gewiss „teut
schen") Mysterienoper bilden k o n n t e . Als im Früh
jahr 1791 Schikaneder mit seinem Plan einer musik
theatralischen U m s e t z u n g von Z a u b e r m ä r c h e n aus Wielands Dschinnistan an Mozart herantrat, muss das bei diesem auf fruchtbaren Boden gefallen sein u n d seine gewiss seit Jahren schwelenden Pläne zur alsbaldigen Kristallisation geführt haben. Schikaneder w i e d e r u m gehörte in Regensburg f ü r sechs Monate einer Freimaurerloge an (bis er wegen seiner Liebes
affären relegiert wurde) u n d war seinerseits eingeweiht genug, um Mozarts Ideen aufgreifen u n d umsetzen zu k ö n n e n . In dieser D e u t u n g sehe ich zwar eine
14 D i e These, dass das T e x t b u c h der Zauberflöte ganz oder teilweise n i c h t v o n Schikaneder, sondern v o n Giesecke s t a m m t , w u r d e v o n Julius C o r n e t 1849 ( a u f g r u n d einer B e h a u p t u n g v o n Giesecke selbst) in die Welt gesetzt, vo O t t o Jahn in seiner maßgeblichen M o z a r t h i o g r a p h i e au gegriffen u n d v o n W o l f g a n g Hildesheimer neu a u f g o ß1' 15 Z i t . nach Knepler, S. 3 5 1 .
16 V g l . Assmann, bes. S. 8 3 121, 1 4 7 1 6 6 , 2 0 7 2 3 0
plausible Lösung des ästhetischen Problems, das die Zauberflöte in den Augen auch der Gebildeten unter ihren Verächtern darstellt, aber nicht die Lösung des Rätsels. Das Rätsel Zauberflöte möchte ich lieber un
angetastet lassen. Die Zauberflöte ist eine Hierogly
phe' im Sinne des 18. Jahrhunderts, die ihre ästheti
sche u n d intellektuelle Faszination gerade aus ihrer u n e r g r ü n d l i c h e n B e d e u t u n g bezieht.
B I B L I O G R A P H I E
A s s m a n n , Jan: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, M ü n c h e n 2 0 0 5
Berk, M . F. M . , van den: The Magic Flute. An Alchemical Alle
gory, Leiden 2 0 0 4
Borchmeyer, Dieter: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, F r a n k f u r t / M . 2 0 0 5
Braunbehrens, Volkmar: Mozart in Wien, M ü n c h e n 1 9 8 6
Chailley, Jacques: La flute enchante'e, opera maconnique. Essai d'explication du livret et de la musique, Paris 1 9 6 8 , 4 . Aufl. 1991 Claudius, Matthias: Geschichte des egyptischen Königs Sethos, Breslau 1 7 7 7 / 7 8
Grata Repoa [= Koppen, Carl Friedrich]: Crata Repoa oder Ein
weihungen in der alten geheimen Gesellschaft der egyptischen Priester, Berlin 1 7 7 8
G i e s e , Alexander: „Freimaurerisches Geistesleben zur Zeit der Spätaufklärung am Beispiel des Journals für Freymaurer" (=
Bibliotheca Masonica. D o k u m e n t e und Texte zur Freimaurerei, hrsg. v o n Friedrich G o t t s c h a l k , Teil 2), Graz 1 9 8 8 , S. 1 1 3 1 G o e t h e , J o h a n n W o l f g a n g von: Briefwechsel mit Friedrich Schiller (= G e d e n k a u s g a b e der Werke, Briefe u n d Gespräche / J o h a n n W o l f g a n g G o e t h e , Bd. 2 0 ) , Z ü r i c h 1 9 6 4
G u m b r e c h t , H a n s Ulrich: Diesseits des Sinns. Über eine neue Sehnsucht nach Substantialität, in: Merkur 5 9 , S e p t . / O k t . 2 0 0 5 , S. 7 5 1 7 6 1
Ders.: Production of presence: what meaning cannot convey, Stanford 2 0 0 4
Ensen, H e i n z Josef: Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge .Zur Wahren Eintracht" (17811785), F r a n k f u r t / M . / Bern / N e w York etc. 1 9 9 4
Ders.: Mozart, Mitglied geheimer Geselbchafien, 2. Aufl., Z ü l pich 1991
Jung, Johann Heinrich, gen. Stilling: Das Heimweh, Marburg 1 7 9 4 1 7 9 6
Knepler, Georg: Wolfgang Amade Mozart, Berlin 1991 Krämer, Jörg: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahr
hundert, T ü b i n g e n 1 9 9 8
L a n d o n R o b b i n s , H o w a r d C h a n d l e r : Mozart and the Masons.
New Light on the Lodge .Crowned Hope', L o n d o n / N e w York 1 9 8 2
Meiners, C h r i s t o p h : Uber die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse, in: Vermischte philosophische Schriften III, G ö t t i n g e n 1 7 7 6
N e t t l , Paul: Musik und Freimaurerei. Mozart und die könig
liche Kunst, E s s l i n g e n 1 9 5 6
Perl, H e r m a n n : Der Fall „Zauberflöte". Mozarts Oper im Brenn
punkt der Geschichte, D a r m s t a d t 2 0 0 0
R o m m e l , O t t o : Die AltWiener Volkskomödie. Ihre Geschich
te vom barocken WeltTheater bis zum Tode Nestroys, W i e n 1 9 5 2
R o s e n b e r g , A l f o n s : Die Zauberflöte. Geschichte und Deutung von Mozarts Oper, M ü n c h e n 1 9 7 2
Schuler, H e i n z : Vom Zauber der Zauberflöte, im Selbstverlag der Ateliers des Schottischen Ritus in Essen, Ruhr 2 0 0 3 Strebel, Harald: Der Freimaurer Wolfgang Amade Mozart, Stäfa 1 9 9 1
[Terrasson, A b b e Jean]: Sethos. Histoire ou vie, tiree des monu
ments, Anecdotes de l'ancienne Egypte; Ouvrage dans lequel on trouve la description des Initiations aux Mystires £gyptiens,
traduit d ' u n m a n u s c r i t Grec. 1 7 3 1 , n o u v e l l e e d i t i o n , corrigee sur l'exemplaire de l'auteur, Paris 1 7 6 7
Wagner, Guy: Bruder Mozart, Freimaurer im Wien des 18. Jahr
hunderts, W i e n / M ü n c h e n / Berlin 1 9 9 6
W a r b u r t o n , W i l l i a m : The divine legation of Moses demonstra
ted on the principles of a religious deist, from the Omission of the doctrine of a future State of reward and punishment in the Jewish dispensation, London 1 7 3 8 1741