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Franz Joseph Schneider: „Die Mandel reift in Broschers Garten“

Im Dokument Kinder des Krieges, Gewissen der Nation (Seite 178-200)

2 Mitleid: Opferkonkurrenz und Empathieverweigerung

2.1 Franz Joseph Schneider: „Die Mandel reift in Broschers Garten“

(gelesen 1949) – eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte

Franz Joseph Schneider ist für die Fragestellung der vorliegenden Studie neben den oben beschriebenen Auffälligkeiten712 seiner Erzählung „Die Mandel reift in Broschers Garten“ und den Gemeinsamkeiten mit den Autoren der anderen oben identifizierten ‚Mustertexte‘ als Autor auf eine weitere Art interessant:

Einerseits gibt es kaum veröffentlichte Dokumente über ihn; in Studien zur Nachkriegsliteratur wird er nur selten erwähnt, selbst in literarischen Antho-logien aus den 70er und 80er Jahren, in denen Gruppe-47-Mitglieder oft den größten Anteil der erwähnten Personen ausmachen, findet sich sein Name kaum;713 es gibt keine literaturwissenschaftlichen Publikationen über ihn.

In allen Dokumenten zur Gruppe 47 kommt er aber andererseits sehr oft vor, und abgesehen von einem einzigen Band mit Erzählungen (Kind unsrer Zeit.

711  Vgl. Kap. 1.3 im vorliegenden Teil II der Studie.

712  Vgl. Kap. 1.1.3 im vorliegenden Teil II der Studie.

713  So ist er z. B. weder in Balzer et al., Die deutschsprachige Literatur in der Bundesrepublik Deutschland (1988), noch in Durzaks Die Deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart (1980) erwähnt; auch noch Peitschs Nachkriegsliteratur 1945–1989 (2009) hat keinen Eintrag für seinen Namen im Personenregister. In Koebners Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945 (1971) erscheint sein Name einmal, und zwar im Zusammenhang mit dem Almanach der Gruppe 47 (vgl. ebd., S. 217).

Deutsche Stories, 1947) sind seine wenigen literarischen Publikationen der Nachkriegszeit alle engstens mit der Gruppe verbunden: In Tausend Gramm hat er „Es kam der Tag“ veröffentlicht,714 im Almanach „Die Mandel reift in Broschers Garten“715 und in Toni Richters Band Die Gruppe 47 in Bildern und Texten ist seine Erzählung „Die Ziege hat ein weißes Fell“ (gelesen 1951) ab-gedruckt;716 mehr scheint er nicht publiziert zu haben.

Es sind weniger seine einzelnen literarischen Texte an sich als sein relativ eng auf die Gruppe 47 begrenztes Wirken und die angeblich damit zusammen-hängende „Mentalität“717 in seinen Texten, die die Erzählung „Die Mandel reift in Broschers Garten“ auch hinsichtlich ihrer Aussagekraft über diese ‚Mentali-tät‘ in einen besonderen Fokus rücken. Seine zentrale Rolle in der Gruppe 47, die gerade auf seinen Haltungen zu basieren scheint, soll deswegen zunächst rasch umrissen werden.

2.1.1 Schneider und die Gruppe 47

Schneider wird zwar in jüngeren Aufzählungen der wichtigsten Gruppenmit-glieder oft vergessen,718 war aber unter den MitGruppenmit-gliedern der ersten Stunde und wurde 1951 zum Kreis der „Mitbegründer oder alte[n] Freunde“719 der Gruppe 47 gezählt; zwar soll er sich ab 1962 allmählich zurückgezogen haben,720 er war aber auch auf der letzten Tagung in der Pulvermühle noch dabei.721 Noch in Toni Richters persönlich gehaltenen Erinnerungen an die Gruppe 47

714  Schneider 1989, S. 46–50.

715  Das als einziger Text von ihm später auch einzeln publiziert wurde (Schneider 1967).

716  Vgl. T. Richter 1997, S. 44–46; erstmals abgedruckt wurde der Text schon in Schneider 1947.

717  Auch im Zusammenhang mit Schneider verwendet Richter explizit dieses Wort, so als er ihm in einem Brief andeutet, wenn er den Preis der Gruppe 47 organisieren könne, käme er sicher auch dafür in Frage: „Um dem Preis eine gewisse Wertigkeit zu geben, soll[en] […] nur literarisch wirklich qualifizierte Leute damit ausgezeichnet werden, doch müssten sie auf jeden Fall der Mentalität der Gruppe 47 entsprechen. Um Dir deutlich zu machen, was ich meine, nenne ich ein paar Namen: Eich, Krämer-Badoni, Kolbenhoff, Franz Josef [sic] Schneider.“ (Richter 1997, S. 94 [Richter an Schneider am 30.10.1949]. Wie in Arnolds Gruppe-47-Monografie von 2004 nachzulesen ist, schreibt Richter „immer Franz Josef Schneider; richtig: Joseph“, ebd., S. 138.) Zu dieser ‚Mentalität‘

der Gruppe 47 und insbesondere Richters exklusivem Verständnis davon vgl. Teil I der vorliegenden Studie.

718  Vgl. zu den verschiedenen Zusammenstellungen der wichtigsten Gruppenmitglieder Kap. 2.3.1 in Teil I der vorliegenden Studie.

719  So Ernst Theo Rohnert im Tagungsbericht aus Bad Dürkheim (Rohnert [1951] 1967, S. 59).

720  Arnold 2004b, S. 164; ebenso in Meyer (2013), Anhang „Autorenkorpus“.

721  Wie bereits weiter oben zitiert, erinnert sich Christian Ferber, wie ihm Schneider die Nachricht vom geplanten Springer-Boykott überbracht habe (Ferber 1996, S. 206 f.).

aus dem Jahr 1997 taucht sein Name sehr oft auf: Obwohl im Biogramm, das bei anderen eine halbe A3-Seite füllt,722 zu ihm offenbar nur zwei Wörter ge-sagt werden können, „Schriftsteller und Werbefachmann“,723 verzeichnet das Namensregister ganze 12 Erwähnungen im Band, mehr als für viele andere Autoren der ersten Generationen.724

Passend dazu stammen die wenigen biografischen Informationen, die sich über ihn finden lassen, fast allesamt aus Publikationen über die Gruppe 47 – und über seine Rolle im Nationalsozialismus und die unmittelbare Nachkriegs-zeit findet sich dementsprechend wenig. Bekannt ist, dass er 1947 weder besonders jung, sondern bereits 35 Jahre alt, noch völlig unbelastet war, weil er im Nationalsozialismus als Kriegsberichterstatter für Deutschland, das heißt im Dienst der Propaganda, gearbeitet hat725 und mit „einer schweren Verwundung“726 aus dem Krieg zurückgekehrt war. Er war also wie viele der Gruppenmitglieder der ersten Stunde weder jung noch Landser, geschweige denn gar nicht ‚dabei gewesen‘.

Schneiders große Beliebtheit in der Gruppe hatte nun vielleicht zum einen mit seiner Finanzkraft zu tun,727 dank der er als eine Art Mäzen besonders wichtig wurde: Er rief den Preis der Gruppe 47 ins Leben, indem er die US-amerikanische Werbefirma McCann Company, bei deren Ableger in Frankfurt am Main er angestellt war, dazu überredete, eine finanzielle Unterstützung bereitzustellen, „wofür man damals das Zauberwort ‚Sponsoring‘ noch nicht kannte“, wie Böttiger schreibt.728 Nur die ersten beiden Preise mussten auf diese Weise finanziert werden, später rissen sich namhafte Verlage darum, sich am Preis zu beteiligen.729 Schneider wurde erst in den 70er Jahren noch ein-mal als Geldgeber aktiv, als er den ersten Stadtschreiberpreis Deutschlands

722  Vgl. das ausführliche „Bio-bibliographische[] Personenregister“ in T. Richter 1997, S. 209–223.

723  Ebd., S. 221.

724  So wird er z. B. öfter erwähnt als Heinz Friedrich (7), Klaus Roehler (8), Peter Rühmkorf (6) oder Wolfgang Weyrauch (9), aber auch als Siegfried Lenz (9), vgl. T. Richter 1997, S. 209–223.

725  Weyrauch 1989, S. 220.

726  Reich-Ranicki [1984] 2014, S. 10.

727  Diese scheint auch weithin bekannt gewesen zu sein, Armin Eichholz schreibt bereits 1951 in einem Tagungsbericht: „für die Werbetexte einer Zigarettenfirma hämmert er monatelang an einem Satz, und wenn er ihm abgekauft wird, bringt ihm das einzelne Wort mehr als drei Bücher zusammen.“ (Eichholz [1951] 1967, S. 70); vgl. auch Böttiger 2012, S. 212.

728  Ebd.

729  Wie es im Text-und-Kritik-Band von Arnold (2004b, S. 187) heißt, „richteten dann zu-nehmend die Verlage ihre ‚gewiß nicht schlecht kalkulierte Großmut‘[…] auf die Gruppe 47.“

erfand.730 Er blieb aber auch in der Zwischenzeit immer sehr erfolgreich in der Gruppe 47 und scheint zu den durchsetzungsstärksten Stimmen gehört zu haben: Bereits auf seiner zweiten Tagung soll er die ungleich bekanntere Luise Rinser mit einem vernichtenden Spruch in die Schranken gewiesen haben, nachdem sie ihrerseits rabiate Kritik geäußert hatte;731 Reich-Ranicki be-schreibt ihn im Nachruf 1984 als zu Gruppe-47-Zeiten „etwas rabiaten jungen Mann mit viel Temperament und Phantasie und auch noch Humor“.732 Er habe

„das Deutliche und Direkte und zuweilen auch das Derbe und Drastische“ ge-liebt,733 dementsprechend seien auch seine Beiträge auf den Tagungen „außer-gewöhnlich“ gewesen: „immer kurz und knapp, meist kauzig und kurios.“734

Vielleicht war diese Rolle als großzügiger und selbstbewusster, sympathi-scher „Kauz“735 – ähnlich wie zum Beispiel beim Preisträger Adriaan Morriën736 – auch ein Grund dafür, dass auch seine Literatur lange so positiv beurteilt wurde. Raddatz schreibt noch 1955, man kenne Schneider „als

730  Vgl. Schneider 2014.

731  Vgl. Mönnich 1997, S. 33.

732  Reich-Ranicki [1984] 2014, S. 10.

733  Ebd.

734  Ebd., S. 11. Eine Anekdote von einer Lesung Enzensbergers, die Reich-Ranicki 2009 in einem F.A.Z.-Interview berichtet, zeigt deutlich, wie hoch Schneider in der Gruppe 47 offenbar angesehen war: „[Enzensbergers Lesung] begann sehr merkwürdig: Alle wurden in eine Scheune kommandiert, Enzensberger auf eine kleine Anhöhe gesetzt. Die Zu-hörer durften es sich auf dem Heu bequem machen. Nach einer stimmungsvollen Pause ging es los: Enzensberger las langsam und pointiert. Es war sehr still, um nicht zu sagen:

andächtig. […] Hans Werner Richter beobachtete das Auditorium etwas misstrauisch, zu-mal den inzwischen verstorbenen Franz Joseph Schneider, der auf einer mitgebrachten Luftmatratze lag. Dieser Schneider war zwar ein schwacher Autor, wurde aber aus zwei Gründen besonders geschätzt: Erstens hatte er Humor, und, zweitens, vermochte er von Zeit zu Zeit in einer Frankfurter (ich glaube amerikanischen) Werbefirma, in der er arbeitete, etwas Geld für die Gruppe 47 zu organisieren. Richter wusste, dass dieser Schneider oft zu Schabernack aufgelegt war, was, unter uns, den Tagungen der Gruppe nicht schadete. Plötzlich überraschte uns, schon während der Lesung, ein lauter Knall.

Franz Joseph Schneider hatte aus seiner Matratze die Luft rausgelassen. Denn die Andacht schien ihm doch nicht angemessen. Richter, dem dieser Vorfall nicht unwillkommen war, gab gleichwohl ein herrisches Zeichen, man solle doch wieder ernsthaft sein. Enzens-berger nickte dankbar und las weiter. Alle befürchteten oder erhofften einen Skandal.

Richter beobachtete Schneider. Plötzlich brach Enzensberger die Lesung ab, ich glaube, mitten im Satz. Er sagte ganz ruhig: ‚Das hat keinen Zweck. Ich lese schon über eine halbe Stunde. Das soll eine Komödie sein. Aber noch niemand hat gelacht. Machen wir Schluss damit.‘ […] Die Komödie wurde nie gedruckt oder gar aufgeführt. Den Titel habe ich ver-gessen.“ (Ebd., o. S.)

735  Reich-Ranicki [1984] 2014, S. 10.

736  Bei Morriën wurden ähnliche Sympathien für seine ‚kauzige‘ Art rückblickend als Er-klärung dafür herangezogen, dass er den Preis der Gruppe 47 gewonnen hatte, was man

talentierten Erzähler“;737 und in den ersten Jahren scheinen seine Texte regel-mäßig Erfolge gefeiert zu haben. Auf seiner ersten Tagung im April 1949 in Marktbreit wird er in einem Tagungsbericht von Friedrich Minssen bereits zu den „bekannteren Namen der jungen Literatur, die diesem Kreis nahestehen“

gezählt,738 und ein halbes Jahr später scheint er mit dem Text „Die Mandel reift in Broschers Garten“ positiv herausgestochen zu sein. So schreibt ein unbekannter Verfasser in den Kasseler Nachrichten, seine Texte hätten „be-sondere Beachtung“ gefunden: „Sie stehen zwischen Reportage und Dichtung, der meistdiskutierten Frage dieser Tagung, und entwickeln in Stoff und Form eine durchaus eigenständige deutsche Story.“739 Auch andernorts wird be-schrieben, dass er „mühelos den Engpaß der Kritik passierte[] […].“740

Jürgen von Hollander soll zwar bereits auf derselben Tagung den Begriff

„Simplizitätsprotzerei“ aufgebracht haben und damit gemäß Herbert Hupka auch Schneider gemeint haben: „Noch wehrten sich die von diesem Wort Ge-troffenen, wie etwa Franz Josef Schneider und Horst Mönnich, aber das Wort steht.“741 Da die Rezeption sonst aber durchwegs als positiv tradiert wird, dürfte es sich noch nicht um die grundsätzliche Kritik handeln, wie sie heute an den Texten geübt wird; schließlich dominierten 1949 nach wie vor die ‚kalli-graphischen‘ Autoren den Diskurs und Schneider bezeichnete sich auch selbst als „Journalist“742 und betonte sein „publizistisches Anliegen“.743 Schneider scheint damit trotz „bescheiden[er]“ literarischer Begabung (wie Reich-Ranicki es ausgerechnet im Nachruf formulierte)744 noch lange Zeit genau

oft als einzigen Irrtum der Preisverleihung sah; vgl. auch Kap. 2.3 in Teil III der vor-liegenden Studie m. w. H.

737  Raddatz [1955] 1967, S. 111.

738  Minssen [1949] 1967, S. 40.

739  Gy. [1949] 1967, S. 45.

740  MM [1949] 1967, S. 50.

741  Hupka [1949] 1967, S. 46 f.

742  Wobei das sicher auch eine Art zeitgenössische Bescheidenheitsgeste war, derer sich auch Richter selbst bediente, obwohl beide Autoren damals Prosa verfassten: „[…] ich erinnere mich noch recht gut, dass Sie mir damals sagten, Sie seien nur ein Journalist. Ich nehme an, dass Sie sich auch noch meiner erinnern, zumal ich ja immer schweigend auf einem Präsidentennebenstuhl gesessen habe, was darauf zurückzuführen ist, dass ich eben-falls nur ein Journalist bin, d. h. ich fühlte mich unter soviel Literatur recht unglücklich.“

(Richter 1997, S. 86 [Brief an Schneider vom 22. 03.1949]).

743  Hupka [1949] 1967, S. 46: „Es haben sich hier Schriftsteller zusammengeschlossen, die fast alle ein gemeinsames Herkommen haben, und das ist das Erlebnis der Diktatur und des Zweiten Weltkrieges, und die fast alle ein gemeinsames Ziel haben, und das ist ihr

‚publizistisches Anliegen‘, wie es Franz Josef [sic] Schneider in Utting ausdrückte“; vgl.

auch Kap. 3.4 im vorliegenden Teil II der Studie.

744  Vgl. Reich-Ranicki [1984] 2014, S. 10.

den richtigen Ton in der Gruppe 47 getroffen zu haben und kann als eine Art spezifischer Gruppe-47-Charakter – außerhalb kaum bekannt, innerhalb aber im Zentrum der Aufmerksamkeit – gesehen werden.

2.1.2 „Die Mandel reift in Broschers Garten“

Umso aussagekräftiger dürfte auch seine Almanach-Erzählung „Die Mandel reift in Broschers Garten“ in Bezug auf die Charakteristika erfolgreicher Gruppe-47-Literatur sein. In der tabellarischen Auswertung der Almanach- und Preis-texte der Gruppe 47 ist sie aufgefallen, weil sie hinsichtlich besonders vieler Themen und Motive als potenziell relevant für die Frage nach einer Kontinui-tät von NS-Moraldiskursen erschien:745 Sie spielt im Nationalsozialismus, aber in Rumänien, eine Verschiebung, die raumsemantisch bedeutsam sein könnte; sie enthält jüdische Figuren, thematisiert aber nicht den Holocaust; sie könnte autofiktional sein, da auch Schneider in Rumänien stationiert war und sein Schreiben als journalistisch bezeichnet; der womöglich autofiktionale Protagonist ist ein moralisch sehr positiv aufgeladener ‚guter Deutscher‘.

Und da dieser deutsche Angehörige der Tätergesellschaft deutlich als Opfer des Nationalsozialismus gezeichnet ist und zugleich jüdische Figuren, nicht aber der Holocaust vorkommen, bietet es sich besonders an, die Erzählung im Kontext einer Dichotomisierung von Mitgefühl genauer zu untersuchen.

Schneiders Text erzählt nämlich die höchst unwahrscheinliche Konstellation, dass ein deutscher Wehrmachtssoldat in Rumänien bei einer jüdischen – im August 1944 glücklich in einer Villa in Galaţi lebenden – Familie unterkommt und einträchtig mit ihnen im Luxus lebt. Die zarte Liebe des Soldaten zu der jüdischen Tochter der Familie wird schließlich durch die einfallenden Russen gestört; die ganze Familie ist verzweifelt und fürchtet um das Leben des Protagonisten, als die Deutschen aus Rumänien vertrieben werden sollen.

Da es keine Sekundärliteratur zur Erzählung gibt, werden die Hintergründe und die damit zusammenhängenden Implikationen dieser Handlung hier zunächst etwas genauer beleuchtet. Wie daraufhin zu zeigen ist, ist die anti-semitische Konstruktion das Ergebnis mehrerer in der Gruppe 47 beliebter Erzählstrategien zur Aufwertung der Deutschen, die die ‚Moral der Geschichte‘

zu ‚eigenen‘ Gunsten strukturieren sollen und sie gerade dadurch an einem diskriminierenden Diskurs teilhaben lassen.

Handlung und historischer Kontext

Die Erzählung spielt im Jahr 1944 in Rumänien. Handlungsort und -zeit werden nicht explizit genannt, aber implizit umso deutlicher: Schon im ersten

745  Vgl. Kap. 1.3 im vorliegenden Teil II der Studie.

Satz werden die Straßennamen „Strada Morfeu“ und „Breilastraße“ genannt (SM 133), im zweiten Satz der Wind beschrieben, der „von der Donau her“ (ebd.) komme, was eindeutig die rumänische Stadt Galaţi ausweist. Vom Ort lässt sich auch die genaue Zeit der Handlung ableiten. Die Erzählung endet kurz nach-dem im Radio verkündet wurde: „Rasbio e ghatte! Der Krieg ist aus“ (SM 136).

Im geteilten Rumänien ist die genaue Ortangabe wichtig, um zu wissen, dass es sich um die Kapitulation der deutschen und rumänischen Streitmächte der Ostfront des damaligen Kernrumäniens handelt. Damit lässt sich die Hand-lungszeit auf Ende August 1944 datieren. Protagonist der Erzählung ist der deutsche Wehmachtsoldat Stefan, seine Kompanie ist in Galaţi stationiert und sein „Quartier“ (SM 133) ist die Villa der jüdischen Familie Broscher, wo die Handlung größtenteils stattfindet. Der Vater der Familie heißt Schmul Broscher und ist ehemaliger Angestellter bei der „Donaudampfschiffahrtsge-sellschaft“ (ebd.), seine Frau wird Madame Pauline genannt, die Tochter heißt Fotinja – und wie schon der eingangs von diesem Kapitel zitieren Stelle deut-lich zu entnehmen ist, begehrt der Protagonist die attraktive Fotinja.

Dieses Begehren strukturiert einen großen Teil der Handlung: Die Erzählung setzt ein, als der Protagonist seine Kompanie verlässt, da er „eins der üb-lichen Saufgelage“ weniger verlockend findet als einen Abend mit Fotinja in

„Broschers Garten“ (ebd.). In besagtem Garten führt er ein Gespräch mit ihr, während dessen sein Knie „die ganze Zeit die ihren“ (SM 134) berührt und in dem er sie wissen lässt, dass er „was mit dir machen“ (ebd.) möchte, worauf-hin sie errötet und er „einen Augenblick ihren Busen“ (ebd.) sieht. Auch seine

‚inneren Monologe‘ stehen ganz im Zeichen dieser Lust, wenn er „heftig“ denkt, dass er sie „für mich allein haben“ (SM 133) müsse, oder in der folgenden Über-legung darüber, was sie davon abhalte, mit ihm zu schlafen:

Nicht ihre Unerfahrenheit macht ihr den Entschluß so schwierig, dachte er, nicht die mädchenhafte Scheu ihrer achtzehn Jahre – ihre Mutter ist daran schuld.

Jüdinnen konnten die besten und angenehmsten Frauen sein, aber irgendwie mußte man sie immer mit ihren Müttern teilen. (SM 134)746

746  Diese Stelle wurde bereits in Kestens Almanach-Rezension hervorgehoben (vgl. Kesten [1963] 1967, S. 325 f.); und implizit wird deutlich, dass die Erwähnung gar nicht positiv gemeint ist: Kestens Feuilletonkritik des Almanach zeugt von einiger Häme gegen Richter und die Gruppe als Ganze (vgl. auch Kap. 1.1 im vorliegenden Teil II der Studie), hebt aber durchaus etliche Almanach-Erzählungen positiv hervor. „Zu den besten Beiträgen“ zählt Kesten „die Texte der beiden fremdsprachigen Autoren der Gruppe, des preisgekrönten Holländers Adriaan Morriën und des Polen Tadeusz Nowakowski“ (ebd., S. 225), und eine ganze Reihe weiterer Texte hebt er als „sehr schön“ (ebd., S. 327), witzig oder anderweitig zu den „besten Geschichten im Almanach“ gehörend (ebd., S. 326) positiv hervor, nämlich die von Schnurre, Böll, Aichinger, Eisenreich, Schallück, Weyrauch, von Cramer, Grass,

Er bedrängt sie aber im Verlauf der Erzählung so lange, bis trotz dieser Schwierigkeit die Aussage stehen bleibt, er würde sie noch „heut’ Nacht“

(SM 135) aufsuchen.747 In der Erwartung dessen zieht sich Fotinja früh in ihr Zimmer zurück, statt wie üblich mit der Familie zu essen: „‚Ich kann jetzt nicht mit ihnen am Tisch sitzen‘, sagte sie. ‚Meine Mutter würde es merken.‘“ (Ebd.) Deswegen bekommt sie die dramatische Wende der Geschehnisse nicht mit:

Der Protagonist wird vom „alten Broscher“ (SM 136) ins Wohnzimmer und ans Radio geholt, wo das Kriegsende in Kernrumänien verkündet wird. Alle freuen sich, aber als klar wird, dass nun „die Russen kommen“, kippt die Freude der Familie Broscher schnell in Bestürzung, und als Stefan sagt, für ihn sei der Krieg nicht aus – „[v]ielleicht für euch. Für mich nicht“ (ebd.) – und sich ver-abschiedet, um sich seiner Kompanie beim Rückzug anzuschließen, brechen die anwesenden Frauen in Tränen aus (vgl. ebd.).

Von Fotinja, die immer noch in ihrem Bett auf ihn wartet, verabschiedet er sich nicht; als er aber das Haus verlässt und sich noch einmal umdreht, sieht er sie am Fenster stehen:

Sie war im Nachtgewand. Er erkannte nicht ihr Gesicht, aber er sah, wie ihr erhobener Arm langsam niedersank – sah sie und faßte den Entschluß. Leise ging er zurück, öffnete die Tür, schlich auf den Fußspitzen am Wohnzimmer vorbei […]. Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, peitschten in der Nähe drei, vier Karabinerschüsse […]. Gleich darauf das harte, inständige Gebell eines Maschinengewehrs; aber all das kam bereits wie aus einer anderen Welt … Er öffnete die Tür. (SM 137 f.)

Damit endet die Erzählung; der Protagonist hat seiner Leidenschaft nach-gegeben – oder ist ihr vielmehr erlegen, so traumwandlerisch wird die Szene

Enzensberger, Rühmkorf, Bachmann, Celan, Bächler und Eich (vgl. ebd.). Schneider wird an keiner Stelle positiv erwähnt, und das Zitat über die jüdischen Mütter aus „Die Mandel reift in Broschers Garten“ leitet Kesten mit der Bemerkung ein, es fänden sich im Almanach „Szenen, die in Europa im 20. Jahrhundert […] alltäglich sind.“ (Ebd., 325 f.) Die Hervorhebung kann in diesem Kontext kaum unkritisch gemeint sein: An der Reflexion von Schneiders Protagonisten fällt nicht nur der begehrliche Blick eines deutschen, reiferen Soldaten auf eine in der Nachkriegszeit als minderjährig geltende,

‚exotische‘ Frau auf, sondern auch ein pejoratives Stereotyp über jüdische Mütter wird ungebrochen – und nicht nur explizit, sondern sogar in didaktischem Ton – tradiert

‚exotische‘ Frau auf, sondern auch ein pejoratives Stereotyp über jüdische Mütter wird ungebrochen – und nicht nur explizit, sondern sogar in didaktischem Ton – tradiert

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