• Keine Ergebnisse gefunden

Zur Rechtfertigung einer Socialethik

Im Dokument Theologie und Kirche. (Seite 87-200)

Von

Prof. Dr. Al. v. Oettingen.

III.

D l e ^ S i t t l i c h k e i t oder das sittlich Böse als empirischer Zustand der natürlichen Menschheit.

Es lässt sich keineswegs als die speeifische oder charak­

teristische Aufgabe c h r i s t l i c h e r Sittenlehre bezeichnen, ein sitt­

liches Ideal hinzustellen oder die Liebe als das sittlich Gute zu recht­

fertigen und durchzuführen. Das Ideal der Liebe stünde als

blos-S e s P o st u l a t , als unerfüllte und unerfüllbare Forderung der

natür-liehen Liebesverweigerung des tbatsächlich selbstsüchtigen Men­

schen gegenüber. Die sachliche Aufgabe christlicher Sittenlehre culminirt vielmehr darin, das sittlich Gute oder die heilige Liebe als inneres Gesetz neuen und wahren Lebens, als bewegendes Mo­

tiv in der Freiheitsbethätigung des Menschen nicht bloss seiner Möglichkeit und Nothwendigkeit, sondern auch seiner W i r k ­ l i c h k e i t nach aufzuweisen. In diesem Sinne ist vor Allem die Erkenntniss der empirischen Corruption oder factischen Lieb­

losigkeit der natürlichen Menschheit ein Grundaxiom aller christ­

lichen Ethik. Sie wird das innere Gesetz der Sünde, der Fehl-entwiokelung (Degeneration) in der einzelnen Menschenbrust, wie in der gesammten Weltgeschichte nachzuweisen, das Wachs­

thum so wie die wuchernde Entwickelung des die alte, unwie-wiedergeborene Menschheit als Hauptmotiv beherrschenden Ego­

ismus darzulegen und mittelst solcher Darlegung das Verständ­

niss für die Nothwendigkeit und den wirklichen Eintritt einer sittlichen Wiedergeburt (Regeneration) durch den christlichen Geist, durch das Princip heiliger Liebe im christlichen Sinne allseitig zu begründen haben.

Es scheint mir also von vorn herein unmöglich, wie neuere theologische Ethiker es gewollt oder auch versucht haben ( S c h l e i ­ e r m a c h e r , V o r l ä n d e r , v. H o f m a n n , v. H a r l e s s , F r a n k u. a. )die Lehre von der Sünde aus dem Inhalte christlicher Moral ausznschliessen. Auf solchem W e g e kann nur eine idealistische Sittenlehre geboren werden, welche mit der Zucht des Gesetzes und dem Pflichtbegriff auch die empirische Sündenerfahrung des Christen mehr oder weniger zurücktreten lassen muss, selbst wenn man das Böse als das im christlichen Kampf stetig zu überwindende Moment nebenbei behandelt ( H a r l e s s ) , oder die Sünde lediglich als eine gehasste im Ohristenleben nooh vor­

kommen lässt ( H o f m a n n ) . W e n n V o r l ä n d e r „den ganzen Gegensatz von Gut und Böse als „ausser der Ethik fallend" be­

zeichnet, so hängt das mit SchleiermacheT'schen Grundansichten zusammen. Das Böse ist dann überhaupt eins mit dem

Ge-danken, dass das Gute „als ein werdendes" gesetzt werde. Es kommt das Böse nicht als eine selbstständige, zerstörende gei­

stige Macht zur Sprache, sondern nur als Unvollkommenheit, Schwachheit, mit einem W o r t als „Nochnichtgewordensein des Guten". Fasst man aber das Böse, wie es in jeder christ>

liehen Ethik geschehen muss, als das schlechterdings Nicht­

seinsollende, als eigenwilligen Widerspruch wider das Gesetz des Guten, so steht die Darlegung der Sünde in dem Vorder­

grunde jeder wahrhaft christlichen Ethik, so gewiss als ohne

"Verständniss des Gesetzes und seiner kritischen Wirkung ein Verständniss des Heilslebens unmöglich ist. Ja wir müssen in gewissem Sinne P a l m e r Recht geben, wenn er sagt: „genau genommen ist die Lehre von der Sünde nicht ein dogmatisches sondern ein ethisches Lehrstück".

Der neue Mensch und sein Liebesverhalten lässt sich gar nicht verstehen ohne Voraussetzung einer moralischen Charak­

teristik des alten Menechen und seiner sündlichen Entwicke-lung unter der Zuchtruthe des Gesetzes. Und vollends der Christ in seiner concreten Erscheinung als begnadigtes Gottes­

kind ist aus der Anfechtung d. h. aus der täglichen Sündener­

fahrung und Sündenerkenntniss, aus den Schrecken des Gesetzes und des Gewissens geboren. Erst die christliche Sittlichkeit ermöglicht und vertieft die wahre Selbstbeurtheilung und erhöht die Zurechnung, weil das Christenthum nicht subjectiv Heilige macht, sondern begnadigte Sünder, die als solche, ja nur als solche eine neue Lebenskraft und Liebesgesinnung gewonnen haben.

Dazu kommt, dass das sittlich Böse und die richtige Würdigung Und Auffassung desselben nicht nur als F o l i e des Guten un­

umgängliches Object christlicher Sittenlehre ist, sondern dass gerade in der Auffassung und sittlichen Beurtheilung des Bösen

8ich am unmittelbarsten und schlagendsten die gesammte sitt­

liche Weltanschauung des Menschen und so auch des christlichen Ethikers spiegelt Insbesondere wird sich in der Beurtheilung des Wesens und der tatsächlichen Genesis des Bösen, in der

Dorp. Zeitichr. f. TU. u. K. N. F. n. Bd. 7

Unterscheidung und Abschätzung der individuellen und gene­

rellen Schuld der Sünde das Charakteristische der gesammten Bocialethischen Denkweise am deutlichsten ausprägen. Was der Mensch von Sünde und Schuld denkt, wie er die „Krankheits­

geschichte unseres Geschlechts" ( V i l m a r ) auffasst, ist ein Haupt­

kriterium seiner ethischen Gesinnung.

Zwei riesige, die gesammte Geschichte ethischen Bewusst­

seins durchziehende Gegensätze sind es, welche die christliche Sittenlehre in dieser Hinsicht zu beleuchten und bekämpfen haben wird. Auf der einen Seite erhebt jener P e s s i m i s m u s dräuend das Haupt, welcher, anscheinend tief blickend, das Elend, den Jammer menschlicher Existenz in sittlicher Hiosicht zu durchschauen meint, aber das Böse durch Behauptung seiner Naturnotwendig­

keit substanzialisirt, der sittlichen Beurtheilung und Zurechnung also factich entzieht. Es ist das der alte, dogmengeschichtlich mit dem Namen des Manichäismus gekennzeichnete Irrthum, welcher, aus naturalistischer oder phantheistischer Weltansicht geboren, das Böse als n o t h w e n d i g e n D u r c h g a n g s p u n k t zum Guten, oder aber, bei dualistisch gefärbter Weltbetracbtung, das Böse als mit der M a t e r i e nothwendig gesetztes Hemmniss des Guten auffasst. In beiden Fällen wird das Böse als Substanz, d. h.

nicht als ethischer Widerspruch gegen das Gute, sondern als ein mit dem gesammten Dasein verbundenes selbstständiges Princip, also auch als ein selbstverständliches und unumgäng­

liches Ingredienz der menschlichen Natur angesehen. Die ge­

sammte Weltgeschichte erscheint dann lediglich als das tra­

gische Document für die Berechtigung dieser deterministischen Weltanschauung, deterministisch, sofern sie mit Betonung ewi­

ger, so zu sagen fatalistischer Notwendigkeit den Freiheits­

grund des Bösen im creaturlichen Geiste leugnet und eben da­

r u m , consequent ausgeführt, mitsammt der Freiheit und Zu­

rechnungsfähigkeit (Schuld) auch die Möglichkeit und den Er­

folg sittlichen Kampfes und sittlicher Erneuerung und Erlö­

sung in Abrede stellen muss. Practisch findet sich diese

An-sieht im gewöhnlichen Lehen überall dort verbreitet, wo man in schwarzseherischer, stoischer Resignation, sozusagen achselzuckend die Unverbesserlichkeit menschlicher Naturfehler behauptet und den Nerv sittlichen Ringens eben dadurch abstumpft. Den Mens­

chen sittlich bessern wollen, hiesse von diesem Gesichtspunkte aus nichts anderes als ihn zerstören, mit dem eingewurzelten Bösen auch seineNatur aufheben. Buddhistische Selbstvernichtung wäre das fin­

stere und abschreckende Resultat jener Prämissen (Schopenhauer).

Von der anderen Seite droht jener idealistische O p t i m i s ­ m u s sein Haupt zu erheben, welcher, auf der Oberfläche spie­

lend, mit der eingebildeten Sonnenseite des Lebens sich und andere täuscht und in der rosigen Illusion befangen ist, als sei das Böse eine levis macula, ein flüchtiger Wolkenschatten, der den Reiz der Landschaft eher zu erhöhen als zu stören vermag.

Der Mensch erscheint hiernach im Grunde seines Wesens durch­

aus gut und das Böse haftet ihm nur als ein zu überwindendes Moment Beiner schwachen, versuchlichen Natur an. Es ist das der alte, dogmengeschichtlich mit dem Namen des Pelagianis-muB bezeichnete Irrthum, welcher, wo er aus deistischer Welt-anBicht hervorgeht, das Böse als zufällige und willkürliche Abnormität auffasst, wie sie jeden Augenblick durch den Ernst freien Willens und sittlichen Kampfes auch wieder überwunden

werden könne; oder aber, falls die naturalistische Tendenz vor­

waltet, die Natur des Menschen als res integra ansieht und mit seinem: „retournons ä la nature" die W e l t zur sittlichen Ver­

klärung durch alle Klippen der Sünde hindurchlootsen zu kön­

nen sich einbildet. In jedem Fall erscheint hier das Böse als blosses Accidenz, als zufälliger Makel der an sich guten menschlichen Natur. Die gesammte Weltgeschichte, dieses erfreu­

liche Document eines stetigen Fortschritts zum Bessern, gilt jener indeterministischen oder indifferentistischen Ansicht als em genugthuender Beweis dafür, dass der Mensch sein eigener Herr, dass die Freiheit als Grundlage fortschreitenden sittlichen Kampfes die bleibende Signatur seines Wesens sei und ihm den

7 *

88 AI. v. O e n i n g e n ,

Erfolg seiner sittlichen, culturhistorischen Weltmission verbürge.

Indeterministisch oder indifferentistisch nennen wir aber jene Auffassung, weil sie das Princip der Wahlfreiheit in Gegensatz zu jeglicher, vorher bestimmter Nothwendigkeit in den Vor­

dergrund stellt, weil sie den Willen mit Ausschluss aller Ge­

setzmässigkeit als Macht der Willkür fasst und deshalb auch die Zähigkeit und empirische Nothwendigkeit der aus sittlicher Entartung hervorgehenden sündlichen Lebensbethätigung ver­

kennt. Practisch wird diese optimistische Weltanschauung eine viel weitere Verbreitung finden müssen, als jener trübse­

lige Pessimismus; denn sie wird sich überall dort Geltung ver­

schaffen , wo man in pharisäischer Selbsttäuschung und ober­

flächlicher Glückseligkeitstheorie befangen, in mückenseigender und kameleverschluckender Bornirtheit sein edles Selbst mit mehr oder weniger verliebtem Lächeln wohlgefällig betrachtet oder doch die fast als Schönheitsflecken erscheinenden Fehler und sittlichen Gebrechen durch gute Vorsätze und tugendhafte Allüren meint überwinden d. h. den wurzelfaulen Baum durch Abschaben oder Lehmtünche fruchttüchtig machen zu können.

Selbstverherrlichung ist mit einem Worte das traurige aber lockende Resultat jener Prämissen (Rousseau).

So scharf sich die beiden geschilderten Extreme in der Auffassung des Bösen einander gegenüberzustehen und auszu-schliessen scheinen, — die christliche Sittenlehre wird doch stets beide in ihrer inneren Verwandtschaft und principiellen Einheit zu durchschauen, in beiden das Körnlein Wahrheit von der massenhaften Spreu des Irrthums sorgfältig zu sondern, im Grunde aber beiden entschieden entgegenzutreten haben, um das Wesen und die innere Entwickelung der Sünde richtig zu wer-then und zu beurtheilen. Der Einheitspunkt, der principielle Fehler, in welchem sich jene pessimistische und diese optimi­

stische Weltanschauung berühren, ist die Auffassung des Bösen als eines in der Schwachheit s i n n l i c h e r Natur steckenden Ge­

brechens, kurz in jener speeifisch d u a l i s t i s c h e n Verirrung,

welche, — wie wir schon oben sahen, — den Geist als das an sich Gute, den Leib als den Sitz des Bösen denkt, und ebendeshalb die verdammliche, Schuld bedingende Natur des Bösen verkennt oder unterschätzt. Nur dass die pessimistische Ansicht von dieser Vo

raussetzung aus zur Annahme einer Naturnoth wendigkeit und Substanzialität des Bösen gelangt, die optimistische hingegen mit Betonung der Freiheit und angeblichen Willensenergie des an sich guten Geistes die Ueberwindbarkeit des bloss acciden-tellen, dem Menschen gleichsam nur angeflogenen sittlichen Unheils behauptet. Also beiden gegenüber wird die wahre Ethik die empirische Unsittlichkeit oder das herrschende Böse in der natürlichen Menschheit als s c h u l d b e d i n g e n d e u n d v e r d a m m l i c h e S e l b s t s u c h t zu kennzeichnen haben, welche in der b ö s e n G e i s t e s - u n d W i l l e n s r i c h t u n g wurzelt.

Die selbstsüchtig böse Willensrichtung wird aber dem manichäisch gefärbten Pessimismus gegenüber mit anderen B e -weismitteln und mit Betonung anderer Momente durchzuführen sein, als dem pelagianisch gefärbten Optimismus gegenüber.

Dort gilt es vorzugsweise den schuldbedingenden F r e i h e i t s -c h a r a k t e r des Bösen gegenüber der behaupteten Naturnoth-wendigkeit desselben, hier die fluchbringende, k n e c h t e n d e M a c h t der sittlichen Corruption gegenüber der behaupteten Leichtigkeit ihrer Ueberwindung zu betonen und zu erweisen.

Ja, wir können sagen: dort gilt es, die G e s e t z w i d r i g k e i t , das schlechterdincs Nicht-sein-sollen des Bösen als durch Ge-wissen und Gottes Gebot bezeugt, zur Erkenntniss zu bringen;

hier die empirische G e s e t z m ä s s i g k e i t und constanteTenacität der habituell gewordenen Sünde in das rechte Licht zu stellen;

dort die sittliche Heilsfähigkoit, hier die sittliche Heilsbedürf-togkeit des Menschen, dort die Berechtigung, die Nothwendigkeit und den Segen sittlicher Arbeit und sittlichen Gewissenskampfes, hier die Ohnmacht und die relative Erfolglosigkeit sittlicher SelbBthefreiungsversuche und guter Vorsätze darzulegen; dort da£ fornial noch vorhandene liberum arbitrium .(die^fojjxnale W i l

-lensfreiheit) als Quelle der Zurechnungsfäbigkeit, hier das real be­

reits eingetretene servum arbitrium (die reale Willensknechtschaft) als Grund der Sündenherrschaft; dort die Forderung des Ge­

wissens als eines Restes des Guten, hier das verdammende Zeugniss desselben als Document des Bösen zu betonen.

Es erscheint aber auch jede der geschilderten Einsei­

tigkeiten als Correctiv der anderen. A priori lässt sich schon voraussetzen, dass solche Irrthümer ihre weltgeschichtliche Be­

deutung und ihre riesige Ausbreitung nie gewonnen hätten, wenn sie nicht, jede für Bich, ein Moment der Wahrheit ent­

hielten. Der Pessimismus predigt gewaltig von der durchschla­

genden Macht des Bösen, als von einer in ihrer Art gesetz-mässigen und unumgänglichen Gewalt in dem jammervollen Da­

sein des Menschen; der Optimismus bezeugt die Freiheitsbestim­

mung des Menschen und rettet das sittliche Ideal, dessen Vor­

handensein in der Brust des Menschen ihm zum Zeugniss wird, dass das Böse uns nicht als Naturnothwendigkeit wesentlich eig­

net, sondern das zu Ueberwindende, das Abnorme, Gesetzwidrige ist.

Dass aber die christliche Auffasung und Lösung des grossen Problems sich bei solcher Bewahrung vor den drohenden Ein­

seitigkeiten oder vielmehr bei solcher Rettung ihrer beidersei­

tigen Wahrheitsmomente nicht in unversöhnliche Widersprüche zu verwickeln braucht, hat sich uns gewissermassen schon bei der empirischen Untersuchung im ersten Theil meines Werkes ergeben und muss sich im Laufe der systematischen Deduction im Zusammenhange mit der gesammten christlichen Weltan­

schauung bewähren. W e i l die Unsittlichkeit nichts anderes ist als das B ö s e i n der F o r m c r e a t ü r l i c h e n W i l l e n s , so liegt darin bereits beides: die Abnormität oder Gesetzwidrig­

k e i t seines Wesens ebenso enthalten, als die Tenacität oder constante G e s e t z m ä s s i g k e i t seiner Erscheinung. Gesetzwi­

drigkeit und Gesetzmässigkeit schliessen sich hierbei nicht aus, da jener Begriff ideal, dieser real zu nehmen ist;

d. h. ideal, der sittlichen Norm gegenüber ist das Böse

Uebertretung, Ungehorsam, Nichtachtung des Gebotes, also durchaus g e s e t z w i d r i g ; real, in seiner factischen Erscheinung betrachtet ist das Böse eine zusammenhängende, hatituelle Macht, die nach innerem Gesetz sich nothwendig fortentwickelt, also als gesetzmässig bezeichnet werden kann.

Kennzeichnet doch auch die heilige Schrift das Wesen der Sünde als dvo[u'a (Joh. 3, 4) und spricht doch von einem Gesetz der Sünde (v6[i.o? t9j? o^ap-ua? Rom. 7, 25), in welchem der Mensch seinem alten Wesen nach gefangen liegt. Dass ein böser Mensch Böses hervorbringt aus dem bösen Schatz seines Herzens, ist ein Zeugniss seines gottwidrigen freien Willens; und doch wird das Böse gezeitigt mit einer ähnlichen gesetzmässigen Nothwen-digkeit wie die Frucht, an welcher man die Qualität des Bau­

mes erkennt (Matth. 12, 33—35). Ausgehend von dem Gedan­

ken, dass „Alle das Ihre suchen" (Phil. 2, 21) und in der ge­

sammten natürlichen Menschheit „keiner da ist, der Gutes thue"

(Rom. 3, 10 ff. Ps. 14, 1 ff.) werden wir also dem gebietenden Gottesgesetz namentlich die Aufgabe zuschreiben, im Gewissen des Menschen zu constatiren, dass „alle W e l t Gotte s c h u l d i g sei" (Rom. 3, 19; 2, 11 ff.); gleichzeitig wird sich aber der ringenden Seele die Erfahrung aufdrängen, dass wir, sofern wir

»von Natur Kinder des Zornes sind" (Eph. 2, 3) durch das Thun der Sünde auch der Sünde Knechte werden (Joh. 8, 34).

So könnten und müssten wir auch sagen: empirisch genommen ist die Freiheit (die formale) durch die Sünde nicht verloren ge­

gangen, da in dem Bösen, als in der Reactionsmacht des W i l ­ lens gegen das Gute, sich gewissermassen die, wenn auch gott­

widrige Selbstmacht der Freiheit documentirt, woraus sich eben das Schuldbewusstsein und die Anklage des Gewissens erklärt;

hingegen ideal genommen, im geistlich-sittlichen Sinne ist die Freiheit (die material) des Menschen allerdings nicht mehr vorhanden, sofern die Fähigkeit normaler Lebensbethäti-gnng durch eine Uebermacht des Bösen, durch die Verfehlung des sittlichen Ideals zu Grunde gerichtet werden musste. Das

Gewissen, als noch vorhandenes Organ eines gebietenden Sit­

tengesetzes constatirt uns, ideal genommen, die Gesetzwidri-k e i t , d. h. das Nichtseinsollen, das Schuldbedingende und Ver­

dammliche der eigenwillig bösen Lust, aus welcher die bösen Thaten nicht zwangsweise, sondern freiwillig d. h. in der Frei­

heitsform entspringen; und die richterliche Mahnung des Gewissens im Zusammenhange mit der durch tausendfache Beispiele erhärteren Knechtung des Willens constatirt uns, real genommen, die G e s e t z m ä s s i g k e i t d. h. die furchtbare innere Constanz, die empirische Zähigkeit und TJnumgänglichkeit der eigenwillig bösen Lust, die mittelst böser Thaten „fortzeugend Böses muss gebären."

So wird der Mensch durch die im Lichte sittlicher Welt­

anschauung des Christenthums vollzogene Selbstprüfung und Beobachtung sich erst dessen bewusst, dass „ein edler Sklave in ihm ist, dem er die Freiheit schuldig ist." Edel ist dieser Sklave, weil das sittliche Bedürfniss und die tief gewurzelte Sehnsucht nach dem Ideal ein Document seiner Freiheitsbestim­

mung ist, so dass im Gewissen als dem Reste unsrer gottes­

bildlichen Natur die stete Mahnung sich geltend macht, das ge­

setzwidrige Böse zurückzuweisen und dem Guten nachzujagen, wesshalb wir dem schwarzsehenden Pessimismus zurufen dürfen:

„Verdirb es nicht; es ist ein Segen darin." Ein Sklave ist aber dieser Edle, weil in dem Feuer sündlicher Begierde immer wie­

der die Ketten geglüht werden, die jener Tyrann in ihm, der Eigenwille sich selbst schmiedet, um das bessere Ich in eiserne Fesseln zu legen; so dass dem rosigen Optimisten gegenüber jeder aufrichtige Selbstkenner, im Gefühl seiner sittlichen Ohn­

macht und Sisyphusarbeit mit dem Apostel seufzen muss: „Ich elen­

der Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!"

Die tiefe Einheit von Freiheit und Nothwendigkeit, wie sie in jedem Probleme des empirischen Lebens vorliegt, auch in dem Problem des Bösen zu erkennen und zu wahren, wird also eine speeifische Aufgabe christlicher Sittenlehre sein. W i e sehr

das Gelingen derselben von der s o c i a l ethischen Betrachtungs­

weise auch hier bedingt erscheint, werden wir nunmehr weiter auszuführen haben, indem wir dabei die genannten Gegensätze und ihre Gefahren stets im Auge behalten. Ich fasse zuvor das Gesagte in folgende Worte zusammen:

Die Anerkennung, dass die heilige Liebe als das sittliche Ideal empirisch in der sündigen Welt nicht verwirklicht ist, und das tiefere Verständniss der daraus sich ergebenden s i t t ­ l i c h e n C o r r u p t i o n der natürlichen Menscheit ist um so mehr eine Grundvoraussetzung und sachliche Hauptaufgabe christli­

cher Sittenlehre, als die extremen Anschauungen des P e s s i ­ m i s m u s und O p t i m i s m u s in gleichem Maasse die Gefahr theilen, die Sünde in die sinnliche Naturseite des Menschen zu verlegen und in Folge dessen das sittlich Böse als schuldbe­

dingende, selbstsüchtige Willensrichtung zu verkennen und zu leugnen. — Dem manichäisch gefärbten P e s s i m i s m u s gegen­

über mit seiner Behauptung einer substantiellen N a t u r n o t h -W e n d i g k e i t der Sünde wird die christliche Sittenlehre mit Betonung der sittlichen Forderungen in Gesetz und Gewissen den schuldbedingenden Freiheitscharakter des Bösen oder ideal genommen, die ethische G e s e t z w i d r i g k e i t und absolute Ver­

werflichkeit desselben in den Vordergrund stellen. — Dem pe-lagianisch gefärbten O p t i m i s m u s gegenüber mit seiner Be­

hauptung der annoch vorhandenen, wesentlich ungestörten s i t t l i c h e n F r e i h e i t des Menschen wird die christliche Ethik mit Berufung auf das verdammende Zeugniss des durch daB Gesetz Gottes geschärften Gewissens die knechtende Macht des Bösen, oder real genommen, die empirische G e s e t z m ä s s i g k e i t und tatsächliche Zähigkeit (Tenacität) der habituell gewordenen Sünde zu erweisen haben.

Unsere obige Darlegung von dem dreifachen Factor sittlicher Lebensbewegung scheint auf den ersten Blick zu Schanden zu werden, sobald wir uns die sittliche Corrup­

tion oder das Böse als Schuld vergegenwärtigen. Der Satz,

94 A l . v. O e n i n g e n ,

dass die Schuld lediglich am Individuum hafte, weil und sofern das Böse durch den subjectiven Einzelwillen als der Ursache des Bösen (causa peccati) hervorgerufen werde und daher auch mit der Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit der bewuss­

ten Einzelnpersönlichkeit stehe und falle, ist ein mit der rationali­

stischen und pelagianischen Anschauung unserer Zeit weit verbrei­

teter Irrthum. Und je mehr dieser Irrthum mit Optimist scher Theorie Hand in Hand geht, desto mehr verbindet sich mit demselben der Gedanke, dass der Einzelne kraft seines Willens auch das Böse überwinden, durch Selbstbekämpfung und Selbst­

vergebung es annuliren, wieder gut machen könne. Und doch kann nichts erfahrungswidriger sein, als diese zuerst von den Socinianern mit einseitiger Energie behauptete, vom gesammten Rationalismus der Aufklärungsperiode getheilte Ansicht, als habe es j e einen Sünder oder Verbrecher auf eigene Hand gegeben, als sei das Böse und die Schuld denkbar und verständlich ohne stete Beziehung zur Gattungsgemeinschaft und ihrer

vergebung es annuliren, wieder gut machen könne. Und doch kann nichts erfahrungswidriger sein, als diese zuerst von den Socinianern mit einseitiger Energie behauptete, vom gesammten Rationalismus der Aufklärungsperiode getheilte Ansicht, als habe es j e einen Sünder oder Verbrecher auf eigene Hand gegeben, als sei das Böse und die Schuld denkbar und verständlich ohne stete Beziehung zur Gattungsgemeinschaft und ihrer

Im Dokument Theologie und Kirche. (Seite 87-200)