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Zwischenbilanz: Der heutige Stand der Diskussion um die Gruppe 47 Nach den hitzig geführten Debatten und verdienstvollen Studien in den 1990er

und 2000er Jahren ist es wieder etwas ruhiger um die Gruppe 47 geworden. In aktuellen Bänden zur Nachkriegsliteratur wird die Rolle der Gruppe 47 dem-entsprechend hinsichtlich Kontinuitäten und Brüchen meist ambivalent ge-sehen und, wie beispielsweise Christian Adam in seinem aktuellen Band zum Traum vom Jahre Null (2016) schreibt, in der diskursiven „Grauzone“166 der

Werk korrelieren kann (vgl. ebd., S. 34–71); zu NS-Kontinuitäten und Literaturwissen-schaft vgl. auch Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

163  Für die vorliegende Studie besonders wichtig sind Klüger 1994, Gubser 1998, Körte 2004, Lorenz 2005, Lorenz 2005b, Bogdal/Holz/Lorenz 2007; einen Überblick über den älteren Forschungsstand gibt Bogdal 2007, S. 3.

164  Insbesondere bei Gross 2010, S. 201–236; zum Forschungsstand zur ‚NS-Moral‘ vgl. Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

165  Sie stellen damit eine verbreitete Wahrnehmung infrage, die bereits in einem Spruch Enzensbergers von 1969, mit der Publikation der Blechtrommel habe die Nachkriegs-literatur 1959 „das Klassenziel der Weltkultur“ erreicht, verbürgt ist (zit. n. Lorenz/Pirro 2011, S. 10); ebenso wie die Analyse Arnolds, 1959 habe ein ‚Sprung‘ stattgefunden (Arnold 1973, S. 70–80). Dass die Postulate beider ‚Brüche‘ 1945 und 1959 aus dem engsten Umfeld der Gruppe 47 stammen, hat sicher maßgeblich dazu beigetragen, dass die zahlreichen Kontinuitäten oft übersehen werden; vgl. dazu auch die Einleitung zu Teil II sowie Kap. 2.3.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

166  Adam 2016, S. 355: In diesem Band wird auch deutlich, wie wenig das Thema ab-geschlossen ist, da er immer noch der Narration folgt, mit dem Bild vom ‚Jahre Null‘

müsse aufgeräumt werden. Sein Fazit mit dem Titel „Ausgeträumt“ (ebd., S. 357–362) wird mit dem folgenden Satz eingeleitet: „So dramatisch die Einschnitte und Umwälzungen waren, die Deutschland und der deutsche Buchmarkt von den dreißiger bis zu den fünf-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlebten, ein Jahr Null lässt sich in diesen Jahrzehnten nicht verorten. Das Bild der Tabula rasa war allenfalls ein Traum, den Autoren, Bücher-macher oder Leser aus unterschiedlichsten Gründen bisweilen träumten.“ (Ebd., S. 357.)

Nachkriegszeit verortet. Als Konsens gilt größtenteils, wie Christian Sieg in seiner Monografie Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autor-schaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990 (2017) festhält: Die zahl-reichen „Untersuchungen der letzten Dekaden haben aufgezeigt, wie höchst problematisch der Umgang vieler Mitglieder der Gruppe 47 mit der national-sozialistischen Vergangenheit war.“167

Einzelne Stimmen plädieren dafür, einer als einseitig wahrgenommenen kritischen Forschung etwas entgegenzuhalten. Insbesondere die Gießener Germanisten Carsten Gansel und Norman Ächtler blicken in neueren Studien zur Gruppe 47 und ihren wichtigsten Mitgliedern ihrerseits kritisch auf die kritische Forschungstradition zur Gruppe 47. Ächtler problematisiert in seiner Dissertation zum Soldatischen Opfernarrativ im westdeutschen Kriegs-roman 1945–1960 (2013) in diesem Sinne, dass bisher „primär gefragt“ worden sei: „Was hat die (Kriegs-)Literatur nach 1945 nicht geleistet?“168 Solche ideo-logiekritischen Ansätze seien „bereits hinreichend diskutiert“ worden,169 wes-wegen er seinen „narrativistische[n] Zugang“ entgegenhalten will.170 Den sehr detaillierten und kenntnisreichen Untersuchungen Ächtlers (2013, 2014, 2016) und Gansels (2011, 2012), die in diesem Sinne entstanden sind, verdankt auch die vorliegende Studie viel. Dem grundsätzlichen ‚Schlussstrich‘-Gestus, wie er von Gansel und Ächtler erneut 2017 im Call for Papers für eine Gruppe-47-Tagung formuliert wurde, wird hier aber nicht gefolgt:171 Sie betonen, die

„Vor- und Frühgeschichte der Gruppe 47“ sei bereits „hinreichend erforscht[]“, weswegen sie auf ihrer Tagung „dezidiert ausgespart“ werden solle. Sie ver-weisen auf fünf Publikationen, darunter zwei von Ächtler selbst,172 was m. E.

für die Aufforderung zum Schlussstrich eine schmale Grundlage darstellt.

Für einen solchen Schlussstrich dürfte es, so die Annahme in der vor-liegenden Studie, schon deswegen zu früh sein, weil auch innerhalb der

167  Sieg 2017, S. 78.

168  Ächtler 2013, S. 19.

169  Ebd., S. 9: „Die Publizistik der sogenannten ‚Jungen Generation‘ aus den Jahren 1945-1949 wurde unter (kultur-)politischen und poetologischen, unter sprach- und ideologie-kritischen Gesichtspunkten bereits hinreichend diskutiert.“

170  Ebd. Aus diesen Überlegungen geht Ächtlers sehr fundierte Studie über die „narrative[]

Diskursebene der Texte“ hervor; wie er zusammenfasst ein „bislang wenig beachteter Ana-lyseansatz, der den publizistischen Arbeiten einen rhetorischen Eigenwert einräumt und die Erzählstrukturen aufzeigt, in die die jungen Autoren das Soldatische Opfernarrativ kleideten.“ (Ebd., S. 10.)

171  Gansel/Ächtler 2017; der Sammelband, der aus der Tagung vom 16. bis 18. November 2017 im Hans Werner Richter-Haus in Bansin/Usedom hervorgehen wird, ist im Entstehen begriffen.

172  „Arnold 2004; Gansel/Nell 2009; Döring/Joch 2011, Ächtler 2013, 2016“, vgl. ebd.

kritischen Gruppe-47-Forschung keineswegs Einigkeit besteht. Dies zeigen zwei jüngst erschienene Artikel von Lorenz und Böttiger exemplarisch, die beide an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit stehen und so den gegenwärtigen Diskursstand gut abbilden. Böttiger kommt im Jahr 2017 in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur, teilweise in Revision seiner Dar-stellungen in der Gruppe-47-Monografie,173 zum Ergebnis, die Gruppe 47 werde zu großen Teilen zu Unrecht „mit ‚Antisemitismus‘ assoziiert“.174 Lorenz postuliert hingegen im selben Jahr in der linken Zeitschrift Junge Welt, schon vor den neuen „Enthüllung verschiedenster Verstrickungen in den National-sozialismus“ hätten Einzelstudien gezeigt, dass „eine Absage an faschistische Denkmuster wie etwa den Antisemitismus […] gerade bei zentralen Vertretern der Gruppe nicht durchgängig feststellbar [ist], im Gegenteil.“175 Die „Häufung der neueren Erkenntnisse [mache] eine Neubewertung der Gruppe 47 drin-gend notwendig.“176

Solche grundsätzlichen Differenzen in der öffentlichen Wertung – bei denen es sich nicht um Meinungen, sondern durchaus um begründbare Forschungs-positionen handelt – lassen vermuten, dass zu der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der Gruppe 47, anders als im oben zitieren Call for Papers be-hauptet, noch viel zu sagen ist. Während viele kritische Beobachtungen über die Gruppe 47 als Einzelfälle ausgiebig diskutiert wurden, werden sie nämlich (wie gerade Böttigers, Ächtlers und Gansels Arbeiten zeigen) im Kontext der Gruppe 47 nach wie vor oft als Ausnahmen von der Regel gewertet.177 Dabei deuten nicht nur die Menge der angeblichen ‚Einzelfälle‘, die Verstrickungen einzelner Gruppenmitglieder in den Nationalsozialismus und Umformungen der eigenen Biografien, die in den letzten Jahrzehnten bekannt wurden,178 sondern auch die konkreten Begebenheiten auf Tagungen, die in der kritischen Forschung herausgearbeitet wurden, darauf hin, dass es sich dabei durchaus um konstitutive Aspekte der Gruppe 47 handelt.

So nahmen über die ganze Bestehenszeit der Gruppe fast keine jüdischen Autorinnen und Autoren an den Tagungen teil; die wenigen jüdischen Mitglieder waren nur um den Preis akzeptiert, dass sie über ihre Erlebnisse im National-sozialismus schwiegen.179 In den ersten Jahren der Gruppe 47 stellten sich die

173  Vgl. zur Lesung Paul Celans Böttiger 2012, S. 133–137.

174  Böttiger 2017, S. 3; vgl. dazu Kap. 2.4 in Teil II der vorliegenden Studie.

175  Lorenz 2017, S. 12.

176  Ebd., S. 13.

177  Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

178  Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

179  Vgl. insbesondere Braese 1999 und Briegleb 2003; vgl. auch Kap. 2.3 in Teil II der vor-liegenden Studie.

wichtigsten Mitglieder auch dezidiert gegen die „Literatur der Emigration“, deren Autorinnen und Autoren nicht an der nationalen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs teilgehabt und damit ihr Recht auf Mitsprache in Deutschland ver-wirkt hätten.180 Zu diesen Fakten kommen diskriminierende Stellungnahmen gegen einzelne Juden und Emigrierte auf den Tagungen hinzu; gerade von-seiten des ‚Gruppenchefs‘ Richter sind zahlreiche exkludierende Äußerungen überliefert, die sich nicht in der bereits zitierten Stellungnahme erschöpfen, Kesten sei der Gruppe ‚nicht zugehörig‘, weil er Jude sei.181 Er attestierte dem Autor Albert Vigoleis Thelen „Emigrantendeutsch“, das man im Kreis der Gruppe ‚nicht brauchen könne‘, woraufhin dieser an keiner Tagung mehr teil-nahm.182 Bekannt ist auch die (nicht mehr unumstrittene) Episode, wie Paul Celan nach seiner Lesung der „Todesfuge“ abgekanzelt und beleidigt worden sei und daraufhin den Gruppentreffen fernblieb.183

Möchte man ausgehend von solchen Überlieferungen der Frage nach NS-Kontinuitäten in der Gruppe 47 nachgehen, kann, wie aufgezeigt, bereits auf viel Material zurückgegriffen werden; es gibt aber nach wie vor ganz zentrale Desiderate. Am offenkundigsten ist, dass es neben der qua Anlage polemischen und entsprechend einseitigen Studie von Klaus Briegleb und der älteren Ruf-Dissertation von Widmer keine einzige Monografie zur Frage nach dem Um-gang mit dem Nationalsozialismus in der Gruppe 47 gibt. Während die Gruppe als Institution ansonsten grundsätzlich gut beforscht ist, gibt es darüber hinaus kaum Forschungsliteratur zu den literarischen Texten der Gruppe 47.

Und selbst außerhalb der Gruppe sind in der aktuellen Forschung explizite literarische NS-Kontinuitäten erst selten als solche untersucht worden.184 Die Ausnahme hierbei bilden Studien zu literarischem Antisemitismus und zu NS-Moraldiskursen, an die die vorliegende Studie anknüpft, wie im Folgenden genauer zu umreißen ist.