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Tabellarischer Überblick und erste Organisation des Materials Ein erster distanzierter Überblick über die Almanach- und Preistexte wurde für

Im Dokument Kinder des Krieges, Gewissen der Nation (Seite 142-173)

1 Annäherung an das Korpus: Überblick und Musteranalyse

1.1 Tabellarischer Überblick und erste Organisation des Materials Ein erster distanzierter Überblick über die Almanach- und Preistexte wurde für

die vorliegende Studie gewonnen, indem jeder im Korpus enthaltene Einzel-text tabellarisch erfasst und mit einer größeren Zahl von Fragen konfrontiert wurde, die erste Hinweise auf die Anzahl und Beschaffenheit einzelner Dis-kurse, Motive oder Schreibweisen ermöglichen. Im Folgenden werden die Voraussetzungen dieses tabellarischen Überblicks beschrieben, um die im weiteren Verlauf des Kapitels stellenweise nur knapp präsentierten Ergebnisse des davon ausgehenden distant readings transparenter zu machen.

1.1.1 Hypothesen und Fragen an die Texte

Aus den Ergebnissen des ersten Teils der vorliegenden Studie und der ersten Lektüre der relevanten Texte wurden zunächst Hypothesen abgeleitet, in-wiefern sich die verschiedenen außerliterarisch identifizierten Varianten der Verknüpfung von Identität und Moral in literarischen Texten äußern könnten:

– So wurde angenommen, dass sich eine Dichotomisierung von moralischer Deutung vorwiegend auf der Inhaltsebene der Texte niederschlagen dürfte, in Figurenreden oder -konstellationen, in denen ‚Anderen‘ explizit ab-gesprochen wird, moralische Urteile fällen zu können, oder sie in ihren Einschätzungen von der Handlung unrecht bekommen. Denkbar ist aber auch, die deutende Erzählstimme in diesem Zusammenhang genauer zu beleuchten; eine These dabei ist, dass diese in der Gruppe 47 gerade in

besonders stark moralisierenden Texten auch besonders eng an die Identi-tät des Autors selbst geknüpft ist.

– Die für die vorliegende Studie relevante Form der Dichotomisierung von Mitleid – nämlich in dem Sinne, dass Empörung über unmoralisches Verhalten gegenüber ‚Anderen‘ anders empfunden wird als gegenüber Angehörigen der ‚Wir-Gruppe‘ – ist enger an den Nationalsozialismus ge-bunden; hier interessierte insbesondere die auch quantitativ auszuwertende Interesselosigkeit für die ‚nicht deutschen‘ Opfer des Nationalsozialismus und insbesondere den Holocaust, die explizite Empathieverweigerung, wo jüdische Figuren und der Holocaust vorkommen, oder die Konstruktion von Opferkonkurrenzen.

– Die Dichotomisierung von Tugend kann sich in fiktionalen Texten, wie hier angenommen wurde, in besonders vielen Varianten äußern; am offensicht-lichsten in rassistischen und antisemitischen Figurenzeichnungen, die un-moralische Handlungen nur den ‚Anderen‘ zuschreiben: vergewaltigende Russen, mitleidlose, sadistische Alliierte, gefährliche, rachelustige Juden;

aber auch strukturell darin, dass das Unmoralische an ‚anderen‘ Orten statt-findet oder nur ‚gute‘ Figuren intern fokalisiert werden. Korrespondierende Motive im Bereich des ‚Eigenen‘ sind ‚gute Deutsche‘, wo sie einem ‚bösen Fremden‘ gegenüber stehen; die Heimat als Sehnsuchtsort und Raum des Guten, die Ehre der Nation und Nationalismus; Scham und Schande oder Kameradschaft und Desertion.

Hinsichtlich mehrerer dieser Themenbereiche sollte nun, so die Annahme, bereits einfaches Zählen zu ersten aussagekräftigen Ergebnissen führen.

So ist es in Bezug auf einen einzelnen Text kaum interessant, wenn darin der Holocaust nicht erwähnt ist. Wenn aber im gesamten repräsentativen Korpus zu konstatieren ist, dass kaum Texte über den Holocaust enthalten sind oder dass demgegenüber viele deutsche Opfer konstruiert werden – dass also im gesamten Korpus das jüdische Leid beschwiegen bleibt oder eine unausgeglichene Opferkonkurrenz eröffnet wird –,607 dann gewinnt die Be-obachtung für jeden einzelnen Text an neuer Bedeutung. Ausgehend von solchen Annahmen wurden aus den gerade beschriebenen Thesen konkrete Fragen abgeleitet, die an Texte gestellt und relativ knapp beantwortet werden sollten. Einerseits wurden einfache Fragen, zum Beispiel nach Gattung, Erzählperspektive oder Fokalisierung gestellt, andererseits auch Fragen, die bereits einfache Interpretationen voraussetzen, zum Beispiel nach der ‚Moral der Geschichte‘, rassistischen oder antisemitischen Stereotypen oder der Her-kunft von Opfern oder Schuldigen.

607  Vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel und Kap. 2.2 im vorliegenden Teil II der Studie.

Ausgehend von diesem Überblick sollen in den folgenden Kapiteln neben genaueren Einzelanalysen auch Fragen beantwortet werden können wie: Wie oft kommt die intern fokalisierte Figur aus Deutschland? Aber auch: Wie oft spielt die Erzählung im Nationalsozialismus, kommt der Protagonist aus Deutsch-land und ist der Protagonist eine dezidiert ‚gute‘ Figur? Gerade für solche etwas komplexere Fragen bot sich eine tabellarische Zusammenstellung der einfachen Fragen an, da so auch nach mehreren Bedingungen gleichzeitig gefragt werden und die Tabelle entsprechend bedingt gefiltert werden kann.608 Die Fragen für die tabellarische Erfassung wurden im Verlauf des Ausfüllens immer wieder ergänzt und überarbeitet; die folgenden sind bis zuletzt stehen geblieben und werden im Verlauf des vorliegenden Teils der Studie aufgegriffen:609

Tagungsort, Monat, Jahr – ‚Moral der Geschichte‘ (ggf.) – Gattung – Sprachstil610 – Gut / Böse offensichtlich?611 – Erzählperspektive? – Anzahl intern fokalisierter Figuren? – Wer ist intern fokalisiert? – Autobiografischer Gehalt zeitlich / ört-lich / logisch mögört-lich? – Woher ist Fokalisierte/-r? – Wann spielt es? – Wo spielt es? – Ggf. Rolle der / des Fokalisierten im Krieg – Implizite Hinweise auf Hand-lungszeit und -ort? – Implizite deutliche Holocaust-Andeutungen? – Kommen von den intern fokalisierten Figuren abweichende ‚Andere‘ (Herkunft, Sprache, Religion) vor?612 – Woher kommen die Schuldigen? – Woher kommen die Opfer? – Woher kommen die dezidiert Guten / Unschuldigen? – Woher kommen die Unmoralischen? – Mögliche rassistische / antisemitische Stereotype?613 – Ansprache der/des Lesers/-in oder poetisches ‚Du‘?614 – Besonderheiten? – Jüdische Figuren / andere verfolgte Minderheiten?

608  Zu dieser Art der Auswertung vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

609  Bei mehreren dieser Fragen konnte die Antwort nur aufgrund erster Leseeindrücke erfolgen; es handelt sich also nicht um ‚endgültige‘ Analyseergebnisse; die Kategorien dienen nur dazu, Texte für genauere Lektüren in den Blick nehmen oder gerade aus-schließen zu können. Zu Auswertung, Schwierigkeiten und Unschärfen bei dieser ersten Sichtung und dem Umgang damit vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

610  Diese Kategorie ist ein gutes Beispiel für eine solche erste Zuordnung, die noch nicht einem ‚endgültigen‘ Analyseergebnis entspricht; hier wurde der sprachlichen Eindruck festgehalten, den der Text hinterlässt; unterschieden wurde in „Landser“, jüngerer „Realis-mus“, „Surrealismus“ etc., um später je nach Frage Texte genauer untersuchen oder aus-schließen zu können.

611  Diese Kategorie dient vor allem dazu, eine Quelle von Unschärfen bei komplexeren Auswertungen zu reduzieren und ambivalentere Texte auszufiltern; vgl. weiter unter in diesem Kapitel.

612  Ähnlich wie die Frage, ob ‚Gut‘ und ‚Böse‘ eindeutig unterschieden sei, dient diese Kate-gorie vor allem der Reduktion der Gesamtstichprobe: Texte, in denen keinerlei Alterität vor-kommen, sind für viele Fragestellungen nicht relevant und würden die Anteile verfälschen.

613  Den Begriff Rassismus wird im Sinne der theoretischen Grundlage der Studie auch in Zusammenhang mit nationalen negativen Stereotypen verwendet (vgl. Kap. 2.2.4 in Teil I der vorliegenden Studie).

614  Diese Kategorie wird erst im Teil III dieser Studie relevant.

Diese Fragen wurden alle in einer Excel-Tabelle auf der X-Achse eingetragen und jeweils für alle 89 Texte des Untersuchungskorpus einzeln beantwortet;

einerseits mit ausführlichen Notizen und andererseits in einer zweiten Version auch vereinfacht, um einfache Auszählungen zu ermöglichen.615

Abb. 1 soll einen Eindruck davon geben, wie das Textmaterial sortiert ist; es handelt sich um einen kleinen Ausschnitt, denn wie bereits die Koordinaten – 24 Fragen und 89 einzelne Texte – verdeutlichen dürften, ist die gesamte Tabelle in beiden Versionen zu umfangreich, um sie in der vorliegenden Studie als Ganze abzubilden. Aus einem zweiten Grund wurde auch darauf verzichtet, sie ausgefüllt in den Anhang zu stellen: Für sich alleine genommen, ohne die entsprechenden Erklärungen, sind unkommentierte Antworten auf die komplexeren der gerade aufgezählten Fragen, so die nach antisemitischen Stereotypen oder rassistischen Figurenzeichnungen, zu heikel, um sie un-kommentiert stehen zu lassen. Die Erklärungen zu den einzelnen Einträgen sind aber zu komplex, um sie in direkter Nähe dazu eintragen zu können; sie können immer erst in den einzelnen Analysekapiteln dargelegt werden.

615  Vgl. zu der Auswertung weiter unten in diesem Kapitel.

A B E F G H I J K L M N O P Q R S T U

Abb. 1 Ausschnitt der leeren Tabelle der Almanach- und Preistexte

Bereits für die ersten groben Auswertungen müssen aber zudem einige Schwierigkeiten reflektiert werden. Die meisten Unschärfen der Auswertung können bei der gerade skizzierten Vorgehensweise bereits beim Ausfüllen der Tabelle entstehen, wobei die offensichtlichsten Ungenauigkeiten der doppelten Vereinfachung geschuldet sind: Schon die Lektüreeindrücke und ersten Analyseergebnisse in knappe Notizen zu transformieren, benötigte drastische Vereinfachungen, und die weitere Verknappung durch die Zu-ordnung zu einzelnen vorgegebenen Stichwörtern erst recht. Durch die genaue Dokumentation aller Schritte und Ergebnisse616 sowie der einer genaueren Analyse aller Texte, die in einer besonders ‚heiklen‘ Kategorie wie Antisemitis-mus oder RassisAntisemitis-mus,617 aber auch Moral oder ‚Unmoral‘ der Reflexionsfiguren618 oder Vorhandensein von Opferfiguren619 als relevant hervorgehoben werden, soll dieses Problem so weit als möglich abgefedert werden.

Weniger offensichtlich sind die Gefahren von Ungenauigkeiten bei schein-bar einfacheren Fragen wie beispielsweise derjenigen nach den nationalen Zugehörigkeiten einzelner Figuren. Auch hier ist fast nichts so einfach zu be-antworten, wie es aussieht; so hinterlässt der Almanach bei der ersten Lektüre zwar den deutlichen Eindruck, dass eine große Zahl der Erzählungen in Deutschland spiele, aber in der großen Mehrheit der Erzählungen wird das nicht explizit gesagt. Da es oft wenigstens relativ deutliche Hinweise auf Hand-lungsort, -zeit und Herkunft der Figuren gibt, wurde eine Spalte für Notizen ergänzt, wo solche Hinweise verzeichnet werden können, sowie die Antwort-möglichkeit ‚Deutschland implizit‘ hinzugefügt.

Am heikelsten sind nun die komplexeren und voraussetzungsreicheren Fragen wie „Woher sind die Schuldigen?“ zu beantworten. Hier ist einerseits ebenfalls das Problem mitzudenken, dass die Herkunft oft impliziert, aber nicht explizit benannt wird, und dazu kommt hier noch, dass eine Kategorie wie ‚Schuld‘ in einem künstlerischen Text natürlich meistens ambivalent und voraussetzungsreich gestaltet ist. Diesem Problem wurde zu begegnen

616  Alle quantitativen Ergebnisse werden in den Fußnoten aufgeschlüsselt, indem die Namen aller Autoren/-innen genannt werden, die in einem Eintrag mitgezählt wurden. Vgl. zur Verdeutlichung die Fußnoten 627 und 628 [##] weiter unten in diesem Kapitel: Die Be-merkung, dass die Wendung „zum ersten Mal“ in sieben Texten vorkommt, wird durch die Nennung aller Namen der Verfasserinnen und Verfasser dieser sieben Texte in der Fußnote ergänzt. Da alle Autoren/-innen im Almanach nur einmal vertreten sind, können so alle Ergebnisse überprüft und anhand der konkreten Texte nachvollzogen werden. In der Bibliografie sind die Almanach- und Preistexte aus Platzgründen nur dann einzeln verzeichnet, wenn sie auch im Fließtext erwähnt wurden.

617  Vgl. dazu Kap. 2.1.3 im vorliegenden Teil II der Studie.

618  Vgl. dazu Kap. 3.4 im vorliegenden Teil II der Studie.

619  Vgl. dazu Kap. 2.3.1 im vorliegenden Teil II der Studie.

versucht, indem eine Kategorie ergänzt wurde, in der angemerkt werden kann, ob ‚Gut‘ und ‚Böse‘ einigermaßen eindeutig zugeordnet sind. Für einfache Aus-wertungen können so nur diejenigen Texte berücksichtigt werden, die relativ manichäisch strukturiert sind.

All diese Schwierigkeiten fallen bei ästhetisch besonders komplexen Texten noch stärker ins Gewicht. Während sich die meisten Fragen für die realistischen Texte der ersten Jahre oft noch relativ eindeutig entscheiden lassen, ist es bei Kapiteln aus ganzen Romanen und ganz besonders bei den Gedichten komplizierter. So sind die Gedichte Celans, Bachmanns oder Bobrowskis alle derart vielfach codiert und anspielungsreich, dass beispielsweise ein „Nein“

bei der Frage nach deutlichen Holocaust-Verweisen, das ohne systematische Sichtung der Sekundärliteratur gewonnen wurde, offensichtlich genauso gut falsch sein kann.620

Daraus folgt, dass die jeweiligen Einzelergebnisse trotz tabellarischer Übersicht jeweils etwas genauer hergeleitet werden müssen und die hier be-schriebene Zusammenstellung erst der Ausgangspunkt ist, der vor allem viele neue Fragen aufwirft und eine fundiertere, breiter abgestützte qualitative Ana-lyse ermöglicht. Einige großflächigere Auswertungen sind aber trotz dieser Ein-schränkung möglich; wie diese jeweiligen Auswertungen zustande kommen, wird nun knapp ausgeführt.

1.1.2 Möglichkeiten der Auswertung – einige Beobachtungen

Wenn man diese Unschärfen mitdenkt und angesichts dessen, dass die jeweiligen Analysen auch in den entsprechenden Kapiteln konsultiert werden können, sollten einzelne Verknappungen nun keine Schwäche der groß-flächigeren Auswertungen mehr bedeuten. Vielmehr sollte sich ein Mehrwert aus diesem abstrakten Überblick generieren lassen.

620  Da es grundsätzlich um die Analyse von vorherrschenden Diskursen in der Gruppe 47 geht, ist selbst das im Ergebnis nicht ganz so problematisch: Der Großteil der Sekundär-literatur war zum Zeitpunkt der Lesungen und der Aufnahme in den Almanach noch nicht entstanden, auf den Gruppentagungen zählte nur der erste Eindruck (was oft gerade kritisiert wurde, vgl. dazu bereits Reich-Ranickis Beitrag zum Almanach mit dem Titel: „Von der Fragwürdigkeit und Notwendigkeit mündlicher Kritik“ 1962; vgl. auch Arnold 2004, S. 61–64). Deswegen wurde auch umgekehrt berücksichtigt, dass bei Roman-kapiteln wie demjenigen aus der Blechtrommel (1959) die Einträge nicht von Anfang an vom Wissen um die ganzen Romane beeinflusst sein durften. So spielen beide Almanach-Kapitel der Blechtrommel beispielsweise, anders als der größte Teil des Romans, gerade nicht im Nationalsozialismus, sodass das bei der Analyse des Almanachs entsprechend einzutragen ist – schließlich sind die Kapitel nicht zufällig für die Lesungen auf den Gruppentagungen ausgewählt worden. Vgl. zu den Blechtrommel-Auszügen Kap. 4.3.1 im vorliegenden Teil II der Studie.

Zunächst kann schon das Zusammenstellen des Materials zu ersten Er-kenntnissen führen; in der vorliegenden Studie beispielweise die Tatsache, dass das Wort „Wehrmacht“ bei der Frage, woher die Opfer kämen, kein ein-ziges Mal eingetragen ist: Immer, wenn die Opfer aus der Wehrmacht kommen, ist auch die intern fokalisierte Figur selbst Wehrmachtangehöriger, sodass der Eintrag immer „Fokalisierte/-r“ lautet. Zudem ergeben sich auch erste Hypo-thesen bereits durch die tabellarische Ordnung selbst, so in der vorliegenden Studie die, dass gerade in denjenigen Texten die deutlichsten Holocaust-Anspielungen zu finden sind, deren Handlung zeitlich oder örtlich am weitesten weg vom Nationalsozialismus zu verorten ist. Nirgends konnte die Frage nach Holocaust-Anspielungen so zweifelsfrei mit „Nein“ beantwortet werden wie bei den Erzählungen, die von Krieg und / oder ‚Heimatfront‘ handeln.621 Das ist allerdings nicht unerwartet und kann nur den Ausgangspunkt bilden, um weitere Einflüsse zu bedenken; in diesem Beispiel unter anderem, dass im ein-fachen Realismus der ersten Nachkriegsjahre schon der gewählte Stil keine ausgeprägte Multiperspektivität erlaubt. Wenn nun gerade diese realistischen Texte den Anspruch hatten, vom Kriegserlebnis zu berichten, und die frühen Gruppe-47-Mitglieder mehrheitlich im Krieg ‚Dabeigewesene‘ waren, konnte in solchem dokumentarischen Realismus der Holocaust formal keinen Platz finden.622 Um dem differenzierter zu begegnen, könnte nun beispielsweise wiederum der Stil der Texte berücksichtigt werden und es könnten nur noch solche Texte angesehen werden, die multiperspektivisch gehalten sind.

Solche mehrfaktoriellen Fragen können dank einer tabellarischen Liste mit simplen Excel-Funktionen angegangen werden, nämlich dem „Filtern“ (Daten

> Filtern) von Spalten, das es ermöglicht, nur noch diejenigen Spalten an-zeigen zu lassen, die in Bezug auf die jeweilige Frage interessieren, und dem Erstellen einfacher Diagramme anhand ausgewählter Kategorien (Einfügen >

621  Vgl. dazu auch Kap. 2.3.1 im vorliegenden Teil II der Studie. Eine recht auffällige Be-sonderheit, für die mit Bezug zur vorliegenden Fragestellung keine schlüssige Erklärung gefunden wurde und auf die nicht genauer eingegangen wird, ist die, dass bei der Frage, wer sich in irgendeiner Form als ‚schuldig‘ erweist, relativ oft ‚Pfarrer‘ eingetragen wurde. Denkbar ist beispielsweise ein Zusammenhang mit dem diffusen Existentialis-mus, dem sich viele wichtige Mitglieder der Gruppe 47 verpflichtet fühlten (vgl. Bigelow [2020]), oder sogar eine weitere Variante der Externalisierung von Schuld, da der ‚jungen Generation‘ ja gerade ihr „Nihilismus“ vorgeworfen wurde.

622  So auch Gansel im Zusammenhang mit Richters Roman Die Geschlagenen (vgl. Gansel 2011, S. 18); zu entgegnen wäre hier aber wiederum, dass diese monoperspektivische Form der Texte ja bereits einer formalästhetischen Entscheidung entspringt, die vielleicht ihrerseits Schlüsse über die partikularistische Perspektive der Verfasser zulässt; vgl. dazu auch Kap. 4.3.2 im vorliegenden Teil II der Studie.

Diagramme).623 Besonders die Filterfunktion erlaubt dank verschiedener Ein-stellungsmöglichkeiten Befunde, die händisch nur mit großem Aufwand ge-leistet werden könnten: Neben „ist gleich“ kann der Textfilter auch auf „ist nicht gleich“, „Beginnt mit“, „Endet mit“, „Enthält“ sowie „Enthält nicht“ eingestellt werden oder ein „Benutzerdefinierter Filter“ eingesetzt werden. So ist es bei-spielsweise möglich, nur diejenigen Texte anzeigen zu lassen, die einen männ-lichen Ich-Erzähler oder einen männmänn-lichen intern fokalisierten Protagonisten im personalen Erzählstil enthalten und explizit in Deutschland spielen und deren Protagonist der Wehrmacht angehört.

Zwar würden sich neben dieser einfachen Form der digitalen Auswertung auch ausdifferenziertere Möglichkeiten zum Umgang mit einem so großen Korpus anbieten; infrage kämen statistische Textauswertungen, Kollokations-analysen oder sogar quantitative, stilistische und EmotionsKollokations-analysen, die es wohl grundsätzlich sogar zuließen, Kontinuitäten quantitativ zu erheben, in-dem Ähnlichkeiten im Wortschatz und Stil oder sogar in der Rhetorik zwischen Texten aus der Zeit des Nationalsozialismus und Texten der Gruppe 47 eruiert werden könnten.624 Die Hauptschwierigkeit in diesem Zusammen-hang ist neben der Notwendigkeit technischer Kenntnisse, die besonders für komplexere Auswertungen Spezialisten/-innen erfordert, auch bereits die Tat-sache, dass frei zugängliche Texterkennungsprogramme (OCR) noch immer so viele Fehler produzieren, dass ein reines distant reading keine sicheren Ergeb-nisse bringen kann.625

Deswegen wird in der vorliegenden Studie nur ganz vereinzelt auf einige einfache Möglichkeiten, wie die digitale Auszählung einzelner Wörter und

623  Die Angaben beziehen sich auf Microsoft Excel 2013. Für die Publikation der Ergebnisse (vgl. Kap. 2.3.1 im vorliegenden Teil II der Studie) wurden die Diagramme grafisch ver-schönert (Definitiv Design, Bern).

624  Einen aktuellen Überblick über die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der digital humanities für große Textkorpora gibt beispielsweise die Studie von Sarah Bärtschi (2018);

herzlichen Dank an sie und an den Politikwissenschaftler und Statistiker Michael Schroll für die große Unterstützung beim Umgang mit Excel und R Studio.

625  Die Transformation von .pdf- in .txt-Dateien funktioniert deswegen auch bei qualitativ sehr hochwertigen Scans nur fehlerhaft. Buchstabenkombinationen wie „rn“ werden nicht von „m“ unterschieden, das deutsche „ß“ wird nicht erkannt, und für Frakturschrift gibt es auch nach wie vor keine kostenpflichtigen fehlerlosen OCR-Programme. Bei einer simplen Textsuche in mittelgroßen Korpora, wie sie auch in der vorliegenden Studie vor-genommen wird, kann dem begegnet werden, indem für Lexeme, die entsprechende

„Problemkombinationen“ enthalten, einfach auch die möglichen Fehllektüren (z. B.

„frernd“ statt „fremd“) sowie für den Fall, dass nur Teile des Worts richtig erkannt wurden, auch solche Wortteile (z. B. „emd“ oder „fre“) gesucht werden; simple Lösungen, die bei rein statistischen Auswertungen und Wortlisten in größerer Menge nicht möglich wären.

die etwas ausdifferenziertere statistische Erstellung von N-Grammen,626 zurückgegriffen.627 Für den Almanach wurde versuchshalber eine Trigramm-Analyse gemacht, die wegen möglicher kleiner Fehler in der Texterkennung im Dokument nicht vollkommen repräsentativ ist, aber zumindest einen groben Eindruck der Aussagekraft dieser Herangehensweise vermitteln kann:

Das interessanteste Ergebnis bei der Auszählung der häufigsten Trigramme war, dass die Wendungen „zum ersten Mal“628 und „in diesem Augenblick“629 jeweils sehr häufig und in unterschiedlichen Erzählungen aus der gesamten Almanach-Zeitspanne vorkommen. Inhaltlich entsprechen beide Wendungen erstaunlich genau der Idee des Nullpunkts, der Plötzlichkeit und des Fokus auf den Moment oder eben Augenblick. Dennoch zeigt dieses Ergebnis an-gesichts seiner Erwartbarkeit und des Aufwands, mit dem es erreicht werden kann, deutlicher die Schwierigkeiten eines solchen Verfahrens auf, als dass es interessante Ergebnisse gebracht hätte.

Aufschlussreicher ist diese Art der Auswertung meist bei einem langen Text eines / einer einzelnen Autors/-in. Das bestätigt die Trigramm-Analyse der

Aufschlussreicher ist diese Art der Auswertung meist bei einem langen Text eines / einer einzelnen Autors/-in. Das bestätigt die Trigramm-Analyse der

Im Dokument Kinder des Krieges, Gewissen der Nation (Seite 142-173)