Prop¨adeutikum Mathematische Modellbildung ∗
Martin Brokate
†Inhaltsverzeichnis
1 Vorbemerkungen, Dimensionsanalyse, Skalierung 1
2 Asymptotische Entwicklung 9
3 Mehrere Skalen 17
4 Modelle im Kontinuum 26
∗Skript, SS 2009
†Zentrum Mathematik, TU M¨unchen
Literatur
R. Aris: Mathematical modelling techniques. Pitman, London 1978.
C. Eck, H. Garcke, P. Knabner: Mathematische Modellierung. Springer 2008.
N.D. Fowkes, J.J. Mahoney: Einf¨ uhrung in die Mathematische Modellierung. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996. Originalausgabe: An Introduction to Ma- thematical Modelling. Wiley, Chichester 1994.
K.H. Hoffmann: Einf¨ uhrung in die mathematische Modellbildung. Skript, TU M¨ unchen 2008.
M.H. Holmes: Introduction to Perturbation Methods. Springer-Verlag, New York 1995.
F.C. Hoppensteadt, C.S. Peskin: Modeling and Simulation in Medicine and the Life Sciences. Springer 2002.
M.S. Klamkin (Editor): Mathematical Modelling: Classroom Notes in Applied Mathe- matics. SIAM, Philadelphia 1987.
C.C. Lin, L.A. Segel: Mathematics Applied to Deterministic Problems in the Natural Sciences. Macmillan Publishing Co., New York 1974.
I. M¨ uller: Grundz¨ uge der Thermodynamik mit historischen Anmerkungen. Springer- Verlag, Berlin 1994.
J.D. Murray: Mathematical Biology, I: An Introduction. Springer-Verlag, New York 2002.
1 Vorbemerkungen, Dimensionsanalyse, Skalierung
Vorbemerkungen.
...
Hilfsmittel sind Dimensionsanalyse und Skalierung. Deren Ziel ist es, die Anzahl der
Gr¨ oßen (Parameter und Variablen) eines Modells zu verringern und zur Vereinfachun-
gen des Modells beizutragen, indem kleine (und damit m¨ oglicherweise vernachl¨ assigbare)
Gr¨ oßen identifiziert werden.
Dimensionsanalyse. Mathematische Modelle stellen formale mathematische Zusam- menh¨ ange zwischen Gr¨ oßen her. Beispiele:
1. Ein Gegenstand, der sich w¨ ahrend einer Zeitdauer t mit konstanter Geschwindigkeit v bewegt, legt den Weg s = vt zur¨ uck.
2. Der aktuelle Gesamtwert W eines Wertpapierdepots, bestehend aus I verschiedenen Sorten, ergibt sich als
W =
I
X
i=1
n
iw
i,
wobei w
ider Kurswert eines einzelnen Papiers der i-ten Sorte und n
idie St¨ uckzahl der im Depot befindlichen Papiere der jeweiligen Sorte darstellt.
Es wird unterstellt, dass jede auftretende Gr¨ oße eine Dimension hat, und dass Gr¨ oßen gleicher Dimension sich als Vielfaches einer ausgezeichneten Gr¨ oße dieser Dimension, einer sogenannten Einheit, darstellen lassen. Beispiele oben:
1. Der Weg s hat die Dimension L einer L¨ ange, m¨ ogliche Einheiten sind Meter (m), Zentimeter (cm). Die Zeitdauer t hat die Dimension T einer Zeit, m¨ ogliche Einheiten sind Sekunde (s), Stunde (h). Die Geschwindigkeit v hat die zusammengesetzte Dimension LT
−1, die Einheit entsteht durch entsprechende Kombination, z.B. m/s, km/h.
2. Der Gesamtwert W hat die Dimension G von Geld, die St¨ uckzahlen n
ihaben die Dimension der Sorte W
i, die einzelnen Kurswerte w
ihaben die Dimension GW
i−1. Durch eine Messung bestimmt man den Zahlenwert einer Gr¨ oße als Vielfaches der Ein- heit. Durch Wechsel zu einer anderen Einheit ¨ andern sich die Zahlenwerte. Es wird weiter unterstellt, dass sich die Quotienten der Zahlenwerte zweier Gr¨ oßen nicht ¨ andern, wenn die zugeh¨ orige Einheit ge¨ andert wird. (Dass ein Depot doppelt so viel wert ist wie ein anderes, ist unabh¨ angig davon, ob man in Euro oder Kiloeuro misst.)
Nur Gr¨ oßen gleicher Dimension k¨ onnen addiert, subtrahiert oder verglichen werden. Bei Multiplikation und Division werden die Dimensionen entsprechend multipliziert bzw. di- vidiert. Beispiel: Im Hookeschen Gesetz F = −kx f¨ ur eine ausgelenkte elastische Feder (F Kraft, x Auslenkung, k Federkonstante) haben beide Seiten die Dimension einer Kraft, k hat die Dimension Kraft geteilt durch L¨ ange.
Dieselbe reale Situation kann auf unterschiedliche mathematische Weise modelliert wer- den. Man erwartet, dass relevante Aussagen ¨ uber die Situation nicht davon abh¨ angen, wie die Einheiten der jeweiligen Dimensionen gew¨ ahlt werden (modulo entsprechender Trans- formation von Zahlenwerten). Es ist daher naheliegend zu versuchen, das mathematische Modell auf eine dimensionslose Form zu bringen. Dieser Vorgang heißt Entdimensiona- lisierung.
Beispiel 1.1 Ein K¨ orper konstanter Masse m steigt antriebslos von der Erdoberfl¨ ache mit einer Anfangsgeschwindigkeit V senkrecht nach oben. Zum Zeitpunkt t
∗hat er die H¨ ohe x
∗(t
∗) ¨ uber der Erdoberfl¨ ache. Auf ihn wirkt die Schwerkraft
F = −γ m · m
E(x
∗(t
∗) + R)
2,
mit der Gravitationskonstante γ und dem Erdradius R. Mit der Erdbeschleunigung g = (γm
E)/R
2erhalten wir aus dem Newtonschen Gesetz F = m x ¨
∗(zweite Ableitung nach t
∗)
¨
x
∗= − gR
2(x
∗+ R)
2, (1.1)
mit den Anfangsbedingungen
x
∗(0) = 0 , x ˙
∗(0) = V . (1.2)
Der Luftwiderstand wird in diesem Modell nicht ber¨ ucksichtigt. Gesucht wird der Zeit- punkt t
∗M, zu dem der K¨ orper die maximale H¨ ohe erreicht. Da das Anfangswertproblem zu gegebenen Parameterwerten V, g, R eindeutig l¨ osbar ist (Theorie gew¨ ohnlicher Diffe- rentialgleichungen), ergibt sich
t
∗M= f
∗(V, g, R) (1.3)
mit einer zun¨ achst unbekannten Funktion f
∗.
Zur Entdimensionalisierung der Variablen x
∗und t
∗betrachten wir intrinsische Refe- renzgr¨ oßen, n¨ amlich eine Referenzl¨ ange L f¨ ur x
∗(Dimension L) und eine Referenzzeit T f¨ ur t
∗(Dimension T ), und definieren die neuen dimensionslosen Variablen
x = x
∗L , t = t
∗T , (1.4)
damit ist gemeint
x(t) = 1
L x
∗(T t) . (1.5)
Aus der Kettenregel folgt
˙
x(t) = T
L x ˙
∗(T t) , x(t) = ¨ T
2L x ¨
∗(T t) . (1.6)
Einsetzen von (1.1) f¨ uhrt auf
¨
x(t) = − T
2L
gR
2(Lx(t) + R)
2, (1.7)
mit den Anfangsbedingungen
x(0) = 0 , x(0) = ˙ T
L x ˙
∗(0) = T V
L . (1.8)
Je nach Wahl von L und T erhalten wir unterschiedliche Formen des entdimensionalisier- ten Modells.
Variante 1: Wir w¨ ahlen
L = R , T = R
V . (1.9)
Es ergibt sich
¨
x = − R
2RV
2gR
2(Rx + R)
2= − gR V
21
(x + 1)
2, x(0) = 0 , x(0) = 1 ˙ . (1.10)
Dieses Modell enth¨ alt nur noch einen einzigen freien Parameter, ε = V
2gR , (1.11)
der zudem dimensionslos ist, seine Dimension errechnet sich als (LT
−1)
2(LT
−2L)
−1= L
0T
0. Das Anfangswertproblem zur Parameterwahl (1.9) lautet nun
ε¨ x = − 1
(x + 1)
2, x(0) = 0 , x(0) = 1 ˙ . (1.12) Seine L¨ osung ist eine Funktion “x = x(t, ε)”, an ihren Eigenschaften lassen sich nach R¨ ucktransformation gem¨ aß (1.5) alle Eigenschaften von x
∗ablesen. Insbesondere kann die Zeit t
M, zu der die Maximalh¨ ohe erreicht wird, nur von ε abh¨ angen, also
t
M= f(ε) , (1.13)
mit einer geeigneten (zun¨ achst unbekannnten) Funktion f . Es ergibt sich f¨ ur das urspr¨ ung- liche Modell
t
∗M= T t
M= R
V f (ε) = R V f
V
2gR
. (1.14)
Die Entdimensionalisierung hat also dazu gef¨ uhrt, die Komplexit¨ at der Abh¨ angigkeit t
∗M= f
∗(V, g, R) aus (1.3) auf die Form (1.14) zu reduzieren, f h¨ angt nur noch vom dimensionslosen Parameter ε ab.
Variante 2: Wir w¨ ahlen (g hat Dimension LT
−2) L = R , T =
s R
g . (1.15)
Einsetzen in (1.7) und (1.8) f¨ uhrt auf das Anfangswertproblem
¨
x = − 1
(x + 1)
2, x(0) = 0 , x(0) = ˙ √
ε , (1.16)
mit dem dimensionslosen Parameter ε = V
2/gR wie oben. Das qualitative Ergebnis ist dasselbe: Es folgt t
M= h(ε) mit einer geeigneten Funktion h, und
t
∗M= T t
M= s
R g h
V
2gR
. (1.17)
Ein Vergleich mit (1.14) ergibt R
V f (ε) = s
R
g h(ε) = R V
√ εh(ε) , (1.18)
also f (ε) = √
εh(ε). Unter dem Gesichtspunkt Dimensionsanalyse sind beide Varianten also gleichwertig. Unter dem (weiter unten besprochenen) Gesichtspunkt Skalierung trifft das nicht mehr zu.
Wir stellen jetzt dar, wie man die Varianten des entdimensionalisierten Problems syste-
matisch erh¨ alt. Die Aufgabe ist,
• alle m¨ oglichen dimensionslosen Gr¨ oßen,
• und alle m¨ oglichen Referenzgr¨ oßen
als Produkte von Potenzen der Problemparameter darzustellen.
1. Festlegung der Grundeinheiten: L¨ ange L, Masse M, Zeit T . 2. Liste der Variablen und Parameter mit ihren Einheiten:
Variable Dimension
x
∗L
t
∗T
Parameter Dimension
V LT
−1g LT
−2R L
Die Masse kommt in diesem Beispiel nicht vor.
3. Dimensionslose Gr¨ oßen π: Ansatz
π = V
α1g
α2R
α3. (1.19)
Einsetzen der Dimensionen in die rechte Seite
(LT
−1)
α1(LT
−2)
α2L
α3(1.20) Dieser Ausdruck muss dimensionslos sein, die Exponenten aller Grundeinheiten m¨ ussen also Null werden
α
1+ α
2+ α
3= 0
−α
1− 2α
2= 0 (1.21)
also
Aα = 0 , A =
1 1 1
−1 −2 0
, α =
α
1α
2α
3
. (1.22)
Die L¨ osungsmenge ist gerade der Kern von A, er hat hier die Dimension 1 und die Form
α = c
2
−1
−1
, c 6= 0 . (1.23)
Einsetzen in (1.19) mit c = 1 ergibt
π = V
2g
−1R
−1. (1.24)
Das ist gerade der dimensionslose Parameter ε aus (1.11). Alle anderen dimensions-
losen Parameter haben die Form π
c.
4. Referenzgr¨ oßen: Ansatz f¨ ur die Referenzl¨ ange
L = V
α1g
α2R
α3. (1.25)
Gleichheit der Dimensionen auf beiden Systemen f¨ uhrt auf das Gleichungssystem Aα = b , b =
1 0
(1.26) mit der allgemeinen L¨ osung
α = c
2
−1
−1
+
0 0 1
. (1.27)
und damit
L = R(V
2g
−1R
−1)
c= Rε
c. (1.28) F¨ ur c = 0 ergibt sich L = R (wie in den Varianten 1 und 2), f¨ ur c 6= 0 erhalten wir
L = V
2g ε
c−1, also L = V
2g falls c = 1. (1.29)
Analog werden Referenzzeiten bestimmt aus Aα = b , b =
0 1
(1.30)
α = c
2
−1
−1
+
1
−1 0
, T = V
g ε
c. (1.31)
Es ergeben sich die Referenzzeiten in Variante 1 und 2 T = R
V , c = −1 , und T = s
R
g , c = − 1
2 . (1.32)
Mit c = 0 erhalten wir zus¨ atzlich
T = V
g . (1.33)
Es erhebt sich die Frage, ob sich alle “relevanten Gleichungen” f¨ ur solche Modelle als di- mensionslose Gleichungen schreiben lassen. Das Π-Theorem von Buckingham besagt, dass das der Fall ist. Wir behandeln es hier nicht.
Als Konsequenz ergibt sich aus dem vorgestellten Verfahren, dass sich die dimensionslosen
Parameter und die Referenzgr¨ oßen eines Modells bereits aus der Liste der Parameter
und Variablen bestimmen lassen. Es ist daher nicht nur nicht notwendig, die Modellglei-
chungen zu l¨ osen (wie wir in den Varianten 1 und 2 oben bereits gesehen haben), sondern
es ist nicht einmal notwendig, die Modellgleichungen zu kennen! Es gen¨ ugt die Kenntnis
der Parameter und Variablen (mitsamt ihrer Dimensionen). Zugrunde liegt dabei die Mo- dellannahme, dass die interessierenden Variablen nur von den in der Liste enthaltenen Parametern abh¨ angen.
Skalierung der Referenzgr¨ oßen. Durch die richtige Wahl der Skalierung will man erreichen, dass die entdimensionalisierten Variablen (im Beispiel x, t), und nach M¨ oglich- keit auch ihre Ableitungen, in der Gr¨ oßenordnung von 1 liegen. Die Information ¨ uber die Gr¨ oßenordnung der urspr¨ unglichen Variablen (im Beispiel x
∗, t
∗) ist dann in den Refe- renzgr¨ oßen (im Beispiel L, T ) enthalten. Diese Zusatzinformation will man sich sp¨ ater zunutze machen, wenn man Terme identifizieren will, die man vernachl¨ assigen kann, ohne die L¨ osung stark zu ver¨ andern.
Die Wahl der richtigen Skalierung wird i.a. von der Gr¨ oßenordnung der Parameter im Ausgangsproblem abh¨ angen. Im Beispiel ist das der Parameter V , wenn man die Erde als fix gegeben annimmt. Die Gr¨ oßenordnung von V legt die relative Gr¨ oße von x
∗im Verh¨ altnis zum Erdradius R fest.
Wir wollen nun beispielsweise die Situation modellieren, in der der K¨ orper sich relativ zum Erdradius nur wenig von der Erdoberfl¨ ache entfernt. Es wird also x
∗klein sein gegen R, und die Wahl der Skalierung L = R in den Varianten 1 und 2 oben ist nicht passend, da dann x 1 zu erwarten ist. In dieser Situation kann man die zu erwartende Gr¨ oßen- ordnung einfach absch¨ atzen. Die Geschwindigkeit wird von der Anfangsgeschwindigkeit V abnehmen auf 0 bei Maximalh¨ ohe. Die ¨ Anderung der Geschwindigkeit erfolgt n¨ ahe- rungsweise linear (da die Schwerkraft und damit die Beschleunigung sich in der N¨ ahe der Erdoberfl¨ ache nur wenig ¨ andert). Die gesuchte Zeit t
∗Mliegt daher in der Gr¨ oßenordnung von V /g, und die Variable x
∗hat die Gr¨ oßenordnung V · V /g = V
2/g. Als geeignete Wahl der Parameter erscheint daher
L = V
2g , T = V
g . (1.34)
Als Variante 3 erhalten wir die zugeh¨ orige dimensionslose Gleichung
¨
x = − T
2L
gR
2(Lx + R)
2= − 1
(εx + 1)
2, ε = V
2gR , (1.35)
mit den Anfangsbedingungen
x(0) = 0 , x(0) = ˙ T V
L = 1 . (1.36)
Bei kleinen Anfangsgeschwindigkeiten V ist der Parameter ε klein. Man stellt nun die Frage, ob das Weglassen des Terms mit ε (oder ¨ aquivalent: ε = 0) zu einer sinnvollen N¨ aherung f¨ uhrt. F¨ ur das Anfangswertproblem (1.35) und (1.36) ist das der Fall, f¨ ur ε = 0 erhalten wir ¨ x = −1 und damit
x(0, t) = t − 1
2 t
2, x
∗(0, t
∗) = Lx(0, t
∗T ) = t
∗V − g
2 (t
∗)
2, (1.37) das ist gerade die Wurfparabel unter der Annahme konstanter Schwerkraft. Im Kontrast dazu betrachten wir die anderen beiden Varianten. Nullsetzen von ε in Variante 1,
ε¨ x = − 1
(x + 1)
2, x(0) = 0 , x(0) = 1 ˙ , (1.38)
f¨ uhrt auf die nicht l¨ osbare Gleichung 0 = −1/(x + 1)
2. Nullsetzen von ε in Variante 2,
¨
x = − 1
(x + 1)
2, x(0) = 0 , x(0) = ˙ √
ε , (1.39)
ergibt 0 = x(0) = ˙ x(0), ¨ x(0) = −1, sowie ¨ x(t) < 0 f¨ ur x(t) > −1, und f¨ uhrt damit auf eine
negative N¨ aherungsl¨ osung, die f¨ ur die betrachtete Modellsituation sinnlos ist (Trajektorie
unterhalb der Erdoberfl¨ ache). In diesem Fall erkennt man bereits aus der Mathematik,
dass Varianten 1 und 2 f¨ ur ε 1 problematisch sind; darauf kann man sich allerdings im
Allgemeinen nicht verlassen.
2 Asymptotische Entwicklung
Als einleitendes Beispiel betrachten wir die quadratische Gleichung
x
2+ 2εx − 1 = 0 . (2.1)
Die Nullstellen f¨ ur ε = 0 sind x
0= ±1. F¨ ur kleines ε > 0 suchen wir N¨ aherungen x
n(ε) f¨ ur die Nullstellen x(ε) der Form
x
n(ε) =
n
X
k=0
a
kε
k. (2.2)
Zur Berechnung der Koeffizienten verwenden wir den Potenzreihenansatz x(ε) =
∞
X
k=0
a
kε
k. (2.3)
Einsetzen in (2.1) ergibt
∞
X
k=0
a
kε
k!
2+ 2ε
∞
X
k=0
a
kε
k− 1 = 0 . Gliedweises Multiplizieren f¨ uhrt auf
(a
20+ 2a
0a
1ε + (2a
0a
2+ a
21)ε
2+ . . . ) + (2a
0ε + 2a
1ε
2+ . . . ) − 1 = 0 . (2.4) Liegt ε im Konvergenzintervall von (2.3), so auch von (2.4), und nach dem Identit¨ atssatz f¨ ur Potenzreihen sind die Koeffizienten aller ε
kin (2.4) gleich Null. Die daraus resultie- rende Methode Koeffizientenvergleich liefert
a
20= 1 ⇒ a
0= ±1 , (2.5)
2a
0a
1+ 2a
0= 0 ⇒ a
1= −1 , (2.6)
2a
0a
2+ a
21+ 2a
1= 0 ⇒ a
2= 1
2a
0= ± 1
2 . (2.7)
Die erhaltenen N¨ aherungen sind also
x
0= a
0= ±1 , x
1(ε) = ±1 − ε , x
2(ε) = ±1 − ε ± 1
2 ε
2. (2.8) Die N¨ aherung x
2(ε) ist f¨ ur ε = 10
−3bereits auf 7 Stellen genau. Die L¨ osungsformel f¨ ur quadratische Gleichungen liefert die exakte L¨ osung x(ε) = −ε ± √
ε
2+ 1.
Bei der Verwendung asymptotischer Entwicklungen geht es um das Verhalten der N¨ ahe- rung f¨ ur ε → 0 bei festem, in der Regel kleinem n. Fehlerabsch¨ atzungen (z.B. f¨ ur das Restglied der Taylorentwicklung) sind daf¨ ur relevant. Das Verhalten f¨ ur n → ∞ bei fe- stem ε (also das Konvergenzverhalten der Potenzreihe) spielt eine Nebenrolle und dient hier nur zur Begr¨ undung der Methode des Koeffizientenvergleichs.
Asymptotische Approximation. Wir erinnern an die in der Analysis behandelte “Groß-
O”- und “Klein-O”-Notation.
Definition 2.1 Seien g, ϕ : (0, ε
0) → R gegeben. Wir sagen, dass g = O(ϕ) f¨ ur ε → 0, falls es C > 0 gibt mit
|g(ε)| ≤ C|ϕ(ε)| , f¨ ur alle ε > 0 hinreichend nahe an 0. (2.9) Wir sagen, dass g = o(ϕ) f¨ ur ε → 0, falls
lim
ε↓0|g(ε)|
|ϕ(ε)| = 0 . (2.10)
Hinreichend f¨ ur g = O(ϕ) ist, dass
lim
ε↓0|g(ε)|
|ϕ(ε)|
existiert und endlich ist.
Beispiele:
g(ε) = ε
2, ϕ(ε) = ε , g = o(ϕ) , g(ε) = ε
2, ϕ(ε) = −2ε
2+ ε
3, g = O(ϕ) , g(ε) = ε sin
1 + 1
ε
, ϕ(ε) = ε , g = O(ϕ) , g(ε) = exp
− 1 ε
, , ϕ(ε) = ε
n, g = o(ϕ) f¨ ur alle n ∈ N .
Wir wollen Funktionen in der N¨ ahe von 0 approximieren. Ist etwa f (ε) = ε
2+ 2ε
4, so liefert ϕ(ε) = ε
2die Differenz (f − ϕ)(ε) = 2ε
4, eine gute N¨ aherung. Andererseits liefert ϕ(ε) =
57ε
2eine erheblich schlechtere N¨ aherung, da (f − ϕ)(ε) =
27ε
2+ 2ε
4bei 0 nur dieselbe Ordnung wie ϕ hat.
Definition 2.2 (Asymptotische N¨ aherung)
Seien f, ϕ : (0, ε
0) → X, X normierter Raum. Die Funktion ϕ heißt asymptotische N¨ ahe- rung von f , falls
kf − ϕk = o(kϕk) . (2.11)
(Mit kf − ϕk ist die Funktion ε 7→ kf(ε) − ϕ(ε)k gemeint, analog kϕk.) Wir schreiben
f ∼ ϕ . (2.12)
2 Im Fall X = R ist (2.11) ¨ aquivalent zu
f = ϕ + o(ϕ) . (2.13)
Beispiel: F¨ ur X = R betrachten wir f(ε) = sin ε. Jede der Funktionen ϕ(ε) = ε , ϕ(ε) = ε + 2ε
2, ϕ(ε) = ε − 1
6 ε
3,
ist wegen f (ε) = ε −
16ε
3+ O(ε
5) eine asymptotische N¨ aherung von f .
Oft sucht man asymptotische N¨ aherungen an eine mit ε parametrisierte Familie von Funk- tionen (z.B. L¨ osungen von Differentialgleichungen, die von ε abh¨ angen). Beispiel:
u
ε(t) = t + exp
− t ε
, 0 ≤ t ≤ 1 . (2.14)
Betrachtet man ein einzelnes t ∈ [0, 1], so befindet man sich in der Situation X = R mit f(ε) = u
ε(t). Eine asymptotische N¨ aherung f¨ ur t > 0 ist die (bez¨ uglich ε) Konstante t, f¨ ur t = 0 die Konstante 1.
Generell ist es w¨ unschenswert, wenn eine asymptotische N¨ aherung auf dem gesamten Intervall [0, 1] gut ist. Dem entspricht etwa die Wahl X = C[0, 1] mit der Supremumsnorm.
Im Beispiel (2.14) allerdings liefert die (wieder von ε unabh¨ angige) Funktion ϕ(t) = t keine asymptotische N¨ aherung, da
ku
ε− ϕk
∞= u
ε(0) − ϕ(0) = 1 , kϕk
∞= 1 .
Die N¨ aherung ist aber nur dicht bei 0 schlecht. F¨ ur X = L
1(0, 1) mit der Integralnorm gilt
kf
ε− ϕk
1= Z
10
e
−tεdt = −εe
−tε1 0
≤ ε , kϕk
1= 1 2 ,
also ist ϕ eine asymptotische N¨ aherung von f im Sinne der Integralnorm, welche geringere Anforderungen an die Qualit¨ at der N¨ aherung stellt.
Asymptotische Entwicklung. Der Begriff der asymptotischen Entwicklung verallge- meinert die Darstellung als Taylorpolynom plus Restglied,
f (ε) = a
0+ a
1ε + · · · + a
nε
n+ R
n+1(ε) , a
k= f
(k)(0)
k! . (2.15)
Die folgende Definition geht auf Poincar´ e zur¨ uck (1886).
Definition 2.3 (Asymptotische Entwicklung)
Eine (endliche oder unendliche) Folge von Funktionen ϕ
1, ϕ
2, . . . mit ϕ
k: (0, ε
0) → R heißt asymptotische Folge, falls ϕ
k+1= o(ϕ
k) f¨ ur ε → 0, f¨ ur alle k. Eine Funktion f : [0, ε
0) → X, X normierter Raum, besitzt eine asymptotische Entwicklung der Ordnung n bez¨ uglich dieser Folge, falls es Koeffizienten a
k∈ X gibt mit
f (ε) =
m
X
k=0
a
kϕ
k(ε) + o(ϕ
m) , f¨ ur alle m ≤ n, (2.16)
f¨ ur ε → 0. 2
Asymptotische Entwicklungen werden haupts¨ achlich bei Problemen eingesetzt, die sich in der allgemeinen Form
F (u
ε, ε) = 0 (2.17)
schreiben lassen. Hier ist F : X × [0, ε
0) → Y eine mit ε parametrisierte Abbildung zwischen normierten R¨ aumen X und Y . Wir nehmen an, dass es L¨ osungen u
ε∈ X gibt und dass f (ε) = u
εeine asymptotische Entwicklung hat, also
u
ε= u
ε,m+ o(ϕ
m) , u
ε,m=
m
X
k=0
a
kϕ
k(ε) , 0 ≤ m ≤ n . (2.18)
Nebenbemerkung: Wir behandeln jetzt nicht die Frage, ob und warum L¨ osungen u
εund asymptotische Entwicklungen von u
εexistieren.
Ist ϕ
k(ε) = ε
k, so heißt das Problem regul¨ ar gest¨ ort, der Ansatz u
ε= u
ε,m+ o(ε
m) , u
ε,m=
m
X
k=0
a
kε
k, 0 ≤ m ≤ n , (2.19) heißt regul¨ are St¨ orung von (2.17). Wir nehmen nun eine geeignete Lipschitzstetigkeit von F an, und zwar gebe es L > 0 mit
kF (u, ε) − F (v, ε)k ≤ Lku − vk , f¨ ur alle u, v ∈ X, ε ∈ [0, ε
0). (2.20) Lemma 2.4 Es gelte (2.20). Dann gilt f¨ ur die N¨ aherungen u
ε,maus (2.18)
kF (u
ε,m, ε)k = o(ϕ
m) , 0 ≤ m ≤ n . (2.21) Beweis: Es gilt kF (u
ε,m, ε)k = kF (u
ε,m, ε) − F (u
ε, ε)k ≤ Lku
ε,m− u
εk = o(ϕ
m). 2 Ist ϕ
mbeschr¨ ankt, wie etwa bei regul¨ ar gest¨ orten Problemen, so folgt aus (2.21)
ε→0
lim F (u
ε,m, ε) = 0 . (2.22) N¨ aherungen u
ε,mmit der Eigenschaft (2.22) heißen konsistent mit Problem (2.17).
Lemma 2.4 dient dazu, die unbekannten Koeffizienten a
kzu berechnen. Betrachten wir nochmals die quadratische Gleichung
F (x, ε) = x
2+ 2εx − 1 = 0 (2.23)
mit dem Ansatz
x
ε= x
ε,m+ o(ε
m) , x
ε,m=
m
X
k=0
a
kε
k. (2.24)
Es gilt f¨ ur m = 0
ϕ
0(ε) = 1 , x
ε,0= a
0, o(1) = F (x
ε,0, ε) = a
20+ 2εa
0− 1 ,
⇒ a
20= ±1 , und f¨ ur m = 1
ϕ
1(ε) = ε , x
ε,1= a
0+ a
1ε ,
o(ε) = F (x
ε,1, ε) = (a
0+ a
1ε)
2+ 2ε(a
0+ a
1ε) − 1 = (2a
0a
1+ 2a
0)ε + o(ε) ,
⇒ 2a
0a
1+ 2a
0= 0 , a
1= −1 .
Das ist gerade die Methode des Koeffizientenvergleichs. Durch Lemma 2.4 wird also deren
Anwendung gerechtfertigt f¨ ur asymptotische N¨ aherungen, unabh¨ angig von der Existenz
einer f¨ ur n → ∞ konvergenten Reihenentwicklung.
Wir betrachten nun die quadratische Gleichung
F (x, ε) = εx
2+ 2x − 1 = 0 . (2.25) Die exakte L¨ osung ist
x
1,2ε= − 1 ε ±
√ 1 + ε
ε . (2.26)
Es gilt
lim
ε→0x
1ε= 1
2 , lim
ε→0