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3. DER ‘NEUE MENSCH’ ALS GEGENENTWURF ZUM MENSCHEN

3.1 Vorbemerkung

3.2.3 Zwischen Gesellschaftskritik und Bürgerlichkeit

Bei einer Untersuchung der Haltung, die in Frank Wedekinds Text zur zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft eingenommen wird, ergeben sich im wesentlichen zwei Probleme. Zum einen ist nochmals daran zu erinnern, daß in Mine-Haha nur ein Teil von Wedekinds ursprünglichem Romanplan verwirklicht ist. Eine Behandlung auch der Jahre nach dem Einsetzen der Pubertät hätte natürlich ein anderes Porträt der Gesellschaft, als es sich in dem fragmentarischen Text gestaltet, sowie offensichtlich einen noch stärkeren Konflikt mit den wilhelminischen Moralvorstellungen und damit mit den Zensurbehörden zur Folge gehabt.136

Zum anderen hindert die Erzählhaltung in Mine-Haha den Leser daran, aus Wedekinds Text eine eindeutige Botschaft herauszulesen, was den Reiz der Beschäftigung mit dem Romanfragment allerdings eher steigert, als daß es ihn mindert. Seit der Ergänzung des Textes im Jahre 1903 erscheint Mine-Haha als ein von einem fiktiven Herausgeber, der sich selbst als Autor von Frühlings Erwachen bezeichnet, veröffentlichtes Manuskript. Bei diesem erzähltechnischen Kunstgriff handelt es sich, wie Wagener zu Recht festgestellt hat, um ein besonders in der Epik des 19. Jahrhunderts beliebtes Authentisierungs- und Distanzierungsverfahren.137

134 Vgl. hierzu Medicus (1982), 174ff 137 Vgl. Wagener (1979), 54.

Schwierigkeiten bei der Gleichsetzung des in Mine-Haha entworfenen Erziehungsprogramms mit Wedekinds eigenem Standpunkt ergeben sich außerdem aus einem weiteren Umstand: Auf der Grundlage des veröffentlichten Textes ist letztlich nicht eindeutig zu klären, inwieweit die Ich-Erzählerin mit der vierundachtzigjährigen Zimmemachbarin des fiktiven Herausgebers, die im Vorwort als Verfasserin des Manuskripts bezeichnet wird, identisch ist. Auffällig ist zunächst die Verschiedenheit der Namen - der Herausgeber bezieht sich auf eine pensionierte Lehrerin mit dem Namen Helene Engel, die Ich-Erzählerin des Manuskripts wird jedoch von ihren Gefährtinnen Hidalla genannt. Letztere erwähnt in ihren Aufzeichnungen mit keinem Wort eine Tätigkeit als Lehrerin.

Statt dessen spricht sie davon, im Alter von etwa 28 Jahren - offensichtlich zum Zwecke des Broterwerbs - Kleider entworfen zu haben (vgl. 108).138 Tatsächlich gibt der fiktive Herausgeber in seiner Nachschrift zu, im Nachlaß der verstorbenen Helene Engel keinen Hinweis auf den Inhalt des Manuskripts gefunden zu haben (vgl. 13S). Es bleibt also unklar, welche Beziehung genau zwischen Wedekind und Helene Engel bzw. Hidalla besteht.

Bereits zu Beginn ihrer Aufzeichnungen distanziert sich die Ich-Erzählerin deutlich von der Idee der Emanzipation der Frau, indem sie den Gedanken, eine Schriftstellerin zu sein, weit von sich weist. Selbst eine Prostituierte stehe in ihren Augen höher als eine Frau, die ihren Lebensunterhalt durch Journalistik oder Schriftstellerei verdiene (vgl. 88). Vielmehr sei es die völlige Verschiedenheit ihres eigenen Werdegangs von dem der sie umgebenden Frauen, die sie zur Niederschrift ihrer Erfahrungen veranlaßt habe. Aus dem Bewußtsein der eigenen Inkongruenz heraus ergibt sich für die Ich-Erzählerin eine kritische Haltung der zeitgenössischen Gesellschaft und Zivilisation gegenüber:

Indessen bin ich vielleicht gerade durch jene unglaublichen Lebenslagen zu der überlegenen Weltanschauung gelangt, von der aus mir heute unsere gesamte menschliche Kultur als eine ziemlich fragwürdige Errungenschaft erscheint (133).

Trotz ihrer kritischen Distanz zur zeitgenössischen Kultur und trotz ihres unbürgerlichen Lebenslaufes ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die Ich- Erzählerin selbst durchaus ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist. So erwähnt sie Rücksichten ihrem in ״ kleinlichen Verhältnissen“ (88) lebenden Sohn Edgar gegenüber, auf Grund derer ihre Aufzeichnungen möglicherweise nicht veröffentlicht werden könnten.

Auch einige Details in der Vorrede zeigen, daß die Erzählerfigur selbst in der bürgerlichen Gesellschaft verwurzelt ist: Vom Tod ihres ersten Mannes

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131 Auch der Titel eines unvollendeten Romanprojekts vom Ende der 1890er Jahre - H id a lla oder Das I^b e n einer Schneiderin - suggeriert, daß Hidalla eine Schneiderin sei Vgl dazu Kutscher (1964), 205.

erfährt sie aus der Wochenzeitschrift Gartenlaube - jenem Inbegriff kleinbürgerlicher Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Des weiteren läßt sich der Name der pensionierten Lehrerin, Helene Engel, als ironischer Verweis auf Helene Lange (1848-1930) deuten.139 Bei letzterer handelte es sich um einen der führenden Köpfe der Frauenbewegung und um die Mitautorin des Handbuchs der Frauenbewegung (1901 ff ) - um eine schreibende Frau also, über die Wedekind bereits am 1. Juni 1889 in seinem Berliner Tagebuch notiert hatte:

״ Eine Broschüre von Helene Lange über Frauenstudium droht, mich den Humor verlieren zu lassen.“ 140 Wie der fiktive Herausgeber in Mine-Haha dem Leser mitteilt, habe er bei dem Treffen mit der Vierundachtzigjährigen von

״ irgendwelcher Parteinahme für die Ziele der heutigen Frauenbestrebungen [...]

aus ihren Worten nichts entnehmen“ (87) können. Wedekind, der selbst der zeitgenössischen Frauenbewegung bekanntermaßen eher ablehnend gegenüberstand,141 spielt hier offensichtlich mit widersprüchlichen Signalen.

Sehr aufschlußreich für die uneindeutige Position der Ich-Erzählerin zwischen Bürgerlichkeit und Anti-Bürgertum ist auch ein genauerer Blick auf die Theaterszenen des ПІ. Teils. Das Theater bildet gewissermaßen die Schnittstelle zwischen Außenwelt und der hermetisch von ihr abgeriegelten ‘pädagogischen Provinz’. Zweifelsohne macht das Publikum der abendlichen Vorstellungen, das sich aus der Gesellschaft von außerhalb des Parks rekrutiert, in Hidallas Erzählung einen brutalen und primitiven Eindruck. Mathes ist daher der Meinung, daß Wedekind im Theaterpublikum ״ die Gesellschaft demaskiert, die sich durch gedankenlose Manipulation dieser Mädchen Genüsse an der Grenze zur Obszönität verschafft.“ 142 So einfach verlaufen jedoch die Fronten zwischen Park und Außenwelt nicht, denn schließlich ist an die Tatsache zu erinnern, daß die Erzählerin mit ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben selbst ein Teil dieser

״ besinnungslosen, wollusttrunkenen, rohen Menschenwelt“ (132) wird und als Zuschauerin auf der anderen Seite des Gitters sitzt. Gerade die Offenlegung der ökonomischen Verflechtungen zwischen Park und Außenwelt - aus den Einnahmen des Theaters werden die Unterhaltskosten der Erziehungsanstalt bestritten (vgl. 122) - zeigt deutlich, daß die Grenzen zwischen realer Gesellschaft und der Utopie einer besseren Gesellschaft in Mine-Haha nicht klar gezogen werden.

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139 Vgl. hierzu Höger (1981), 181

140 F Wedekind, D ie Tagebücher (1986), 47.

141 Kapp hat in seiner Arbeit von 1909 bereits auf Wedekinds kritische Haltung zu den Anliegen der Frauenbewegung aufmerksam gemacht. Vgl. dazu Kapp, 106ff Als neuere Veröffentlichung vgl. auch Muylaert (1985), 49ff.

142 Mathes (1982), 370.

Es bleibt also festzuhalten, daß die Figur der fiktiven Verfasserin des Manuskripts Helene Engel durch die erwähnten ironischen Verweise und die Widersprüche in ihrer Biographie offensichtlich zwischen Bürgerlichkeit und Rebellion angesiedelt wird. In dieser Uneindeutigkeit scheint sich die Position Wedekinds selbst widerzuspiegeln, der einerseits das bürgerliche Publikum mit seinen Stücken und Balladen schockierte, andererseits jedoch aus dessen Lust am Skandal geschickt Kapital zu schlagen verstand. Damit verliert der Gestus der Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft viel von seiner Ernsthaftigkeit und wird im wesentlichen zu einer spielerisch gestalteten Denkfigur. Insofern seien Zweifel angemeldet an der von Hans Wagener vertretenen Behauptung, die in Mine-Haha literarisch verarbeitete Idee der Schaffung eines 1neuen Menschen’ durch eine radikale Umgestaltung des Erziehungsprozesses sei Wedekind ״ bitterer Emst“ 143 gewesen.

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