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Rechtsanwalt Christian auf der Heiden*

Prozessrecht in Zeiten der Corona-Pandemie

Im Fokus der Diskussion um den Umgang mit der Covid-19- Pandemie stehen bisher medizinische und wirtschaftliche Pro- bleme. Die Krise wirft jedoch auch zahlreiche gewichtige Rechtsfragen auf, die – zumindest für Juristen – nicht minder drängend sind und deren Beantwortung bislang aussteht. Der Aufsatz bietet einen prozessrechtlichen Überblick und eine erste Einschätzung der insoweit denkbaren Problemlagen.

I. Einführung

Am 30.1.2020 hat die World Health Organization (WHO) eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite iSv Art. 12 IGV1wegen der Verbreitung der durch das SARS- CoV-22verursachten Atemwegserkrankung Covid-193fest- gestellt.4Noch am selben Tag hat das Bundesministerium für Gesundheit, gestützt auf§15 InfektionsschutzG (IfSG), für die Zeit vom 1.2.2020 bis 31.1.2021 eine Meldepflicht ver- ordnet (§1 CoronaVMeldeV).5Seit dem 11.3.2020 charakte- risiert die WHO die Ausbreitung als pandemisch.6 Einige Institutionen auf EU-7und Bundesebene8haben Empfehlun- gen abgegeben und teilweise auch rechtliche Regelungen ge- schaffen. Diese Spezialnormen und auch die völkerrecht- lichen Regelungszusammenhänge sollen an dieser Stelle aus- geklammert und vielmehr die verfahrensrechtlich relevanten Vorschriften des IfSG und des Prozessrechts, die im Fall von Epidemien und Pandemien bedacht werden sollten, in den Blick genommen werden. Dabei kann es nicht um eine tages- aktuelle Bewertung der rechtlich relevanten Ereignisse gehen, die einen angesichts der Informationsflut den Blick für das Wesentliche verlieren lässt.9Vielmehr sollen die prozessrecht- lichen Schwierigkeiten in Fällen von Katastrophen im All- gemeinen und Pandemien im Besonderen herausgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund künftig häufiger zu erwarten- der Epidemien10ist eine Beschäftigung mit den einschlägigen Regelungen am Beispiel der Covid-19-Pandemie lohnend.

II. Schutzmaßnahmen nach dem Infektionsschutz- gesetz

Nach dem IfSG können allgemeine und besondere Maßnah- men zur Verhütung (§§16–23 a IfSG) bzw. Bekämpfung (§§24–32 IfSG) übertragbarer Krankheiten getroffen wer- den. Eine zentrale Vorschrift ist§28 IfSG, nach der insbeson- dere die in den§§29–31 IfSG bezeichneten Schutzmaßnah- men ergriffen werden können, wenn Kranke, Krankheitsver- dächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider11 fest- gestellt werden. Zwischenzeitlich allgemein bekannt sind Beschränkungen oder Verbote von Veranstaltungen oder sonstigen Ansammlungen einer größeren Anzahl von Men- schen (§28 I 2 IfSG), die Beobachtung von Personen (§29 IfSG) oder die Absonderung im Krankenhaus oder zu Hause (§30 I 2 IfSG, sog. Quarantäne). In Betracht käme überdies aber auch ein „berufliches Tätigkeitsverbot“ (§31 IfSG).

III. Präventive Maßnahmen

Abgesehen von diesen genuin der Unterbindung einer wei- teren Erregerverbreitung dienenden Vorschriften des IfSG enthalten auch die Prozessordnungen einige Möglichkeiten zu einem präventiven Vorgehen.12Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die maßgeblichen Regelungen der ZPO

durch Verweise13 bzw. analoger Anwendung grundsätzlich rechtswegübergreifend Geltung beanspruchen.

1. Sitzungspolizeiliche Maßnahmen

Gemäß §176 I GVG obliegt dem Vorsitzenden die so ge- nannte Sitzungspolizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung.

Die Ordnung ist hierbei nicht nur in der Sicherung des un- gestörten Verlaufs der Verhandlung zu sehen.14 Der Vorsit- zende hat vielmehr zur Aufrechterhaltung der Ordnung (alle)

„erforderlichen Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermes- sen zu treffen“, wozu er vorab prüfen muss, „ob eine Beein- trächtigung der Ordnung der Sitzung durch das Verhalten eines Prozessbeteiligten oder Zuschauers überhaupt vorliegt oder konkret zu besorgen ist“15. Kurzum berechtigt die Ge- neralklausel „zu sämtlichen geeigneten, erforderlichen und im engeren Sinne verhältnismäßigen Anordnungen hinsicht- lich der Sicherung der Durchführbarkeit und Durchführung“

der Sitzung.16 Aufgrund des weitgefassten (An-)Ordnungs- begriffs dürften auch infektionsschützende Maßnahmen grundsätzlich als sitzungspolizeiliche Anordnung in Betracht kommen. Das SchweizBundesstrafG hat beispielsweise die Körpertemperatur von Beteiligten im „Fifa-Fall“ messen las- sen;17 ob ein solcher Eingriff nach deutschem Recht von

* Der Autor ist Rechtsanwalt in Karlsruhe.

1 Vgl. Gesetz zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) v.

20.7.2007, BGBl. 2007 II 930 (942 f.).

2 Severe acute respiratory syndrome-related coronavirus, vgl. Gorbale- nya et al. Nat Microbiol (2020), https://doi.org/10.1038/s41564-020- 0695-z (alle zitierten links zuletzt abgerufen am 25.3.2020).

3 Corona virus disease 2019.

4 Https://www.who.int/news-room/detail/30-01-2020-statement-on-the- second-meeting-of-the-international-health-regulations-(2005)-emer- gency-committee-regarding-the-outbreak-of-novel-coronavirus-(2019- ncov).

5 BAnz AT 31.1.2020 V1.

6 Vgl. WHO, Situation report 51 v. 11.3.2020, https://www.who.int/

emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports.

7 Vgl. ECDC, VO (EG) Nr. 851/2004 v. 21.4.2004. https://

www.ecdc.europa.eu/en/novel-coronavirus-china.

8 Links zu den wichtigsten Regelungen finden sich auf der Seite des Robert Koch-Instituts (RKI): https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/

Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html. Alle nachfolgend angeführten In- formationen des RKI sind dieser Website entnommen.

9 Zwischenzeitlich hat die aktuelle Pandemie auch die Rechtsprechung befasst: Vgl. nur VG Bayreuth Beschl. v. 11.3.2020 – B 7 S 20.223, BeckRS 2020, 3610; VG Minden Beschl. v. 12.3.2020 – 7 L 212/20, BeckRS 2020, 3592; VG Stuttgart Beschl. v. 14.3.2020 – 16 K 1466/

20, BeckRS 2020, 3739; BVerfG, Beschl. v. 19.3.2020 – 2 BvR 474/20, BeckRS 2020, 3985 (Ablehnung einer einstweiligen Anordnung betref- fend die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wegen Gefahr einer Corona-Infektion); BVerfG Beschl. v. 20.3.2020 – 1 BvR 661/20, BeckRS 2020, 4022 (Ablehnung einer einstweiligen Anordnung, gerich- tete gegen ein infektionsschutzrechtliches Versammlungsverbot).

10 So die Prognose des Virologen Jonas Schmidt-Chanasit, vgl. Heine- mann Welt v. 4.2.2020, https://www.welt.de/print/die_welt/wissen/arti- cle205575115/Ein-Virus-als-Gluecksfall.html.

11 Die Begriffe sind in§2 IfSG legaldefiniert.

12 Eine Anregung gibt das BVerfG mit seinen „Maßnahmen zur Aufrecht- erhaltung der Funktionsfähigkeit des BVerfG“, vgl. Pressemitt.

Nr. 19 a/2020 v. 18.3.2020.

13 ZB§113 I FamFG;§§55, 173 S. 1 VwGO;§§4, 155 S. 1 FGO;§§9 II 1, 46 II 1, 64 VI 1, 72 V, 77 S. 4, 78 S. 1 ArbGG;§§66 I, 202 S. 1 SGG.

14 Vgl. BVerfG NJW 2007, 56.

15 BVerfG NJW 2007, 56.

16 MüKoStPO/Kulhanek, 2018,§176 GVG Rn. 10.

17 Knellwolf/Boss, Der Bund v. 9.3.2020, https://www.derbund.ch/

schweiz/standard/wegen-coronavirus-fifaprozess-wird-vertagt/story/

27188007.

(2)

§176 GVG gedeckt wäre, mag fraglich sein. In jedem Fall problematisch ist jedoch das ebenfalls naheliegende Tragen von Atemschutzmasken.

a) Anordnung des Tragens. Am AG Hagen soll ein Richter das Tragen von „Atemschutzmasken“ angeordnet und für Fälle von Zuwiderhand- lungen sitzungspolizeiliche Maßnahmen angedroht haben.18Vor dem Hintergrund der Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI), nach denen Atemschutzmasken nicht einmal pauschal für das Gesundheits- wesen oder bei Massenansammlungen im öffentlichen Verkehr angera- ten werden, erscheint die allgemeinverfügungsähnliche Anordnung reichlich überzogen. Abgesehen davon wäre im Einzelfall zu prüfen, ob die Ordnung durch das Verhalten eines Anwesenden „konkret“ über- haupt gefährdet ist, was nur dann verfahrensfehlerfrei bejaht werden könnte, wenn ein Anwesender krank, krankheits- oder ansteckungsver- dächtig iSd IfSG wäre.

b) Verbot des Tragens. Ähnlich dürfte es sich auch im umge- kehrten Fall verhalten: Das Tragen der Atemschutzmaske wird nicht vom Vorsitzenden angeordnet, sondern von einer an „der Verhandlung beteiligten Person“ gewünscht.19Hier- bei ist§176 II 1 GVG in den Blick zu nehmen, nach dem es verboten ist, das „Gesicht während der Sitzung“ ganz oder teilweise zu verhüllen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll sich die Verbotsregelung „auf sämtliche Formen der Gesichts- verhüllung erstrecken, unabhängig davon, ob diese religiös motiviert sind oder nicht“20. Mit „Gesichtsverhüllung“ soll

„die Verwendung von Textilien und anderen Gegenständen“

gemeint sein, „die dazu dienen, das Gesicht oder Teile dessel- ben zu verdecken“, wobei Masken oder medizinische Ver- bände exemplarisch in den Gesetzesmaterialien angeführt werden.21 Das Tragen von Atemschutzmasken dürfte damit grundsätzlich nach§176 II 1 GVG in der Verhandlung ver- boten sein. Hiervon kann der Vorsitzende aber Ausnahmen gestatten, „wenn und soweit die Kenntlichmachung des Ge- sichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdi- gung notwendig ist“ (§176 II 2 GVG). Sollte der Beteiligte krank, krankheits- oder ansteckungsverdächtig sein, könnte dem Infektionsrisiko während der Identitätsfeststellung oder Vernehmung bzw. Anhörung durch Einhaltung eines Min- destabstands von zwei Metern Rechnung getragen werden.22 2. Ausschluss der Öffentlichkeit?

Im bereits erwähnten, vor dem SchweizBundesstrafG ver- handelten Fall soll das Gericht außerdem wegen der Pande- mie die Öffentlichkeit ausgeschlossen haben,23weshalb sich die Frage aufdrängt, ob ein solches Vorgehen auch in Deutschland möglich wäre.

Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich (§169 I 1 GVG). Dieser Verfassungsgrundsatz der Öffentlich- keit mündlicher Verhandlungen leitet sich vom Rechtsstaats- prinzip ab.24Die Gerichtsöffentlichkeit soll die Einhaltung des formellen und materiellen Rechts gewährleisten und hierzu Einblick in die Funktionsweise der Rechtsordnung ermögli- chen, was seinerseits zur Gewährleistung von Verfahrens- gerechtigkeit beitragen soll.25Der Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos, weil einer unbegrenzten Öffentlichkeit der Ver- handlung gewichtige Interessen gegenüberstehen, insbesonde- re die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege sowie die un- gestörte Wahrheits- und Rechtsfindung.26 Dem Öffentlich- keitsgrundsatz sind noch nicht die Modalitäten zu entnehmen, unter denen die Öffentlichkeit zugelassen oder ganz oder teil- weise ausgeschlossen wird.27 §172 GVG sieht Ausschluss- gründe vor, wobei in dem hier interessierenden Zusammen- hang§172 Nr. 1 und §172 Nr. 1 a GVG zu untersuchen sind.

a) §172 Nr. 1 GVG. Den Ausschluss der Öffentlichkeit sieht §172 Nr. 1 GVG vor, „wenn eine Gefährdung der

Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der Sittlich- keit zu besorgen ist“.

Das Merkmal Gefährdung der Staatssicherheit (§172 Nr. 1 Var. 1 GVG) wird üblicherweise nur mit inhaltlichen Umständen identifiziert (zB Amtsgeheimnisse), deren Offenbarung in der Verhandlung die innere oder äußere Sicherheit iSv§92 III Nr. 2 StGB gefährden könnte.28Selbst wenn man den Begriff weiter fassen und auch eine Seuche als Gefahr für die innere Sicherheit ansehen wollte, dürfte aber eine Infektion gleich mehrerer als Öffentlichkeit teilnehmender Personen mit SARS-CoV-2, welches eine Basisreproduktionszahl von „nur“ 2,4–3,3 bei einer mäßi- gen Letalität hat,29keinesfalls als staatsgefährdend qualifiziert werden.

Selbst wenn die Pandemie eine Gefährdung der Staatssicherheit darstel- len sollte, so ist es jedenfalls für sich genommen nicht die Infektion eines (kleinen) an der Verhandlung teilnehmenden Personenkreises.

Unter dem weit gefassten Begriff der Gefährdung der öffent- lichen Ordnung (§172 Nr. 1 Var. 2 GVG) werden bisher nur erhebliche, von Menschen vorsätzlich verursachte Stö- rungen verstanden.30Daher dürfte es zu weit gehen, hierun- ter auch die Teilnahme von Personen zu fassen, die nur krankheits- oder ansteckungsverdächtig sind.

b)§172 Nr. 1 a GVG. Für einen Ausschluss der Öffentlich- keit nach§172 Nr. 1 a GVG bedarf es der „Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person“. Die Vorschrift sollte nur klarstellende Funktion haben und die früher von der Rechtsprechung unter Gefährdung der öffentlichen Ordnung geführte Gefahr für Leib und Leben eines Zeugen aufnehmen.31 Auch hier ergibt sich nichts anderes, wenn man die Vorschriften ent- gegen der Intention des Gesetzgebers auf Infektionen erstre- cken wollte. Denn eine konkrete Gefährdung des Lebens oder Leibes kann bei der Teilnahme von krankheits- und ansteckungsverdächtigten Personen an der Verhandlung, je- denfalls bei SARS-CoV-2, durch gezielte Vorkehrungen (Händehygiene, Abstandsregelung), vermieden werden.

c) Gesetzlich nicht erfasste unabweisbare Bedürfnisse der Rechtspflege. Die Öffentlichkeit wird aber in Zeiten einer Pandemie wegen unabwendbarer Notwendigkeiten der Jus- tiz zumindest teilweise ausgeschlossen werden können. Der Grundsatz der Öffentlichkeit kann nämlich „auch durch gesetzlich nicht erfasste unabweisbare Bedürfnisse der Rechtspflege modifiziert werden“32. Hierzu zählt das BVerfG „die Notwendigkeit, durch geeignete vorbeugende Maßnahmen für eine sichere und ungestörte Durchführung der Verhandlung zu sorgen“33. In diesem Bereich erachtet es

„Maßnahmen, die den Zugang zu einer Gerichtsverhandlung nur unwesentlich erschweren und dabei eine Auswahl der Zuhörerschaft nach bestimmten persönlichen Merkmalen vermeiden“ für zulässig, „wenn für sie ein verständlicher

18 Windau, LTO v. 11.3.2020, vgl. https://www.lto.de/recht/hintergruen- de/h/coronavirus-gerichtsverhandlungen-atemschutzmasken-termin- verlegen-schriftliches-verfahren/.

19 Zuschauer oder zu Sicherheitszwecken eingesetzte Polizeibeamte sind von§176 II GVG nicht erfasst, vgl. BT-Drs. 19/14747, 43.

20 BT-Drs. 19/14747, 43.

21 BT-Drs. 19/14747, 43.

22 Vgl. https://www.rki.de/.

23 Mies, WZ v. 6.3.2020, https://www.wz.de/sport/sommermaerchen-pro- zess-vier-angeklagte-viele-fragen_aid-49401741.

24 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 32.

25 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 32.

26 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 32.

27 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 32.

28 MüKoZPO/Zimmermann, 5. Aufl. 2017,§172 GVG Rn. 2.

29 Https://www.rki.de/.

30 Vgl. nur KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. 2019, §172 GVG Rn. 5; Beck- OK GVG/Walther, 6. Ed. 1.2.2020,§172 Rn. 2 f.

31 Vgl. BT-Drs. 11/7663, 46.

32 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 24.

33 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 24.

(3)

Anlass besteht“34. Unter diesem Gesichtspunkt dürften so- dann auch die Maßgaben der Gesundheitsbehörden, ins- besondere die Festlegung von Höchstteilnehmerzahlen und Abstandsgeboten, Berücksichtigung finden können, weil oh- ne sie jedenfalls die Verhandlung für die Anwesenden ge- sundheitlich nicht „sicher“ wäre.

3. Bestellung eines Vertreters

Die Quarantänen werden derzeit wegen der Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen35zumeist für die Dauer von zwei Wochen angeordnet. Nach§53 I Nr. 1 BRAO muss ein Rechtsanwalt für seine Vertretung sorgen, wenn er länger als eine Woche daran gehindert ist, seinen Beruf auszuüben. In Zeiten von Pandemien, in denen großflächig mit Absonderungen reagiert wird, empfiehlt es sich daher, von der in §53 II 2 BRAO vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, einen Ver- treter „von Vornherein für alle Verhinderungsfälle, die wäh- rend eines Kalenderjahres eintreten können“, zu bestellen,36 auch wenn hierzu gesetzlich keine Verpflichtung besteht.37 Besondere Maßnahmen verlangt überdies der strafprozessuale Grundsatz der Verhandlungseinheit, nach dem die gesetzli- chen Richter, ein Vertreter der Staatsanwaltschaft und ein Urkundsbeamter – sowie bei notwendiger Verteidigung auch ein Verteidiger – grundsätzlich ununterbrochen an der Haupt- verhandlung teilnehmen müssen.38Wenig Probleme bereitet dabei die Anwesenheit des Vertreters der Staatsanwaltschaft und des Urkundsbeamten, da diese während des Verfahrens ausgewechselt werden können.39Bei Richtern und Schöffen ist während des pandemischen Verlaufs und „Verhandlungen von längerer Dauer“ die Anordnung von Ergänzungsrichtern und -schöffen (§192 II, III GVG) zu empfehlen; Entsprechen- des wäre auch für die Anzahl der zu bestellenden Pflichtver- teidiger zu erwägen. Damit die Maßnahme(n) nicht konterka- riert werden, sollte sitzungspolizeilich eine infektionshem- mende Sitzordnung bestimmt werden,40die verhindert, dass beispielsweise die Pflichtverteidiger sich untereinander anste- cken oder die Ergänzungsrichter von den Richtern angesteckt werden können. Die angeratenen Abstandsregeln dürften aber oft nur in größeren Sitzungssälen zu realisieren sein.

IV. Repressive Maßnahmen

Per definitionem bleiben bei einer Pandemie die Erkran- kungsfälle nicht vereinzelt, weshalb auch Überlegungen dazu angestellt werden sollten, welche Maßnahmen im Krank- heitsfall rechtlich in Betracht zu ziehen sind.

1. Unterbrechung und Aussetzung

Die selten anzuwendenden§§245, 247 ZPO könnten durch die Covid-19-Pandemie relevant werden.

a) Unterbrechung durch Stillstand der Rechtspflege. §245 ZPO regelt die so genannte Unterbrechung durch Stillstand der Rechtspflege: Hört infolge eines Krieges oder eines ande- ren Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts auf, so wird für die Dauer dieses Zustands das Verfahren unterbrochen. Mag man früher noch der Aussage, diese Regelung habe „glück- licherweise […] keine praktische Bedeutung“41, uneinge- schränkt zugestimmt haben, so geben die jüngsten Entwick- lungen Anlass, wenigstens über die Norm nachzudenken. Sie soll die Parteien vor den nachteiligen Konsequenzen „eines reinen tatsächlichen“ Iustitiums (von lat. stitium für Still- stehen) schützen.42 Als „ein anderes Ereignis“ werden teil- weise ausdrücklich Epidemien genannt.43 Es genügt nicht, wenn das Gericht verlegt bzw. evakuiert wird und die Tätig- keit an einem anderen Ort fortsetzt.44Wegen der Zuständig- keitsbestimmung durch das nächsthöhere Gericht in Fällen

der tatsächlichen Verhinderung des an sich zuständigen Ge- richts, dürfte es nicht ausreichen, wenn sämtliche Richter durch Tod oder Krankheit ausfallen.45

b) Aussetzung bei abgeschnittenem Verkehr. §247 ZPO ergänzt§245 ZPO und dient der Sicherstellung des Verfah- rensgrundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG).46Hält sich eine Partei an einem Ort auf, der durch obrigkeitliche Anordnung oder durch Krieg oder durch andere Zufälle von dem Verkehr mit dem Prozessgericht ab- geschnitten ist, so kann das Gericht auch von Amts wegen die Aussetzung des Verfahrens bis zur Beseitigung des Hinder- nisses anordnen (§247 ZPO). Voraussetzung einer Ausset- zung nach§247 ZPO ist, dass eine Partei oder ein notwendi- ger Streitgenosse verhindert ist, mit dem Gericht in Verbin- dung zu treten.47 Nicht ausreichend ist die Verhinderung anderer Beteiligter (Prozessbevollmächtigter, Zeuge, Sachver- ständiger, einfacher Streitgenosse).48Wenn die Partei im vor- stehenden Sinne verhindert ist, ist§247 ZPO, der sowohl für den Partei- wie für den Anwaltsprozess gilt, auch anzuwen- den, wenn sie durch einen Bevollmächtigten vertreten wird.49 Durch die Schutzmaßnahmen nach dem IfSG wäre es denkbar, dass einer Partei der Verkehr mit dem Prozessgericht abge- schnitten wird. Im Falle der Quarantänen aufgrund einer In- fektion mit SARS-CoV-2 ist das aber unwahrscheinlich.§30 III 5 IfSG sieht nämlich vor, dass auch in Quarantäne Post- sendungen von Gerichten, Behörden, gesetzlichen Vertretern, Rechtsanwälten, Notaren oder Seelsorgern weder geöffnet noch zurückgehalten werden dürfen; Postsendungen an solche Stellen oder Personen dürfen nur geöffnet und zurückgehalten werden, soweit dies zum Zwecke der Entseuchung notwendig ist. Da eine Übertragung des SARS-CoV-2 über unbelebte Oberflächen bisher nicht dokumentiert ist, erachtet das RKI eine Infektion mit dem Erreger über Oberflächen, die nicht zur direkten Umgebung eines symptomatischen Patienten gehören (Postsendungen werden ausdrücklich als Beispiel angeführt), für unwahrscheinlich.50 Aufgrund dessen und einer bisher nicht für notwendig erachteten Entseuchung der Korrespon- denz ist in dieser Pandemie ein Kommunikationsabbruch mit einem Gericht eher weniger zu erwarten.

2. Prozess- und Verfahrensfähgkeit

In Zivilsachen wird Prozessfähigkeit (§§51 ff. ZPO), in FamFG-Sachen wird Verfahrensfähigkeit vorausgesetzt (§§9, 125 I, 167 III, 275, 316 FamFG); §§53–58 ZPO gelten entsprechend (§9 V FamFG). Prozess- bzw. Verfah- rensfähigkeit51 ist die Fähigkeit des Beteiligten, selbst in ei-

34 BVerfGK 19, 352 = NJW 2012, 1863 Rn. 24.

35 Https://www.rki.de/.

36 Zu den weitreichenden Folgen der unterbliebenen Vertreterbestellung s.

Weyland/Nöker, BRAO, 10. Aufl. 2020,§53 Rn. 11 a, 11 b.

37 Weyland/Nöker,§53 Rn. 12.

38 Vgl. BeckOK StPO/Gorf, 36. Ed. 1.1.2020,§226 Rn. 1–10.

39 BeckOK StPO/Gorf,§226 Rn. 6–8.

40 Die Festlegung der Sitzordnung gehört zu den sitzungspolizeilichen Maßnahmen von§176 GVG, vgl. MüKoZPO/Zimmermann, 5. Aufl.

2017,§176 GVG Rn. 11.

41 MüKoZPO/Stackmann, 5. Aufl. 2016,§245 Rn. 1.

42 Zum Normzweck MüKoZPO/Stackmann,§245 Rn. 1.

43 MüKoZPO/Stackmann,§245 Rn. 2; Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019,§245 Rn. 1.

44 MüKoZPO/Stackmann,§245 Rn. 3.

45 So auch MüKoZPO/Stackmann,§245 Rn. 2.

46 BeckOK ZPO/Jaspersen, 35. Ed. 1.1.2020,§247 Rn. 1.

47 MüKoZPO/Stackmann,§247 Rn. 2.

48 MüKoZPO/Stackmann,§247 Rn. 2.

49 MüKoZPO/Stackmann,§247 Rn. 2.

50 Https://www.rki.de/.

51 Nachfolgend werden Prozess- und Verhandlungsfähigkeit synonymisch gebraucht.

(4)

gener Person oder durch einen selbst gewählten Vertreter wirksam Erklärungen im Verfahren abzugeben.52 Die Vor- schriften des FamFG und der ZPO (vgl. §52 I ZPO) ver- knüpfen die Prozessfähigkeit mit der bürgerlich-rechtlichen Geschäftsfähigkeit (§§2, 104, 106 BGB).53Im Allgemeinen ist von der Prozessfähigkeit eines Beteiligten auszugehen und anderes nur dann anzunehmen, wenn hinreichende Anhalts- punkte dafür vorliegen, dass Prozessunfähigkeit vorliegen könnte.54 Dem Gericht, welches den Mangel der Prozess- fähigkeit einer Partei in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen hat (§56 I ZPO), steht ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Feststellung zu, ob solche An- haltspunkte vorliegen, weil die von dem Gericht verkannte Prozessunfähigkeit die Nichtigkeitsklage gegen ein Sachurteil begründen würde.55 Die Grundsätze gelten in anderen Pro- zessordnungen entsprechend.56

In der Regel dürfte ein an Covid-19 Erkrankter geschäfts- und damit prozessfähig sein, weil der Großteil aller Krankheitsverläufe mild bis moderat sei und nur 6–14 % aller Erkrankten zeitweise intensivpflichtig würden, wobei die Dauer des Krankenhausaufenthalts dann zwischen drei und sechs Wochen betrage.57 Vor dem Hintergrund der relativ kurzen Zeitspanne dürfte eine bei Koma-Patienten in Betracht kom- mende Betreuerbestellung (§1896 BGB)58bei an Covid-19 erkrankten Beteiligten praktisch keine Bedeutung haben.

Sollte ein erkrankter Beteiligter an der Rückkehr und der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten verhindert sein (zB durch Quarantäne, Krankenhausaufenthalt), wäre – in eiligen Fällen – eine Abwesenheitspflegschaft nach§1911 II BGB in Betracht zu ziehen. Hierfür ist nicht die Abwesenheit vom Wohnort, vom Ort des gewöhnlichen oder letzten Auf- enthalts maßgeblich, sondern vom Ort des Fürsorgebedürf- nisses.59 Es genügt eine wesentliche Erschwerung der Rück- kehr zum Ort des Fürsorgebedürfnisses; die Rückkehr muss also nicht absolut unmöglich sein.60 Deshalb dürfte selbst der Krankenhausaufenthalt genügen, auch wenn es dem Er- krankten möglich wäre, sich diesem zu entziehen. Unerheb- lich ist außerdem, ob die Verhinderung freiwillig oder un- freiwillig ist,61weshalb es keiner zwangsweise angeordneten Quarantäne iSd §30 IfSG bedarf und die bloße Verhin- derung durch die (freiwillige) Absonderung oder kurative Therapie genügen sollte.

3. Verhandlungsfähigkeit und Anwesenheitspflicht Verhandlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, „in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegen- zunehmen“62. Regelmäßig wird die Verhandlungsfähigkeit nur durch „schwere körperliche oder seelische Mängel“ aus- geschlossen, wobei es auf die bürgerlich-rechtliche Ge- schäftsfähigkeit nicht ankommt.63 Hiernach dürfte bei an Covid-19 Erkrankten – von den auf Intensivstationen behan- delten Fällen abgesehen – grundsätzlich die Verhandlungs- fähigkeit zu bejahen sein.

Gleichwohl könnte es problematische Konstellationen geben, in denen Schutzmaßnahmen angeordnet worden sind. So bei- spielsweise, wenn ein geladener Angeklagter (§§216, 217 StPO) einer vollziehbaren Anordnung nach§§28 I 2, 30 I, 31 IfSG (Quarantäne) zuwiderhandeln würde, um der Ladung des Gerichts nachzukommen. Dann könnte sich der Ange- klagte einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Strafbarkeit nach

§75 I Nr. 1 IfSG ausgesetzt sehen. Grundsätzlich ist das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt (§230 StPO)64 bzw. sein Nichterscheinen zum Fortsetzungstermin nicht eigenmächtig (§231 StPO)65, wenn ihm eine ernsthafte Erkrankung die Teilnahme unzumutbar macht. Deshalb soll-

te erst recht auch in den Fällen eines quarantänebedingten Fernbleibens des Angeklagten davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte genügend entschuldigt ist oder sein Aus- bleiben nicht eigenmächtig war.

4. Verjährungshemmung

Eine etwaige Verjährungshemmung könnte nach§206 BGB in Betracht kommen.§206 BGB ist das materiell-rechtliche Gegenstück zum bereits erwähnten §245 ZPO.66 Nach

§206 BGB ist die Verjährung gehemmt, solange der Gläubi- ger innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung gehindert ist.

Es handelt sich um eine im Interesse des Schuldners eng aus- zulegende zusätzliche Schutzvorschrift.67 An die Annahme höherer Gewalt sind strenge Anforderungen zu stellen.68Der Begriff entspricht im Wesentlichen dem unabwendbaren Zu- fall iSd§233 I ZPO aF.69Auch durch die äußerste, billiger- weise zu erwartende Sorgfalt durfte das hindernde Ereignis nicht verhütet werden können; „das geringste Verschulden“

schließt die Annahme höherer Gewalt aus.70 Unproblema- tisch wird der Stillstand der Rechtspflege unter höhere Ge- walt subsumiert.71Schwieriger verhält es sich bei Krankhei- ten. Regelmäßig ist selbst eine schwere Erkrankung noch kein Hemmungsgrund.72 Sie ist es erst dann, „wenn dem Berechtigten infolge seines Zustands (Bewusstlosigkeit, Fie- berdelirien) die Versorgung seiner Angelegenheiten schlecht- hin unmöglich wird“73. Von den zu erwartenden intensiv- pflichtigen Koma-Patienten abgesehen, bei denen auch die Verfahrens- und Vernehmungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, dürfte§206 BGB also bei der Covid-19-Pandemie nicht zur Anwendung gelangen.

5. Wiedereinsetzung

Wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so sehen die Prozessordnungen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor.74Fraglich ist, wann eine Erkrankung zu einer Verhinderung „ohne Ver- schulden“ führt, wobei teilweise das Verschulden des Bevoll- mächtigten dem Verschulden des Beteiligten gleichsteht.75

52 MüKoZPO/Lindacher, 5. Aufl. 2016, §52 Rn. 1; BT-Drs. 16/6308, 180.

53 MüKoZPO/Lindacher,§52 Rn. 3; MüKoFamFG/Pabst, 3. Aufl. 2018,

§9 Rn. 3.

54 BGH Versäumnisurt. v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, BeckRS 2014, 2944 Rn. 8.

55 BGH Versäumnisurt. v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, BeckRS 2014, 2944 Rn. 8.

56 Vgl. nur §62 VwGO, §58 FGO, §71 SGG; ErfK/Koch, 20. Aufl.

2020,§10 ArbGG Rn. 7 f.

57 Https://www.rki.de/ sowie WHO, Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19), 2020, 16.–24.2.

2020, abrufbar unter https://www.who.int.

58 BGH NJW-RR 2011, 723 Rn. 19.

59 BeckOGK/Schöpflin, 1.11.2019,§1911 BGB Rn. 19 mwN.

60 BeckOGK/Schöpflin§1911 BGB Rn. 19 mwN.

61 BeckOGK/Schöpflin§1911 BGB Rn. 19 mwN.

62 BGH Beschl. v. 30.8.2016 – 4 StR 194/16, BeckRS 2016, 17444 Rn. 10 mwN.

63 BGH NStZ-RR 2013, 155 (156).

64 BeckOK StPO/Gorf,§230 Rn. 12.1.

65 BeckOK StPO/Gorf,§231 Rn. 8.1.

66 MüKoZPO/Stackmann, 5. Aufl. 2016,§245 Rn. 1.

67 BGH NJW 2020, 395 Rn. 30.

68 BAG NJOZ 2012, 406 Rn. 24.

69 BGH NJW 1997, 3164.

70 BGH NJW 1997, 3164.

71 BT-Drs. 14/6040, 119.

72 BGH Urt. v. 13.11.1962 – VI ZR 228/60, BeckRS 1962, 31183991.

73 BGH Urt. v. 13.11.1962 – VI ZR 228/60, BeckRS 1962, 31183991.

74 Vgl. nur§233 S. 1 ZPO;§44 StPO;§17 I FamFG;§60 VwGO;§56 FGO;§67 SGG;§93 II BVerfGG.

75 Vgl.§85 II ZPO und§93 II 6 BVerfGG.

(5)

a) Erkrankung der Partei. Eine Erkrankung rechtfertigt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn die erkrankte Partei nicht mehr in der Lage ist, den Rat eines Rechts- anwalts einzuholen, unter Abwägung des Für und Wider eine sachgemäße Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels zu treffen und den Rechtsanwalt hiervon sachgemäß zu unterrichten.76 Die Krankheitsverläufe sind bisher „unspezifisch, vielfältig und variieren stark, von symptomlosen Verläufen bis zu schweren Pneumonien mit Lungenversagen und Tod“77. Aus diesem Grund ist jede pauschale Aussage zu vermeiden, ob ein an Covid-19 er- krankter Mensch hinsichtlich des Verfahrensgegenstands einsichts- und steuerungsfähig ist. Es wird vielmehr im Ein- zelfall darzulegen und zu prüfen sein, ob der konkrete Krankheitsverlauf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit derart eingeschränkt hat, dass die Fristversäumung unver- schuldet war.

b) Erkrankung des Rechtsanwalts. Ganz im Gegensatz zum Verschulden der Partei sind bei einer Erkrankung des Rechtsanwalts generalisierende Aussagen möglich: Im Zwei- fel ist jede Fristversäumung, auch wenn sie auf eine plötzli- che schwere Krankheit zurückzuführen ist, schuldhaft. So jedenfalls lässt sich die bisher zu dem Komplex ergangene Rechtsprechung – selbstredend verkürzt – zusammenfas- sen.78Ohne die stark kasuistisch geprägte Judikatur im Ein- zelnen nachzuzeichnen, kann doch für die aktuelle Pandemie der Dreh- und Angelpunkt ausgemacht werden, an dem die Fälle, in denen ein Rechtsanwalt krankheitsbedingt eine Frist versäumt hat, entschieden werden dürften: die Vorherseh- barkeit der Erkrankung.

Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss sich der Rechtsanwalt nur dann durch konkrete Maßnahmen vor- bereiten, wenn er einen solchen Ausfall vorhersehen kann.79 Wird er unvorhergesehen krank, muss er nur das unterneh- men, was ihm zur Fristwahrung dann noch möglich und zumutbar ist.80 Prognostisch werde das Virus 60–70 % der Bevölkerung betreffen.81Das spricht also eher für eine Vor- hersehbarkeit der Erkrankung mit Covid-19. Davon aus- gehend, dass bisher nur 6 % aller Krankheitsverläufe „kri- tisch bis lebensbedrohlich“ waren,82 dürfte ein schwerwie- gender Verlauf, bei dem der Rechtsanwalt völlig handlungs- unfähig wird, eher nicht vorherzusehen sein. Mag die Erkrankung vorhersehbar sein (Wahrscheinlichkeit bis zu 70 %), so ist der schwere Verlauf jedenfalls aber unvorher- sehbar (Wahrscheinlichkeit von unter 4,2 %83). Demnach dürfte also die Fristversäumung bei einem moderaten Krankheitsverlauf verschuldet sein, die bei einem schweren Verlauf unverschuldet. Der „leichte“ Fall ist vorhersehbar, weshalb konkrete Maßnahmen getroffen werden müssen, die eine Fristversäumung verhindern. Der „schwere“ Fall ist unvorhersehbar, erfordert also keine Vorbereitung, wird den Rechtsanwalt dann aber regelmäßig derart „außer Ge- fecht setzen“, dass er nichts mehr zur Fristwahrung unter- nehmen kann.

V. Anordnungen gegenüber Organen der Rechts- pflege?

Die Verfassungskonformität der weitreichenden Regelungen in §§28 ff. IfSG wurde bisher in Rechtsprechung und Schrifttum, soweit ersichtlich, kaum erörtert.84 Besonders problematisch könnte die Anordnung von Schutzmaßnah- men der „zuständigen Behörde“ gegenüber Organen der Rechtspflege sein, weil die nach§54 S. 1 IfSG bestimmten zuständigen (Landes-)Behörden85 es so in der Hand hätten, die – auch zur Überprüfung ihrer Entscheidungen berufene –

Rechtspflege „auszuschalten“. Man denke nur daran, dass die nach IfSG zuständige Behörde wissentlich oder unwis- sentlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf (sämtliche) Richter anordnet (zB eine strafbewehrte zwangsweise Absonderung nach§§30 I, II, 75 I Nr. 1 IfSG), die über die Rechtmäßig- keit ihrer Entscheidungen zu befinden hätten.

Die Missbrauchsanfälligkeit liegt auf der Hand. Nur wie wäre der Konflikt (verfassungs-)rechtlich zu lösen? Durch die Sonderreglungen der§§70, 72 IfSG hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass er bestimmte Bereiche nicht den Landesbehörden unterstellen will. So obliegt in den in §70 IfSG bezeichneten Fällen der Vollzug des IfSG den zuständi- gen Stellen der Bundeswehr; im Bereich der Eisenbahnen des Bundes unter den Voraussetzungen von §72 IfSG dem Eisenbahn-Bundesamt. Hintergrund dieser Sondernormen sind insbesondere die „nicht zu vermeidenden Überschnei- dungen der Interessen der Bundeswehr mit denjenigen der Gesundheitsämter“86. Es hätte daher wegen der ebenfalls offenkundigen Interessenüberschneidungen von Justiz und Gesundheitsämtern nahe gelegen, auch für die sich in diesem Kontext stellenden Konstellationen differenzierende und das Interesse an einer geordneten Rechtspflege berücksichtigen- de Regelungen zu schaffen. Da dies nicht geschehen ist, sind die Justiz und damit auch die obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie das BVerfG infektionsschutzrechtlich den Landesbehörden unterstellt. Das dürfte mit den Grundsät- zen der Gewaltenteilung87 und der richterlichen Unabhän- gigkeit88 sowie der Stellung des BVerfG als Verfassungs- organ89nur schwer zu vereinbaren sein.

Solange die obersten Gerichtshöfe des Bundes90 ihre Tätig- keit nicht einstellen (müssen), dürfte die Funktionsfähigkeit der Justiz durch die in den Verfahrensordnungen vorgesehe- ne gerichtliche Bestimmung der Zuständigkeit sichergestellt bleiben, da nach diesen das zuständige Gericht durch das im Rechtszug zunächst höhere Gericht91 bestimmt wird, wenn das an sich zuständige Gericht in einem einzelnen Fall an der Ausübung des Richteramtes rechtlich oder tatsäch- lich verhindert ist.92 Eine tatsächliche Verhinderung in die- sem Sinne ist insbesondere bei Krankheit, Tod oder beim (örtlichen) Stillstand der Rechtspflege gegeben.93 Offen ist,

76 BGH NJW-RR 1994, 957 = NJW 1994, 2552 Ls.

77 Https://www.rki.de/.

78 Einen aktuellen Rechtsprechungsüberblick gibt BGH NJW-RR 2019, 691 Rn. 7 ff.

79 Beinah wörtlich BGH NJW 2020, 157 Rn. 12.

80 Wörtlich BGH NJW 2020, 157 Rn. 12.

81 Merlot Spiegel v. 13.3.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medi- zin/coronavirus-wir-gehen-davon-aus-dass-es-ein-stresstest-wird-fuer- unser-land-sagt-rki-chef-lothar-wieler-a-86251a54-182c-4bfa-9d60- 1dc6084b987d.

82 Https://www.rki.de/.

83 Ausgehend von einer Bevölkerung von 82,79 Millionen: 82.790.000 * 0,7 * 0,06/82.790.000 = 0,042.

84 Vgl. aber zB Hebeler/Erzinger JA 2011, 921; Dorf JA 2011, 116.

85 ZB für Baden-Württemberg §1 der Infektionsschutz-Zuständigkeits- VO (BWIfSGZustV) 2007.

86 Vgl. BT-Drs. 3/1888, 33 zum Entwurf eines Bundes-Seuchengesetzes.

87 Dazu BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 2055/16, BeckRS 2020, 3194 Rn. 67.

88 Hierzu BVerfGE 148, 69 = NJW 2018, 1935 Rn. 53.

89 Vgl. § 1 I BVerfGG und zur Stellung als Verfassungsorgan Maunz/

Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, BVerfGG, 57. EL Juni 2019,

§1 Rn. 16–42.

90 Art. 95 I GG: BGH, BVerwG, BFH, BAG und BSG.

91 Str. ob das „nächsthöhere Gericht“ das Rechtsmittelgericht oder das in der GVG-Hierarchie nächsthöhere Gericht ist, vgl. BeckOK FamFG/

Burschel, 33. Ed. 1.1.2020, FamFG§5 Rn. 16.

92 Vgl.§36 I Nr. 1 ZPO;§5 I Nr. 1 FamFG;§13 a StPO;§53 I Nr. 1 VwGO;§39 I Nr. 1 FGO;§58 I Nr. 1 SGG.

93 MüKoZPO/Patzina, 5. Aufl. 2016,§36 Rn. 19.

(6)

wie bei Verhinderung eines oder aller Bundesgerichte zu verfahren wäre.

VI. Schlussbemerkung und Ausblick

Der Beitrag kann nur einige der zahlreichen verfahrensrecht- lichen Probleme, die sich im Zuge einer Pandemie stellen können, anreißen. Die Erfahrung wird zeigen, welche Fragen es noch zu beantworten gilt.94 Bleibt zu hoffen, dass die

vorstehenden Gedanken weniger Relevanz entfalten als zu

befürchten steht. &

94 Beispiele: Wie sind Haftbefehle unter den Vorzeichen angeordneter Schutzmaßnahmen nach dem IfSG zu vollstrecken? Besteht eine Haf- tung des Staates bzw. der Krankenhäuser für unzureichendes Krisen- management? Gibt es Ausgleichsansprüche auch bei freiwilligen nicht angeordneten infektionshemmenden Maßnahmen von Personen und Unternehmen?

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