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Zusammenfassender Kennwert der Gesundheitswirkung von Gesamtlärm

Im Dokument 60/2019 (Seite 63-70)

2 Weiterentwicklung eines Konzeptes zur Gesamtlärmbewertung auf Grundlage der VDI 37- 50

2.3 Regelungslücken der VDI 3722-2

2.3.3 Bewertung der VDI 3722-2 unter Gesundheitsschutzaspekten und Unterbreitung von

2.3.3.2 Zusammenfassender Kennwert der Gesundheitswirkung von Gesamtlärm

Für eine Abschätzung der gesamten gesundheitsbezogenen Wirkung von Gesamtlärm bzw. zur Bewertung von gesamtlärmreduzierenden Maßnahmen kann es sinnvoll sein, anstelle oder zu-sätzlich zur Betrachtung der einzelnen Wirkungen (Belästigung, Schlafstörungen, diverse Erkran-kungsrisiken) eine Methodik anzuwenden, mit der die verschiedenen Wirkungsbereiche integriert werden und somit eine Gesamtwirkungsabschätzung vorgenommen werden kann. Dies kann ent-weder ein Verfahrensvorschlag zum Prozess einer sukzessiven Wirkungsbetrachtung sein oder die Definition eines Einzahlkennwertes sein, der die Gesundheitswirkungen einschließlich Belästi-gung und Schlafstörungen summarisch zusammenfasst (SMPH: summary measure of population health).

Der Vorteil eines SMPH-Index liegt in der Komplexitätsreduzierung und dem einfachen Vergleich von Planungsszenarien anhand eines Einzahlwertes. Nachteilig ist, dass ein solcher Index für das Zusammenfügen von sehr unterschiedlichen Lärmwirkungen wie z.B. Lärmbelästigung und Herz-erkrankung entweder (hinterfragbare) Setzungen von Gewichten benötigt, mit denen diese unter-schiedlichen Wirkungen aufsummiert werden oder unrealistischerweise von einer Gleichsetzung des Schweregrads der Wirkungen ausgeht.

Es wird daher empfohlen, für die Gesamtlärmwirkung nicht nur einen summarischen SMPH-Index (Gesamtlärmwirkungsindex) anzugeben, sondern stets auch den Wert pro Wirkungsbereich, um das Zustandekommen und damit eine bessere Interpretierbarkeit des SMPH-Index zu ermögli-chen.

Ein Beispiel für ein SMPH-Index wäre die Berechnung der durch Erkrankungen oder vorzeitigem Tod verloren gegangenen gesunden Lebensjahre (disability-adjusted life years, DALY), die von der WHO zur Abschätzung der Gesundheitswirkung von Umgebungslärm angewandt wurde (WHO, 2011). Dabei werden die Gesundheitswirkungen durch die Anzahl des Verlusts gesunder Jahre dargestellt. Ein Beispiel für eine sukzessive Wirkungsbetrachtung wäre die Methodik der Bewer-tung flugbetrieblicher Maßnahmen im Rahmen der Lärmaktionsplanung am Flughafen Berlin-Brandenburg von ACCON (Pelz, 2015). In anderen Noise-Impact-Assessment-Ansätzen wird die

„Anzahl beeinträchtigter Personen“ durch den Lärm einer Quellenart bestimmt. Dies gilt zum Bei-spiel für den Züricher Fluglärmindex, der die Anzahl belästigter und schlafgestörter Personen be-schreibt (Brink et al., 2010). Andere Indizes, wie der Frankfurter Fluglärm-Tagesindex FTI und der Nachtindex FNI berechnen das absolute Ausmaß an Beeinträchtigung in der Region um den Frankfurter Flughafen getrennt nach Wirkungsbereich (FTI: Anzahl hoch belästigter Personen, FNI: Anzahl von zusätzlichen, fluglärmbedingten Aufwachreaktionen). Dieses Prinzip der Zählung von absoluten Wirkungen getrennt nach Wirkungsbereich besteht mit der aktuellen VDI 3722-2 allerdings schon, hier derzeit getrennt für die Zahl der (hoch) belästigten und (hoch) schlafgestör-ten Personen.

Zu den weiteren im Lärmbereich angewandten Verfahren zur Wirkungsquantifizierung zählen u.a.

der Index CHERIO (Community health-based environmental risk indicator for outdoor pollutions) von Houthouijs (2015) und der in Frankreich verwendete Indikator lärmbezogener Gesundheits-risiken nach Baulac et al. (2010). Mit dem CHERIO-Index wird das DALY-Verfahren auf die Bewer-tung der Gesundheitswirkungen von UmweltbelasBewer-tungen (darunter Lärm) in Bezug auf eine

„Durchschnittsperson“ anstelle einer spezifischen Population angewandt. Berechnet wird nicht die absolute Anzahl verlorener, gesunder Lebensjahre innerhalb der betrachteten Studienregion, sondern der Prozentwert verlorener Zeit bezogen auf eine Durchschnittsperson. Ansonsten ent-spricht die Berechnung dem des DALY-Verfahrens, das im Folgenden genauer vorgestellt wird.

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Der französische Index nach Baulac beinhaltet die Berechnung des %HA- und %HSD-Anteils für Schienen- und Straßenverkehrslärm bezogen auf alle Einwohner eines lokalen Gebiets, sog. IRIS3 mit einer ca. 2000 Einwohner umfassenden Gebietsgröße. Die %HA- und %HSD-Anteile werden jeweils pro Geräuschquellenart auf eine Skala von 0 bis 10 gebracht und aufaddiert. Anschließend werden kardiovaskuläre Erkrankungen, die Gebäudenutzungsart (z.B. „sensible Gebäude“ wie Schulen, Krankenhäuser) und das Vorhandensein von Grünanlagen additiv als Beitragsfaktoren hinzugezählt. Der Index stellt eine sehr vereinfachte Form einer Gesundheitsbewertung dar. Er kann, da die Ausgangsbasis Gebäude und die Einwohner innerhalb eines Gebäudes sind, für unter-schiedliche lokale Gebietsgrößen (z.B. für Neubau-Wohngebiete) berechnet werden und erlaubt prinzipiell auch einen Maßnahmenvergleich. Positiv ist die Berücksichtigung situativer Faktoren wie der Grünanteil und die „Gebäudesensibilität“ Die Berücksichtigung der kardiovaskulären Wir-kungen des Straßen- und Schienenverkehrslärms durch einen willkürlich gesetzten Beitragsfaktor erfolgt angesichts der inzwischen bestehenden Befundlage zu verkehrslärmbedingten Erkran-kungsrisiken allerdings sehr unzureichend. Das DALY-Verfahren sowie die Berechnung der An-zahl gesundheitlich beeinträchtigter Personen (oder Fälle) zählen zu den wichtigsten Indizes, die im Weiteren genauer vorgestellt werden.

Environmental burden of disease

Der Index DALY ist ein gesundheitskorrigiertes Maß der Lebensjahre (HALY, health-adjusted live years; Gold, 2002). Es beschreibt die Anzahl verlorener gesunder Lebensjahren (Tobollik, M., Plaß, D., Steckling, N. et al., 2018). DALY ist die Summe der potentiellen Anzahl verlorener Lebensjahre durch vorzeitigen Tod (YLL, years of life lost) plus der Anzahl von Lebensjahren gelebt mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung (YLD, years lived with disability/disease). YLL ergibt sich aus der An-zahl von Todesfällen (in Altersgruppen oder vereinfacht alters- und geschlechtsungewichtet) mul-tipliziert mit der verbliebenen Lebenserwartung in Jahren von Männern bzw. Frauen im Sterbeal-ter (WHO, 2011, 2017). YLD ist das Produkt von inzidenten Erkrankungsfällen, der durchschnittli-chen Erkrankungs-/Behinderungsdauer in Jahren und einem Beeinträchtigungsgewicht (disability weight - DW), das den Schweregrad der Erkrankung im Wertebereich von 0 (völlig Gesundheit) bis 1 (Tod) ausdrückt. Ein weiterer Adjustierungsfaktor stellt das time discounting dar, das die soziale Präferenz eines gesunden Lebensjahres (höhere Präferenz) jetzt oder in der Zukunft (ge-ringere Präferenz) reflektiert (Prüss-Üstün et al., 2003).

Das positive Gegenstück zum DALY ist das Maß QALY (quality-adjusted live years), das die Qualität (im Wertebereich von 0 bis 1) der altersbedingt verbleibenden Lebenserwartung beschreibt. Die-ses Maß wird oftmals zur Kosten-Nutzen-Abschätzung von gesundheitsbezogenen Interventionen verwendet (Sassi, 2006). Zur Quantifizierung umweltbedingter Krankheitslasten (environmental burden of disease) wird allerdings das DALY-Verfahren verwendet.

Um den Anteil von DALYs zu einer Beeinträchtigung zu bestimmen, der auf einen bestimmten Ri-sikofaktor (hier: Umgebungslärm) zurückzuführen ist, wird das Produkt aus dem DALY und der populationsbezogenen attributablen Fraktion (PAF) bestimmt. Die PAF beschreibt den Anteil der Erkrankung/Beeinträchtigung in der Bevölkerung, der durch den Risikofaktor (Lärm) verursacht wird und über das Risiko der nicht-exponierten Bevölkerung hinausgeht. In absoluter Anzahl aus-gedrückt, d.h. mit der Anzahl der Erkrankten in der betrachteten Gesamtpopulation multipliziert, ergibt dies das populationsbezogene attributable Risiko (PAR) – vgl. Abbildung 3.

3 IRIS ist im Französischen das Acronym für aggregierte Einheiten für statistische Informationen (Ilots Re-groupés pour l'Information Statistique). Hier bezieht sich IRIS auf lokale Gebietseinheiten in der Größen-ordnung von 2000 Einwohnerinnen/Einwohner, in die Frankreich aufgeteilt ist.

65 Abbildung 3: Populationsbasiertes attributables Risiko

Die PAF ergibt sich aus den in Originalstudien ermittelten relativen risikofaktorbedingten Erkran-kungsrisiken (Odds Ratio OR, relative Risks RR) – vgl. Prüss-Üstün, et al., 2003; WHO, 2011. Die Gesundheitsbeeinträchtigung durch Lärm (Burden of Disease from Environmental Noise, BoDEN), ausgedrückt in dem durch Lärm verursachten Verlust an gesunden Lebensjahren, ergibt sich also pro Wirkungsbereich wie folgt:

BoDEN = PAF * DALY. (2)

Das DALY-Maß wird von der WHO u.a. zur regelmäßigen Bestimmung des Global Burden of Dise-ase (GBD), d.h. der Quantifizierung des Gesundheitszustands bzw. Krankheitslast einer Bevölke-rung (in Regionen, Staaten) und der verursachenden Risikofaktoren verwendet (u.a. WHO, 2017).

Für die Gesundheitswirkungen durch Umgebungslärm wurden Ergebnisse von DALY-Berechnun-gen für Europa im WHO-Bericht von 2011 veröffentlicht. Die DALY-BerechnunDALY-Berechnun-gen erfolgten für Herz-Kreislauferkrankungen, kognitive Leistungsbeeinträchtigung von Kindern, Schlafstörungen, Tinnitus und Lärmbelästigung. Ein kritischer Faktor bei der DALY-Berechnung ist die Bestim-mung des Beeinträchtigungsgewichts (DW), das im Allgemeinen von Expertengremien festgelegt wird. Für die verschiedenen Gesundheitswirkungen von Lärm werden in der Literatur bezogen auf den europäischen Raum unterschiedliche DW genannt (EEA, 2010; WHO, 2010, 2011, 2012) - Tabelle 3.

0 10 20 30 40 50 60 70

Nicht exponiert Exponiert

Risikograd

Nicht exponiert Exponiert

Quelle: Eigene Darstellung nach Prüss-Üstün et al. (2003)

Populationsbasiertes attributables Risiko

+

-Attributables Risiko

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Der Vorteil der DALY-Berechnung besteht darin, dass es sich um ein standardisiertes, internatio-nal etabliertes Verfahren handelt, mit dem verschiedene Wirkungen (z.B. Belästigung, ischämi-sche Herzerkrankungen) in einer nachvollziehbaren, verständlichen „Einheit“ (Verlust an gesun-den Lebensjahren) ausgedrückt wergesun-den können (WHO, 2011).

Die Verfügbarkeit der Eingangsdaten für die Berechnung der Größen YLL, YLD, DW ist auf lokaler Ebene nicht gegeben, so dass hier bundesländerbezogene oder bundesweite Bevölkerungsanga-ben als „StandardbevölkerungsangaBevölkerungsanga-ben“ zugrunde zu legen sind. Damit wird allerdings auch dem Problem begegnet, dass lokale Fluktuationen in der Bevölkerung, die zu Verschiebungen in loka-len DALY-Berechnungen führen würden, unberücksichtigt bleiben können. Allerdings bleibt bei der DALY-Berechnung das Problem, dass gerade für die Berechnung des Verlusts an Lebensjahren Annahmen z.B. zur Dauer von Erkrankungen und Lebenserwartungen erforderlich sind, die Set-zungen darstellen und auf lokaler Ebene nicht unbedingt gültig sein müssen. Solange die DALY-Berechnung für Planungszwecke bzw. für einen Maßnahmenvergleich erfolgt, führt dies dennoch zu interpretierbaren Ergebnissen: Die vorzunehmenden Setzungen gelten für alle Planungsszena-rien. Damit können diese untereinander verglichen werden. Dennoch wäre eine vereinfachte und möglicherweise auch allgemein verständlichere Lösung denkbar, bei der anstelle verlorener ge-sunder Lebensjahre die Zahl beeinträchtigter Personen bzw. Fälle berechnet wird und die die „Be-einträchtigungen“ Lärmbelästigung, Schlafstörungen und Erkrankungsfälle einschließt. Mit Hilfe der im DALY-Verfahren angewandten Beeinträchtigungsgewichte können die für die verschiede-nen Wirkungsbereiche des Gesamtlärms ermittelten Beeinträchtigungszahlen zu einem Index auf-summiert werden.

Tabelle 3: Beeinträchtigungsgewichte (DW) für verschiedene Gesundheitsbeeinträchtigungen

DW EEA (2010) WHO (2010) WHO (2011) WHO (2012)

Herzinfarkt

(auch als Proxy für ischämische Herzerkrankungen insgesamt)

0,406 0,23 - 0,395 0,405 0,230

Akute Ischämische Herzerkrankungen gesamt 0,350 0,350 -

0,352

Kognitive Beeinträchtigung von Kindern 0,006

Schlafstörungen 0,070 0,090 0,070 0,070

Tinnitus 0,120

Belästigung 0,01 / 0,02 0,02

Anzahl von Beeinträchtigungsfällen durch Umgebungslärm

Für die durch Umgebungslärm bedingten Belästigungen und Schlafstörungen können die Zahl der beeinträchtigten Personen über Expositions-Wirkungsfunktionen und Bevölkerungszahlen be-stimmt werden. Ebenso kann die Zahl von Erkrankungsfällen über Funktionen populationsbasier-ter Risiken ermittelt werden. Diese getrennt pro Wirkungsbereich berechneten Beeinträchti-gungszahlen können einerseits mittels Beeinträchtigungsgewichten aufsummiert werden oder sie können für Planungszwecke getrennt in einem gestuften Scoring-Verfahren dargestellt werden.

Ein Beispiel für ein gestuftes Scoring-Verfahren wurde von ACCON (Petz, 2015) im Rahmen der

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Lärmaktionsplanung am Flughafen Berlin-Brandenburg vorgeschlagen, mit dem eine Bewertung der Auswirkungen flugbetrieblicher Maßnahmen auf die Belästigung, Schlafstörung und das koro-nare Herzerkrankungsrisiko durch die Gesamtlärmbelastung im Betrachtungsraum vorgenom-men wird. Eggers et al. (2017) haben ebenfalls dieses gestufte Verfahren in abgewandelter Form (ohne Gesamtlärmbetrachtung) zur Bewertung von Flugrouten aus Lärmwirkungssicht ange-wandt. Im Rahmen dieses Verfahrens wird zunächst die Gesamtlärmbelastung für 24 Stunden und für die Nachtzeit wirkungsbezogen auf den %HA- und %HSD-Anteil nach der VDI 3722-2 ermittelt.

Weiterhin wird unter Rückgriff auf Ergebnisse der Metaanalyse von Babisch (2014) das attribu-tive Risiko für koronare Herzerkrankungen durch Straßenverkehrslärm bestimmt. Die weitere Maßnahmenbewertung erfolgt dann gestuft. Zunächst wird der Effekt verschiedener Planungssze-narien (Maßnahmen) auf das attributive Risiko koronarer Herzerkrankungen betrachtet und ge-prüft, ob die Zahl der Erkrankten das gesetzte Abwägungskritierium von 15% gegenüber der Aus-gangsvariante überschreitet (führt zu Ausschluss des Szenarios) bzw. unterschreitet (führt zur Beibehaltung des Szenarios). Verbleiben mehrere Varianten, werden diese anhand der Zahl der hoch Schlafgestörten geprüft. Wird dabei das gesetzte Abwägungskriterium von mindestens 5%

Reduzierung gegenüber der Ausgangsvariante von mehreren Varianten eingehalten, werden die verbleibenden Varianten anhand der Zahl der hoch Belästigten und des 5%-Abwägungs-kriteri-ums geprüft. Mit dem gestuften Scoring-Vorgehen und der dabei getrennten Betrachtung der ver-schiedenen Wirkungsbereiche werden (willkürliche) Setzungen vermieden wie sie bei Zusam-menfassung der Wirkungsbereiche erforderlich sind. Dazu gehört z.B. die Einführung der Beein-trächtigungsgewichtung (DW). Allerdings gewinnt das gestufte Scoring-Verfahren an Komplexität, je mehr Wirkungen berücksichtigt werden, da dann immer mehr Abstufungsschritte hinzukom-men. So wäre es denkbar, neben koronaren Herzerkrankungen auch weitere vaskuläre Erkran-kungen wie Schlaganfall einzubeziehen oder auch mit Umgebungslärm assoziierte psychische Er-krankungen wie Depressionen, die in letzter Zeit zunehmend Beachtung finden. Bei mehreren be-rücksichtigten Krankheiten stellt sich dann die Frage, wie die Reihenfolge der Stufen festzulegen ist.

Ein gestuftes Scoring-Verfahren gelangt schnell an seine Grenzen, je mehr Wirkungsbereiche in die Gesamtlärmbewertung einbezogen werden. Dem gegenüber ist ein Summen-Index flexibler, solange es gelingt, verschiedene gesundheitsbezogene Lärmwirkungen auf eine „Einheit“ zu brin-gen. Diese Einheit sollte ebenso wissenschaftlich fundiert wie praxisgerecht, auf lokaler Ebene an-wendbar sein und.

Die in der VDI 3722-2 bereits berücksichtigten Wirkungen Lärmbelästigung (%HA, %A) und (be-richtete) Schlafstörungen (%HSD, %SD) haben in Verbindung mit der Einwohnerzahl im Untersu-chungsgebiet als gemeinsame „Einheit“ die Anzahl der beeinträchtigten Personen. Sofern entspre-chende quantifizierte Expositions-Wirkungsbeziehungen darüber hinaus für Risiken von umge-bungslärmrelevanten „Leiterkrankungen“ bereit stehen, können daraus die PAF und schließlich die Zahl der zusätzlich durch Lärm erkrankten Personen im Untersuchungsgebiet (PAR) ermittelt werden. Das PAR wird als Anteil von insgesamt durch die betreffende Krankheit erkrankten Per-sonen im Untersuchungsgebiet berechnet. Sofern keine Gesundheitsdaten aus dem Untersu-chungsgebiet vorliegen, kann näherungsweise die allgemeine Prävalenz der betreffenden Erkran-kung – etwa aus der bundesdeutschen Gesundheitsberichterstattung des Robert-Koch-Instituts – herangezogen werden.

Liegen Quellenartunterschiede bzgl. der Wirkung von Umgebungslärm auf Erkrankungsrisiken vor, die eine Substitution erforderlich machen, können renommierte Ersatzpegel berechnet wer-den. Wie bei Schlafstörungen und der Lärmbelästigung sollten sich diese dann auf den Straßen-verkehrslärm beziehen. Andernfalls kann eine aktuelle Expositions-Wirkungsfunktion für die Re-ferenzquellenart Straßenverkehrslärm verwendet werden. Im aktuellen systematischen

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Review zu kardiovaskulären und metabolischen Erkrankungsrisiken durch Umgebungslärm (van Kempen et al., 2017, 2018) wird eine Expositions-Wirkungsfunktion zu ischämischen Herzerkran-kungsrisiken für Straßenverkehrslärm vorgestellt, da hierzu die Evidenz am robustesten ist. Das relative Risiko (RR) pro 10 dB im LDEN beziffern die Autoren dabei mit RR = 1,08 (1,01 – 1,15). Wie oben dargestellt, liegen die relativen Risiken für die anderen Verkehrslärmarten im vergleichba-ren Bereich, so dass zur Vereinfachung die ischämischen Herzerkrankungen als Leiterkrankungen verwendet werden können und dabei die als robust erachtete Expositions-Wirkungsbeziehung zum Straßenverkehrslärm zur Berechnung der Zahl der Erkrankungsfälle verwendet werden kann. Bei Verwendung der Expositions-Wirkungsbeziehung für straßenverkehrslärmbedingte is-chämische Herzerkrankungen ist zu beachten, dass eine Überlagerung der Verkehrslärmarten nicht thematisiert wird. Dies gilt auch, wenn man die weniger robusten Expositions-Wirkungsbe-ziehungen zu anderen Umgebungslärmarten aus dem WHO-Review hinzunimmt. Die Frage der Wirkung der Überlagerung der Verkehrslärmarten wird dagegen im Ansatz der epidemiologi-schen Risikomultiplikation, dargestellt im Abschnitt 2.5, behandelt.

Vorschlag eine für Methodik zur wirkungsbezogenen Bewertung von Gesamtlärm

Für bestimmte lärmpolitische Zielsetzungen kann es sinnvoll sein, die Belästigungs- und Schlaf-störungswirkung von Umgebungslärm zusammen mit umgebungslärmbedingten Erkrankungsri-siken zu einem Gesamtindex zur Bewertung der Gesamtlärmwirkung im Rahmen der VDI 3722-2 zusammenzufassen. Hierzu wird in diesem Abschnitt eine Methodik vorgestellt. Zu beachten ist dabei, dass dieser Gesamtlärmwirkungsindex nur für die Verkehrslärmarten Flug-, Schienen- und Straßenverkehr berechnet werden kann, da für übrige Umgebungslärmquellenarten (z.B. Indust-rie/Gewerbe) nicht zu allen Wirkungsbereichen Expositions-Wirkungsfunktionen vorliegen. Sol-len andere GeräuschquelSol-lenarten einbezogen werden, wird empfohSol-len, solange noch keine ent-sprechenden Forschungsergebnisse vorliegen, zur Berechnung eines Gesamtlärmwirkungsinde-xes für diese weiteren Lärmquellenarten die Expositions-Wirkungsfunktionen für Straßenver-kehrslärm zu verwenden.

Die vorgeschlagene Methodik zur Einbindung der Gesundheitsbewertung in die VDI 3722-2 ist da-bei unabhängig von der Höhe des anzusetzenden Erkrankungsrisikos und der konkreten Expositi-ons-Wirkungsfunktion. Es können sowohl die Funktionen zu ischämischen Herzerkrankungen durch Straßenverkehrslärm aus dem WHO-Review von van Kempen et al. (2017, 2018) als auch die im Abschnitt 2.5.3 vorgestellten und sonstige Funktionen verwendet werden. Wie dargestellt, geht allerdings das Verfahren der epidemiologischen Multiplikation der Erkrankungsrisiken durch einzelne Verkehrslärmquellenarten über das Konzept der VDI 3722-2 hinaus. Es bildet die Grundlage für weitere Forschung, insbesondere zum Einbezug weiterer Erkrankungsrisiken bzw.

Lärmwirkungsbereiche oder Quellenarten des Umgebungslärms in die gesundheitsbezogene Ge-samtlärmbewertung. Sofern die Beibehaltung der VDI 3722-2 und Erweiterung um die Gesund-heitsbewertung nach dem Konzept der Risikomultiplikation vorgesehen ist, wird die Normierung dieses Ansatzes vor Einbindung in die VDI 3722-2 empfohlen.

Grundsätzlich wird für alle Wirkungsbereiche die Verwendung der nach Stand der Lärmwirkungs-forschung neuesten, generalisierten Expositions-Wirkungsfunktionen empfohlen.

Zum Zeitpunkt der Berichtserstellung sind dies (vgl. Abschnitt 2.3.6):

Für die Lärmbelästigung: Expositions-Wirkungsfunktionen zum %HA-Anteil aus dem WHO-Review von Guski et al. (2017);

für die berichteten Schlafstörungen: Expositions-Wirkungsfunktionen zum %HSD-Anteil aus dem WHO-Review von Basner & McGuire (2018) – hier die Funktionen der kombinierten

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%HSD-Abschätzungen anhand von Fragen mit Lärmbezug (Gleichungen 12-14 in Basner &

McGuire, 2018, S. 22);

für Erkrankungsrisiken: Risikoschätzer zu ischämischen Herzerkrankungen durch Straßen-verkehrslärm aus dem WHO-Review von van Kempen et al. (2017, 2018) oder Expositions-Wirkungsfunktionen nach dem Ansatz der epidemiologischen Risikomultiplikation für Herz-Kreislauferkrankungen und depressive Erkrankungen, dargestellt im Abschnitt 2.5.3.

Derzeit wird hierfür der Rückgriff auf die Evidenzreviews zu den im Oktober 2018 erschienenen WHO Noise Guidelines (WHO 2018) empfohlen.

Das Vorgehen für eine Gesamtlärmbewertung mittels eines summarischen Indikators wird dabei wie folgt beschrieben

1. Berechnung des Beurteilungspegels für Tag-Abend-Nacht Lr,TAN für %HA anhand der jeweils ak-tuellen verfügbaren Expositions-Wirkungsfunktion (vgl. Abschnitt 2.3.6).

2. Berechnung des Beurteilungspegels für die Nacht Lr,N für %HSD anhand der jeweils aktuellen verfügbaren Expositions-Wirkungsfunktion (vgl. Abschnitt 2.3.6).

3. Berechnung der Anzahl der hoch belästigten Personen im Untersuchungsgebiet mit der Funk-tion aus Schritt 1 für Straßenverkehrslärm multipliziert mit der Einwohnerzahl.

4. Berechnung der Anzahl der hoch schlafgestörten Personen im Untersuchungsgebiet mit der Funktion aus Schritt 2 für Straßenverkehrslärm multipliziert mit der Einwohnerzahl.

5. Berechnung der Anzahl der zusätzlich durch Gesamtlärm erkrankten Personen für ausgewählte Leiterkrankungen (Berechnung populationsattributabler Risiken) auf Basis aktueller robuster relativen Risikoschätzungen für Gesamtlärm bezogen auf den LDEN und Angaben zur Prävalenz der betreffenden Erkrankung im Untersuchungsgebiet oder ersatzweise Prävalenzangaben aus der amtlichen Statistik (regionale, landes- oder bundesweite Gesundheitsberichterstattung).

Wie im Abschnitt 2.3.3.1 dargestellt sind noch vertiefende Analysen erforderlich, bevor der im Abschnitt 2.5 dargestellte Ansatz der Risikomultiplikation innerhalb des Verfahrens der VDI 3722-2 angewandt werden kann.

6. Jeweils die Anzahl der hoch Belästigten, Schlafgestörten und zusätzlich Erkrankten werden mit ihrem jeweiligen Beeinträchtigungsgewicht multipliziert und die gewichteten Werte auf ganze Fälle gerundet.

7. Bei Berücksichtigung von mehreren Erkrankungen Auswahl derer mit dem höchsten DW-ge-wichteten PAR.

8. Summierung zu einem Gesamtindex (alternativ):

a. Addition der gewichteten (gerundeten) Anzahlen von Belästigungs-, Schlafstörungs- und (ausgewählten) Erkrankungsfälle zu einem Index der Zahl der durch Gesamtlärm hervorge-rufenen Beeinträchtigungsfälle.

b. Unter Hinzunahme von Eingangsdaten zu Alter, Lebenserwartung, Dauer der Erkrankung aus der amtlichen Statistik: Berechnung des verlorenen beschwerdefreien Lebens (DALYs).

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Grundsätzlich wird empfohlen, in jedem Fall die Beeinträchtigungsfälle pro Umgebungslärmart auszuweisen. Eine gewichtete Aufsummierung (Schritte 6- 8) kann ergänzend erfolgen, wenn es das Ziel ist, zur Komplexitätsreduzierung einen Einzahlwert zur Beschreibung der gesundheitli-chen Wirkung von Gesamtlärm zu verwenden. Allerdings birgt die Zusammenfassung von sehr unterschiedlichen Lärmwirkungen methodische Unsicherheiten, die im Abschnitt 2.6.3 näher er-läutert werden. Es wird deshalb empfohlen die Beeinträchtigungszahlen (Schritt 8a) bzw. DALYs, d.h. die verlorenen gesunden Lebensjahre (Schritt 8b) weiterhin gesondert pro Wirkungsbereich auszuweisen, damit die einzelnen Beiträge der unterschiedlichen Lärmwirkungen zur Gesamtwir-kung transparent werden.

Bei diesem Vorschlag handelt es sich um ein methodisches Gerüst, welches an neue Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung angepasst werden kann und soll. Das im Kapitel 2.5 dieses Gutach-tens dargestellte Verfahren der epidemiologischen Risikomultiplikation zur Beschreibung der ge-sundheitlichen Wirkung von Gesamtlärm kann anstelle der vorläufig vorgeschlagenen Berech-nung vom PAR für ischämische Herzerkrankungen anhand von Risikoschätzungen aus dem WHO-Review von van Kempen et al. (2017, 2018) angewandt werden bzw. das Gerüst unterfüttern. Die

Bei diesem Vorschlag handelt es sich um ein methodisches Gerüst, welches an neue Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung angepasst werden kann und soll. Das im Kapitel 2.5 dieses Gutach-tens dargestellte Verfahren der epidemiologischen Risikomultiplikation zur Beschreibung der ge-sundheitlichen Wirkung von Gesamtlärm kann anstelle der vorläufig vorgeschlagenen Berech-nung vom PAR für ischämische Herzerkrankungen anhand von Risikoschätzungen aus dem WHO-Review von van Kempen et al. (2017, 2018) angewandt werden bzw. das Gerüst unterfüttern. Die

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