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Zweiter Differenzierungsansatz: Zwischen Historizität und Systematik, zwischen Induktion und Deduktion

4 Annotationen und die ‚Zirkularität‘ von Verstehens-/Erkenntnisprozessen

4.3 Zweiter Differenzierungsansatz: Zwischen Historizität und Systematik, zwischen Induktion und Deduktion

Abb. 2:Zweiter Differenzierungsansatz: zwischen Historizität und Systematik, zwischen Indukti-on und DeduktiIndukti-on

läufig den Annotationsprozess beeinflusst, jedoch aus einem solchen hervorgeht (und die Basis für weitere Annotationen darstellen kann).

Die beiden bisher beschriebenen ‚Zirkel‘ werden von zwei weiteren ‚Zirkeln‘

umspannt, deren heuristische Trennung sinnvoll erscheint, um weitere Klarheit über den Status von Annotationen in Forschungsprozessen zu erlangen (vgl.

Abb. 2).

4.3 Zweiter Differenzierungsansatz: Zwischen Historizität und Systematik, zwischen Induktion und Deduktion

4.3.1 Historizität – Systematik

In literaturwissenschaftlichen Forschungsprozessen lässt sich eine ‚Zirkularität‘

zwischen Historizität und Systematik beobachten, die verschiedene Facetten auf-weist, wobei sie zwischen Objekt- und Metasprache ‚zirkuliert‘. Zum einen ist der Gegenstand historisch, sodass zwischen der objektsprachlichen Historizität und der metasprachlichen Systematik zu vermitteln ist. Aus diesem Grund findet sich die Historizität auf der Seite des ‚objektsprachlichen Zirkels‘, allerdings bewegen sich beide spiralförmig um die ‚inneren Zirkel‘ (Objekt-/Metasprache), denn die

me-tasprachlichen Entscheidungen einschließlich des Theorie-Gebäudes sind selbst in historischen Kontexten verankert (vgl. Abb. 2 auf der vorherigen Seite). Dies gilt für die Toposforschung in besonderem Maße, aber letztlich auch für jüngere methodisch-theoretische Gerüste wie beispielsweise die Narratologie mit ihren Wurzeln im Strukturalismus.

Es gibt keine klaren Konventionen der Relationerung von Historizität und Systematik, sondern dies ist in einer jedem Forschungsprozess eigenen Konstel-lation von objektsprachlicher Gegenstands-Ebene einerseits und methodisch-theoretischem Zugang andererseits neu auszuloten. Verschiedene, eher selten explizit gemachte Standards liegen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zumeist zugrunde, beispielsweise der Anspruch einer ‚Passung‘ oder ‚Stimmigkeit‘ zwi-schen ‚Objekt‘ und ‚metasprachlichem Werkzeug‘. In diesem Kontext ist das von Gadamer geprägte Konzept der „Horizontverschmelzung“ von Interesse: In der Ver-mittlung von Historizität und Systematik gelte es demgemäß, sich dem historischen Gegenstand anzunähern, was eine Erschließung des (historischen) Horizonts des Textes voraussetzt und letztlich einen unabschließbaren Prozess darstellt (vgl.

Ahrens 2008, 283). Offen bleibt in der Regel, wie eine solche Annäherung zu opera-tionalisieren ist (‚implizites Wissen‘). Auch jenseits einer ‚Horizontverschmelzungs-Norm‘ kommt es in der Literaturwissenschaft häufig zu Vermengungen von Objekt-und Metasprache, die nicht immer als dem ‚spiralförmigen‘ Prozess dienliche Überlagerungen zu bewerten sind (vgl. Fricke 1977, 148 ff.).

Topoi bergen als zwischen Objekt- und Metasprache stehende Kategorien heuristische Herausforderungen und darin zugleich ein besonderes Reflexionspo-tential. So zeigt sich eine zusätzliche Problematik im Hinblick auf die Vermittlung von Historizität und Systematik darin, dass Topoi als Kategorien historische Re-kurrenzphänomene (auf objektsprachlicher Ebene) benennen und zugleich als Kategorien eines relationalen Gefüges (metasprachlich) fungieren. Dabei stellte sich im Rahmen der (Re-)Konstruktion die Frage, wie die Benennung angesichts der verschiedenen ‚Zirkel‘ zu gestalten ist. Eine Orientierung an der sprachlichen Erscheinungsform des Rekurrenzphänomens auf der Primärtext-Ebene wurde bevorzugt und demnach beispielsweise die wiederkehrenden Variationen des ‚Ma-lerischen‘ bewusst nicht als ‚Pittoreske‘-Topos benannt, sondern als Topos des Malerischen. Damit sollte eine möglichst induktive, gegenstandsnahe (Re-)Kon-struktion der historischen Muster in Verbindung mit einer entsprechend möglichst geringen Durchsetzung mit metasprachlichen sowie mehrsprachigen Vorprägun-gen gewährleistet werden.³⁰

30Auf die Präsenz des Topos in Reiseberichten und dessen Verankerung in ästhetischen Diskur-sen des 18. und 19. Jahrhunderts wurde bereits wiederholt hingewieDiskur-sen (vgl. z. B. Choné 2015, 257,

Annotationen als Ergebnisse

Annotationen als Analyseraster/

‚Werkzeug‘

Annotationen als ...

... dynamische Kategorien/

Zwischenergebnisse/

‚bewegliches Raster‘

Abb. 3:Unterschiedliche Annotationsformen in Abhängigkeit vom Forschungsdesign

4.3.2 Induktion – Deduktion

Eine weitere ‚Zirkularität‘ lässt sich über zwei komplementäre Prozesse differen-zieren, die jeweils ungefähr den epistemologischen Verfahren der Deduktion (vom Allgemeinen zum Besonderen odertop-down) sowie der Induktion (vom Beson-deren ins Allgemeine bzw.bottom-up) entsprechen. Die Bewegungsrichtung von als relativ stabil angenommenen metasprachlichen Kategorien (beispielsweise der Narratologie), die auf ein Objekt appliziert werden, geht damit einher, dass diese als Annotationshorizont für die Textanalyse greifen – als Analyseraster, das sich über ein textuelles Objekt spannt und sich in Annotationen niederschlägt. Die An-notationskategorien liegen in diesem Fall bereits zu Beginn vor und verändern sich nicht. Genau entgegengesetzt verläuft die Bewegung in induktiven Verfahren, bei denen im Prozess des Annotierens erst die Kategorienbildung erfolgt, sodass

An-Schmidhofer 2010, 356–359). Durch die Benennung als Topos desMalerischenwird eine Überlage-rung mit kunsthistorischen und bildungssprachlichen sowie Mehrsprachigkeits-Dimensionen des

‚Pittoresken‘ vermieden. Vgl. zu einer anderen begrifflichen Entscheidung bei gleichem Befund im Hinblick auf die Primärtext-Rekurrenzen: „Japan war das Land des Pittoresken und während in der englischsprachigen Japanliteratur der Terminuspicturesquejene Bezeichnung darstellte, die am häufigsten […] Verwendung fand, stand in den deutschsprachigen Berichten das Adjektiv malerischan erster Stelle.“ (Schmidhofer 2010, 357)

notationskategorien als (Teil-/Zwischen-)Ergebnisse aus dem Prozess hervorgehen (vgl. Abb. 2 auf Seite 146 und Abb. 3 auf der vorherigen Seite).

Idealtypisch lassen sich Forschungsprozesse unterscheiden, die induktiv oder deduktiv organisiert sind oder sich zwischen beiden Verfahren bewegen. Es sei an dieser Stelle angesichts einer interdisziplinär kaum überschaubaren Rezeption des

‚Abduktions‘-Begriffs dahingestellt, inwiefern für die letztgenannten der Begriff

‚abduktiv‘ geeignet ist.³¹ Wenngleich der Fall der Abduktion wenig klar ist, so lässt sich davon ausgehen, dass Annotationen in nicht-deduktiven Forschungs-prozessen maßgeblichen Anteil am Erkenntnisprozess³² haben.³³ Für diejenigen methodischen Verfahren, die sich zwischen Induktion und Deduktion hin- und herbewegen, kann gelten, dass diese den grau markierten ‚Außen-Zirkel‘ (vgl.

Abb. 2 auf Seite 146) ‚aktivieren‘. In einem solchen ‚Zirkel‘ spielt fortwährendes Vergleichen eine zentrale Rolle.³⁴

‚Zirkuläre‘ Erkenntnisprozesse prägen sowohl geistes- und speziell literatur-wissenschaftliche Heuristiken als auch andere Disziplinen wie die qualitative

31 Inwiefern und unter welchen Bedingungen ein solches Verfahren, das Induktion und Abdukti-on integriert, als ‚abduktiv‘ zu bezeichnen wäre, ist innerhalb derGrounded Theorynicht geklärt und auch darüber hinaus angesichts einer komplexen Rezeptionsgeschichte des Peirce’schen

‚Abduktions‘-Begriffs nicht ohne Weiteres zu beantworten (vgl. Strübing 2008, 44–47, vgl. Nantke 2017, 86 ff.). Die Abduktion steht zwar zwischen Induktion und Deduktion, sodass beispielsweise Teilprojekte des hermA-Projekts als induktiv, deduktiv oder abduktiv charakterisiert werden (vgl.

Gaidys et al. 2017, 122 f.). Allerdings liegt sie doch deutlich auf einer anderen Ebene: Während In-duktion und DeIn-duktion logische Schemata darstellen (die in heuristische Bewegungen überführt werden können), so stellt die Abduktion eine Etappe in einem idealtypischen Verfahrensablauf dar. Vgl. dazu beispielsweise die folgende Problembeschreibung: „Die Wege der Entwicklung des Abduktions-Begriffs im Peirce’schen Denken erscheinen verschlungen, und dessen unterschiedli-che Erläuterungen in Sekundärdarstellungen sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Eine Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass bei den Begriffs-Explikationen die (aussagen-)logischeund die (erkenntnis-)prozessualeEbene mitunter in einen Teig geknetet werden.“ (Breuer et al. 2019, 58; Herv. i. O.) Vgl. dazu auch den Beitrag von Lina Franken, Gertraud Koch und Heike Zinsmeister, bes. S. 92 f. in diesem Band.

32Betont man im KompositumErkenntnis-Prozesseher die ‚Erkenntnis‘-Seite, dann stellen die Annotationen tendenziell eher (Zwischen-)Ergebnisse dar; hebt man eher die ‚Prozess‘-Seite hervor, so stellen sich die Annotationen als Werkzeug oder bewegliches Raster dar.

33Vgl. für eine Relationierung der drei grundlegenden Verfahren Induktion, Deduktion und Abduktion mit dem jeweiligen Status von Annotationen bzw. des Annotierens den Beitrag von Lina Franken, Gertraud Koch und Heike Zinsmeister in diesem Band. Vgl. dazu auch die Beschreibung des hermA-Projekts in Gaidys et al. 2017.

34 Auch in der Grounded Theory gilt es als zentral, dass kontinuierliches Vergleichen zur Bildung gegenstandsbezogener theoretischer Konzepte führt. Vgl. z. B. Strübing (2008, 18).

Sozialforschung.³⁵ Im Vergleich mit der im letztgenannten Bereich anzusiedelnden Grounded Theoryist auffällig, dass der ‚Zirkel‘ zwischen Induktion und Deduktion in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig untergliedert oder anderweitig systematisch betrachtet ist. Geht man davon aus, dass das ‚Kodieren‘ im Sinne derGrounded Theoryin einiger Hinsicht vergleichbar mit dem literaturwissen-schaftlichen ‚Annotieren‘ ist,³⁶ so wäre eine Frage, inwiefern sich verschiedene Annotationsphasen angelehnt an die Differenzierung von ‚offenem‘, ‚axialem‘ und

‚selektivem Kodieren‘ unterscheiden lassen.³⁷ Während die Literaturwissenschaft an dieser Stelle von der stärker differenzierten Modellierung des heuristischen Prozesses in derGrounded Theoryprofitieren könnte, so ist umgekehrt auffällig, dass die „hermeneutische Zirkelbewegung als Erkenntnisfigur“ geltend gemacht wird: Diese wird explizit als Spirale modelliert, in deren Kern ein Vor-/Verständnis (t1) liegt, das eine bestimmte Ereignis-Deutung leitet, welche wiederum das Ver-ständnis hin zu einem erweiterten VerVer-ständnis (t2) verändert, das dann wiederum eine Ereignis-Deutung 2 leitet (vgl. Breuer et al. 2019, 55).³⁸

Lässt man sich auf die mit Visualisierungen einhergehende Komplexitätsre-duktion ein, so ist festzuhalten, dass sich der Status von Annotationen je nach epistemologischem Verfahren (Induktion, Deduktion oder eine Integration beider) ändert und dass für den beschriebenen (Re-)Konstruktionsprozess von Topoi dy-namische Annotationskategorien anzusetzen sind (vgl. Abb. 3 auf Seite 148). Topoi und Annotationen sind einander in ihrer charakteristischen Scharnierfunktion – zwischen Praxis und Theorie, Objekt- und Metasprache oder Untersuchungsgegen-stand und -methode – ähnlich.

Von diesem Befund ausgehend lässt sich anhand der vier ‚Zirkel‘ die Spezifik eines Forschungsprozesses visualisieren. Als charakteristisch für die Topik, wie sie in der Auseinandersetzung mit Rekurrenzphänomenen der Indienreiseberichte um 1900 operationalisiert wurde, kann das Ineinandergreifen von (Re-)Konstrukti-onsprozess einerseits und (Re-)Modellierung andererseits gesehen werden (vgl.

35 Auch Rapp sieht die Verwandtschaft dieser Disziplinen, in denen im Hinblick auf das Annotie-ren von Quellen und Bilden von Kategorien Gemeinsamkeiten bestehen, allerdings „derzeit nur wenig Austausch zwischen den Communities“ (Rapp 2017, 259) herrscht.

36 Vgl. den Beitrag von Lina Franken, Gertraud Koch und Heike Zinsmeister, S. 90 in diesem Band.

37 Im Sinne der für die Theoriebildung erforderlichen Komplexitätsreduktion folgen verschiedene Formen des ‚Kodierens‘ aufeinander, wobei der Weg von größtmöglicher Offenheit der Annotati-onskategorien (‚offenes Kodieren‘), über eine zunehmende Eingrenzung (‚axiales Kodieren‘) zur schließlich reduzierenden Selektion und Überprüfung (‚selektives Kodieren‘) führt (vgl. Breuer et al. 2019, 269–286).

38 Auch in diesem Kontext wird zwar die begriffliche Ungenauigkeit des ‚Zirkels‘ thematisiert, aber dieser dennoch nicht verabschiedet (vgl. Breuer et al. 2019, 55; Herv. i. O.).

Korpus

Textstelle

Einzel-text

Gesamt-menge Kategorien

Einzel-kategorien

Theorie₁ Theorie₂ (Re-)Konstruktion

von Topoi

(Re-)Model lierung der Topik

Abb. 4:(Re-)Konstruktion von Topoi und (Re-)Modellierung der Topik

Abb. 4). Dies könnte sich in weiteren Operationalisierungen anders gestalten, beispielsweise, wenn im Anschluss an diesen (Re-)Konstruktionsprozess die 150 Topoi als Analyseraster für die Untersuchung von Vergleichskorpora fungierten und daher der Prozess eher als deduktiv zu begreifen wäre.