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Aussteiger*innen, die im pädagogischen Rahmen über ihre Erfahrungen „in der Szene“ berichten, sind in gewisser Weise Zeitzeug*innen. In ihren Erzählungen soll nachvollziehbar werden, was sie – aus der Retrospektive betrachtend – in bestimmten Zeiten ihres Lebens prägte und zum Handeln motivierte – beim Ein-stieg, Verbleib und auch beim Ausstieg aus der Szene: „Der Zeitzeuge erzählt die Geschichte, indem er im Gespräch seine Erfahrungen in bestimmte Zusammen-hänge einordnet, deutet und interpretiert“ (Schreiber 2007: 3). Es geht also nicht um faktenbasiertes, historisches Wissen (vgl. Kaiser 2009), sondern über eine emotionale Beteiligung der Zuhörer*innen spezifische Lern-/ Inhalte zu ver-ankern und Denkanstöße zu setzen. Nur, welche können das im Gespräch mit Aussteiger*innen aus der extremen Rechten sein?

Historisches Lernen wird als ein aktiver Konstruktionsprozess verstanden, innerhalb dessen Menschen in Abhängigkeit von spezifischen Vorerfahrungen, kontextgebundene Interpretationen für sich erarbeiten (vgl. Obens, Geißler- Jagodzinski 2009). Rückmeldungen von Teilnehmenden im Nachgang von Gesprächen mit Aussteiger*innen zeigen, dass während der Gespräche Empathie, Verständnis und Mitgefühl seitens der Zuhörer*innen für die Aussteiger*innen erzeugt werden konnten. So berichtete unter anderem Rückel (2019) von einem tiefen Eindruck, den ein solcher Vortrag bei ihm hinterlassen habe. Er erzählt

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von den quälenden Erinnerungen, die der Referent an seine Vergangenheit hat.

In anderen Berichten und Beschreibungen von Aussteiger*innengespräche wird das Publikum als „gebannt lauschend“ beschrieben (vgl. Gabel 2017), die Lebens-geschichte als beeindruckend (vgl. Codier 2019) und bemerkenswert geschildert (vgl. Schneider 2019). Jedoch täuschen auch laut Forth die „eingestreuten lockeren Sprüche […] nicht darüber hinweg, dass hier ein Mensch sitzt, der auch heute noch mit seinen Abgründen kämpft“ (Forth 2018).

Empathie im Sinne von Perspektivenübernahme, Verständnis, Faszination und Mitleid: All dies ist für eine pädagogische Arbeit insbesondere mit Jugendlichen problematisch, wenn die Vortragenden möglicherweise ehemalige Gewalt-/

Täter*innen sind und als ideologische Vordenker*innen viele Jahre lang die Aus-richtung der rechtsextremen Szene entscheidend prägten – und dies in ihren Erzählungen entsprechend wenig Raum einnimmt. „Der Einsatz von Zeitzeugen-berichten [wird jedoch] in der Regel unter den Stichworten Multiperspektivität und Opferperspektive diskutiert“ (Kaiser 2009: 12). Gespräche mit Aussteiger*innen stehen dem diametral entgegen.

Betroffenenperspektive

Die Betroffenenperspektive und Multiperspektivität fehlen bisher in vielen Settings, in denen Aussteiger*innen-Gespräche stattfinden. So bauen die Erzählungen bis-her ebis-her Empathie zu den Täter*innen auf. „Die Opferperspektive [aber] ist hier unbedingt notwendig, um das Verhalten [der ehemaligen Täter*innen] richtig zu betrachten und zu verstehen“ (Kaiser 2009: 12). Während die Taten der ehemaligen Rechtsextremen zumeist erschreckend detailreich beschrieben werden, bleiben die Betroffenen dieser Taten i.d.R. unbenannt und unsichtbar. Das erschwert es Zuhörenden, die Folgen für Betroffene der beschriebenen Taten zu erkennen.

Viele Aussteiger*innen beschreiben sich zum Teil selbst als Opfer: „Wir [die Aussteiger*innen] haben keine Chance. Und wenn man chancenlos ist und an

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die Wand gedrückt wird, wird man irgendwann gerade zum Angreifer. Und das macht es für beide Seiten sehr gefährlich“ (Siegmund 2019: 1). In Hinblick auf gesellschaftliche Privilegien (u. a. Herkunft, Geschlecht und sozioökonomischer Hintergrund) bleibt in diesem Zitat unreflektiert, inwieweit ein gebildeter, deutscher, weißer Mann – der somit über eine Vielzahl von Privilegien verfügt – chancenlos an die Wand gedrückt wird. Auch hier wären für eine differenziertere Sicht Perspektiven z. B. von Geflüchteten oder Frauen einzubeziehen.

Die Expertise der Autorin aus zwanzig Jahren politischer Bildungsarbeit, fünf-zehn Jahre davon mit dem Schwerpunkt auf Radikalisierungs- und Rechts-extremismus-Prävention im Jugendstrafvollzug und in sozialen Brennpunkten, zeigt: Im Kontext von Gesprächen mit Aussteiger*innen müssen auch die unterschiedlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen Berücksichtigung finden.

Hier ist bereits im Vorfeld ein sensibler Blick der Pädagog*innen auf die Gruppe der Teilnehmenden existenziell, um möglicherweise durch detaillierte Erzähl-ungen von GewaltanwendErzähl-ungen hervorgerufene Re-/ TraumatisierErzähl-ungen zu ver-meiden. Besonders Jugendliche mit Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen sowie Vortraumatisierungen neigen in diesen Settings dazu, entweder die Nähe zu Aussteiger*innen zu suchen oder möglichst unsichtbar die Situation zu erdulden und zu „überleben“ (Totstellreflex / Dissoziation). Das Gespräch mit Aussteiger*innen kann bei Opfern rechter Gewalt und potentiellen Betroffenen-gruppen24 Verunsicherung hervorrufen, wenn es in Schutzräumen wie der Schule oder Jugendeinrichtung stattfindet und als „Werbeveranstaltung“ für rechts-extreme Ideologien interpretiert werden kann, z. B. indem ein*e Aussteiger*in weiterhin synonym von einem „wir“ für die rechte Szene spricht und dabei offen und anerkannt im pädagogischen Kontext agieren darf. Dies birgt im All-gemeinen die Gefahr, dass Jugendliche, die rechte Positionen vertreten, eine solche Veranstaltung als Stärkung ihrer Position verstehen können. Besondere Sensibilität ist geboten, wenn die Zuhörenden von einem männlichen Aussteiger 25 wie von einem Helden sprechen und er damit als ehemaliger „echter Nazi“ im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit steht (vgl. Gabel 2017: 1). (Potentielle) Opfer dürfen in diesen Gesprächen nicht (erneut) als Verlierer*innen verstanden werden. Hier sind die verantwortlichen Pädagog*innen gefragt, dies zu verhindern. „Last not least ist

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es noch aus einem dritten Grund wichtig, die Opfer zu Wort kommen zu lassen:

Sie können am eindringlichsten mitteilen, welche Auswirkungen die Verbrechen der Täter hatten“ (Kaiser 2019: 13).