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4. DER ‘NEUE MENSCH’ ZWISCHEN KÖRPER UND GEIST

4.3.3 Sanin - gesunder Geist im schönen Körper

Zeitgenössische Leser des Sanin haben den Gegensatz zwischen den beiden Hauptfiguren in ArcybaSevs Roman deutlich erkannt - die Kritikerin E. A.

Koltonovskaja beispielsweise schreibt: ״ В противовес здоровому, уравнове- шейному Санину, автор выводит в романе неврастеничного, нежизне- способного студента Юрия.“200 In Anbetracht der Tatsache, daß ArcybaSevs ursprünglicher Romantitel ,Jurij Svarožič“ lautete, ist sicherlich die Behauptung zutreffender, daß die Person Sanins als Kontrastfigur zu dem Technologiestudenten eingefügt wurde. Im Unterschied zu letzterem wird der Titelheld in ArcybaSevs Text als ein Charakter gezeichnet, der keinerlei Neigung zur Reflexion des eigenen Handelns aufweist und bei dem Wollen und Handeln miteinander in Einklang stehen.

ln diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der möglichen Bedeutung des Namens des zentralen Helden, der wiederum eine herausragende Rolle bei der Deutung des gesamten Romans zukommt. Nicht beachtet wurde von der Forschung bisher allem Anschein nach die Tatsache, daß der ArcybaSevsche Titelheld möglicherweise in der Hauptfigur des Kurzromans Vešnie vody [deutsche Titel: Frühlingsfluten und Frühlingswogen] (1872) von Ivan Sergeevič Turgenev einen direkten literarischen Vorgänger hat.201 Auch in Turgenevs Text spielt die mit Erotik gekoppelte Wassersymbolik eine gewisse Rolle.202

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199 O’Dell weist auf die deutliche Symbolik des mißlungenen Bildes hin Vgl dazu O’ Dell (1980), 105.

200 Koltonovskaja (1910), 109, Übersetzung: ״Als Gegengewicht zu dem gesunden, ausgeglichenen Sanin entw irft der Autor in seinem Roman die Figur des neurasthenischen, lebensunfähigen Studenten Jurij“ [Übers d V e rf ]

Diesen Hinweis verdankt der Verfasser Herrn Prof. Dr. Peter Thiergen (Bamberg)

202 Besonders deutlich wird dies im Kapitel X L II, vgl. dazu I. S. Turgenev, S očinenija, Bd. 8 (2. Aufl. 1981), 373fiF.

ArcybaSevs Sanin steht jedoch in deutlichem Kontrast zu Turgenevs Protagonist Dmitrij Pavlovič Sanin, der - mit Ausnahme der kurzen Rahmenhandlung - als charakterlich wenig ausgereifter und wankelmütiger junger Mann gezeichnet wird.

Da wiederum infolge der fehlenden philologischen Aufarbeitung des ArcybaSevschen Werks offenbleiben muß, inwieweit der Autor Turgenevs Text kannte, sei hier eher auf verschiedene Versuche verwiesen, ArcybaSevs Hauptfigur von der Etymologie ihres Namens her zu charakterisieren. Barchan hat bereits in einer frühen Rezension des Sanin den Namen des Titelhelden mit dem lateinischen Adjektiv sanus (‘heil, gesund’) in Verbindung gebracht.203 Tatsächlich steht in ArcybaSevs Roman die Propagierung einer als ‘gesund’

verstandenen neuen Lebensphilosophie im Vordergrund. Dieser werden die Lebensentwürfe anderer handelnder Personen - Semenov, Zarudin, Solovejčik sowie Jurij Svarožič - gegenübergestellt. Durch Tod bzw. Selbstmord werden die genannten Figuren als nicht lebensfähig charakterisiert.

Insofern erscheint die von Barchan vertretene Deutung von Sanins Namen wesentlich überzeugender als die von Ulrich Steltner vorgeschlagene Lesart:

Steltner vertritt die Auffassung, der Name des Titelhelden sei auf altkirchenslavisch sani (‘zur Schlange gehörig’) bzw. auf satanin zurückzuführen und somit als ״ ein Kryptogramm auf den Namen des Teufels“204 zu interpretieren.

Sanin würde demzufolge zu einer dämonischen Verführerfigur.

In die Richtung von Barchans Deutung weist auch Sanins Vorname Vladimir, der bisher in der einschlägigen Forschungsliteratur kaum beachtet wurde: Der nach wie vor häufig anzutreffende russische Name Vladimir leitet sich von den Morphemen {влад-} und {мир-} her205 und enthält insofern die semantischen Komponenten ‘herrschen’ und ‘Welt’. Somit wird Sanin auch durch seinen Vornamen zum urwüchsigen Kraftmensch stilisiert. Für diese Lesart spricht auch Sanins Patronym Petrovič, das von dem altgriechischen Substantiv petra (‘der Fels’) abgeleitet ist.206 Sanin erscheint demzufolge gewissermaßen als

‘Fels in der Brandung’, der konsequent seinen eigenen Weg geht, unbeint von allen zeitgenössischen ideologischen Modeströmungen.

Die drei Bestandteile von Sanins Namen lassen sich also als eine Kombination aus ‘Gesundheit’, ‘Wille’ bzw. ‘Fähigkeit zur Herrschaft’ und

‘Standhaftigkeit’ interpretieren Diese Deutung erfährt eine Bestätigung durch das

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203 Barchan (1909), 127 Auch Sally O’ Dell vermutet, der Name des Titelhelden in ArcybaSevs Roman sei von sanus abgeleitet. Vgl dazu O ’Dell (1980), 101

204 Steltner (1988), 238.

205 Vgl N. A. Petrovskij, S lo v a r’ russkich lićn ych !men (1995), 97. Lediglich Baloueff verweist in seiner Arbeit kurz auf die Etymologie des Namens Vladimir. Vgl. dazu Baloueff (1976), 169.

206 Vgl. Petrovskij (1995), 237.

Verhalten des Titelhelden: Anders als Jurij Svarožič erscheint Sanin in ArcybaSevs Roman immer wieder als Mensch des Körpers und der Tat. Auch in der Namenswahl für Sanins Antipoden mag man eine Chiffre für den Unterschied zwischen den beiden Hauptfiguren sehen. Baloueff zumindest vertritt diesen Deutungsansatz in seiner Arbeit, indem er Jurijs Familiennamen von Сварог, einem altrussischen Wort für ‘Himmel’ herleitet.207 Im Gegensatz zu dem ganz dem Hier und Jetzt seiner irdischen Existenz zugewandten Titelhelden ließe sich Jurij Svarožič somit als Vertreter des ‘alten Menschen’ einordnen, der der - nach der Botschaft des Romans - trügerischen Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits bzw. in der Zukunft anhängt.

Allerdings muß angemerkt werden, daß Sanin seinem eigenen antiintellektualistischen Programm nicht immer treu ist. So hat der Widerspruch zwischen der angeblichen Ablehnung festgefügter philosophischer Wertesysteme und der immer wieder bezeugten Bereitschaft des Titelhelden, seiner Umwelt gegenüber seine Theorien wortreich darzulegen, Rezensenten des Romans bereits früh zu ironischen Bemerkungen veranlaßt.208 Čukovskij weist insofern in seinem vernichtenden ArcybaSev-Aufsatz von 1908 unter Verwendung eines Wortspiels zu Recht daraufhin, daß Sanin keineswegs nur ein Mensch des Körpers ist.209

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4.4 Zusammenfassung

Die Tendenz zur übermäßigen Betonung des Körperlichen und der Versuch der Zurückdrängung des Geistigen lassen sich unschwer in beiden hier gegenübergestellten Werken erkennen. Äußere körperliche Merkmale werden zu einem entscheidenden - in Wedekinds Text sogar dem einzigen - Faktor bei der Charakterisierung der handelnden Figuren. Dabei läßt sich sowohl bei Wedekind als auch bei Arcybašev der Versuch der quasi-religiösen Verkultung des schönen

207 Vgl Baloueff (1976), 169f. In Sreznevskijs Wörterbuch des Altrussischen wird Сварог als Name der höchsten Gottheit der Slawen in vorchristlicher Zeit erwähnt Сварожич hingegen ist der Name von dessen Sohn. Vgl dazu I. I. Sreznevskij, S lo v a r' drevtterusskogo jazyka.

R eprinlnoe izdanie (1989), 265.

209 Vgl Barchan (1909), 128: ״G ott, was ist das fur ein Lebenskünstler, für eine siegreiche Kraftnatur, der seinem Mädel erst eine lange Vorlesung über den ‘ Körper’ und die ‘ Schönheit’

und die ‘ Begierde’ halten muß, bis er sie unterkriegt [...] Hie raisonnieren, hie agieren ist ein Unding “

209 Čukovskij (1908), 130: ״Санин хочет помыслов о том, что помыслы не нужны. Он логически доказывает, что логика бессильна.“ Čukovskijs Wortspiel ist nur annäherungsweise zu übersetzen als: ״ Sanin möchte sich darüber Gedanken machen, daß man sich keine Gedanken zu machen braucht. Er beweist logisch, daß die Logik nichts auszurichten vermag“ [Übers, d. Verf.],

Körpers erkennen. Bei allen Unterschieden zwischen Wedekinds Mine-Haha und ArcybaSevs Sanin ist diese Umkehr der bisherigen Wertehierarchie einer der wichtigsten Aspekte, die zum Vergleich der beiden Texte unter dem Gesichtspunkt der Suche nach dem ‘neuen Menschen’ berechtigen.

ln beiden Werken treten jedoch auch deutlich die Grenzen eines auf das rein Körperliche beschränkten Menschenbildes zutage. So macht die sich mit zunehmendem Alter immer weiter ausdifferenzierende Gefühlswelt der Mädchen in Mine-Haha das Leben in der Erziehungsanstalt, deren Funktionieren auf der Ausschaltung der Gefühle basiert, allmählich unmöglich. Im Sanin zeigt die Figur des Rittmeisters Zanidin, daß körperliche Attraktivität allein als Merkmal des propagierten ‘neuen Menschen’ nicht ausreicht. Körperliche Schönheit erscheint damit in ArcybaSevs Roman zwar als Begleiterscheinung einer ‘gesunden’

inneren Einstellung, nicht jedoch als deren Indikator.

Damit sind bereits wesentliche Differenzen zwischen beiden Texten angesprochen, die ihre Ursache in unterschiedlichen Anschauungen über die Entwicklung des Menschen haben - dies jedoch wird in den folgenden Abschnitten dieser Arbeit eingehender zu untersuchen sein. Festgehalten werden soll an dieser Stelle lediglich, daß Schönheit in Wedekinds Romanfragment auch als eine Folge von Erziehung dargestellt wird, während im Sanin suggeriert wird, daß Schönheit als Attribut des Gesunden und Starken von außen nicht formbar ist.

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