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WUNDERSTOFFE AUS TREIBHAUSGAS

Im Dokument JAHRESBERICHT 2017 (Seite 94-97)

Polyurethane sind ein Allerweltskunststoff.

Wo man auch hinschaut, findet man das Material, das Chemiker bei Bayer in den 1930er-Jahren zum ersten Mal erzeugt haben.

Die Stoffklasse, die häufig einfach PUR genannt wird, steckt zum Beispiel in Schaum-stoffpolstern, Matratzen, Plastikrohren, Schuhsohlen, Dämmplatten, Bowlingkugeln, Fußbällen, latexfreien Kondomen und Lacken. Rund 20 Millionen Tonnen des bei Herstellern beliebten Materials werden Jahr für Jahr produziert – allerdings nicht unbedingt zum Vorteil der Umwelt.

»Um Polyurethane herzustellen, benötigt man sogenannte Isocyanate als Zwischen-produkte«, erklärt der Chemiker Prof. Rolf Mülhaupt, Leiter des Freiburger

Material-Im Programm Bioinspirierte Materialsynthese formen Forscher neuartige Werkstoffe nach Vorbildern der Natur. Aus dem Treibhausgas Kohlendioxid entstehen so durch »grüne« Chemie

unkonventionelle Materialien mit programmier- und schaltbaren Eigenschaften, die sich an ihre Umwelt anpassen, selbst heilen und bei Bedarf verstärken können.

forschungszentrums (FMF) an der Universität Freiburg. Um an die Isocyanate zu gelangen, greifen die Chemieunternehmen zu den gif-tigen Stoffen Phosgen und aromatischen Aminen – Substanzen, von denen einige als krebserregend gelten. Und noch ein weiteres Problem haftet PUR an: Als Ausgangsbasis für die Produktion dient meist Erdöl.

Umweltfreundlicher Weg zu Polyurethanen

Das will Rolf Mülhaupt gemeinsam mit Forscherkollegen biologischer, chemischer, physikalischer und materialwissenschaft-licher Institute in Freiburg und Karlsruhe ändern. In dem Projekt »grünPUR« hatten sich die Wissenschaftler zum Ziel gesetzt, einen umweltfreundlichen »grünen« Zugang zu neuartigen Polyurethan-Werkstoffen zu erschließen. Das Projekt aus dem Programm Bioinspirierte Materialsynthese der Baden- Württemberg Stiftung brachte dafür einen vielversprechenden neuen Ansatz: Er nutzt das Treibhausgas Kohlendioxid als Rohstoff, der biologisch und chemisch gebunden wird und völlig neuartige PUR-Materialien zugänglich macht, ohne giftige Zwischen-produkte zu erfordern.

»Zwar lassen sich Polyurethane schon heute teilweise auch aus nachwachsenden Rohstoffen wie Pflanzenölen oder Zucker

gewinnen«, sagt Mülhaupt. »Doch die che-mischen Verfahrensschritte sind in der Regel dieselben wie bei der Herstellung aus Rohöl.«

Auf die giftigen und feuchtigkeitsempfind-lichen Isocyanat-Zwischenprodukte kann man bislang nicht verzichten und muss bei der Produktion und Verarbeitung von PUR entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen.

Neue Materialien nach Maß Anders bei der neuen Art von Polyurethan, die die Forscher bei grünPUR entwickelt haben: Hier wird das Treibhausgas Kohlen-dioxid chemisch und biologisch in ungiftigen und gegen Feuchtigkeit unempfindlichen Zwischenprodukten gebunden, aus denen sich neuartige Polyurethan-Materialien ohne den Einsatz giftiger und feuchtigkeits-empfindlicher Zwischenprodukte maß-schneidern lassen. Inspiriert durch das Vorbild der Natur können sich diese neuen Polyurethane selbst heilen und anpassen: Sie erkennen Veränderungen ihrer Umwelt und reagieren darauf mit einem Wandel von Form und Eigenschaften.

Ein Baukasten aus grünen Kunststoffen Ausgehend von Kohlendioxid, Sauerstoff und Bio-Rohstoffen wie dem Naturstoff Limonen (die Betonung liegt auf der letzten Silbe mit Prof. Rolf Mülhaupt

dem »e«), der aus Orangenschalen gewonnen wird, entstehen über mehrere chemische Ver-arbeitungsstufen letztlich Biokunststoffe mit steuer- und schaltbaren Eigenschaften. Je nachdem, welche Zugaben beigemengt wer-den, sind die Produkte hart und kratzfest oder weich und gummielastisch.

Mit diesem Baukastensystem lassen sich Eigenschaften und ihre Veränderung leicht programmieren. Die erhaltenen PUR-Kunst-stoffe sind den konventionellen PUR-Mate-rialien ebenbürtig und können sie sogar übertreffen. Um das zu demonstrieren, haben Rolf Mülhaupt und sein Team zum Beispiel kratzfeste, von Perlmutt inspirierte Lacke aus

»grünem« PUR hergestellt.

Das Ideal:

pflanzliche Wiederauferstehung Doch die Wissenschaftler wollen noch mehr erreichen: alternative Kunststoffe, die nicht

nur giftfrei hergestellt werden, sondern zudem durch ihre ungewöhnlichen und programmierbaren Eigenschaften sowie durch ihre Anpassungsfähigkeit glänzen.

Dabei setzt das Team von Prof. Thomas Speck, Leiter der Biomechanics Group und Direktor des Botanischen Gartens der Universität Frei-burg, auf eine besondere Gattung von Pflan-zen als Ideengeber: Die sogenannten Wieder-auferstehungspflanzen können auch lange Trockenphasen überdauern. Blätter und Stän-gel verdorren dann zwar, doch beim ersten Regen oder wenn sie gegossen werden, gewinnen sie rasch neue Lebenskraft.

Die Künstler unter den Kunststoffen

Durch spezielle Nanostrukturen haben die Projektpartner Prof. Günter Reiter vom Frei-burger Lehrstuhl für Experimentelle Poly-merphysik und Dr. Ruth Schwaiger vom

Institut für Angewandte Materialien am KIT in Karlsruhe gemeinsam mit Rolf Mülhaupt diese Fähigkeit technisch nachgebildet. Das macht die Bio-Polyurethane zu echten Künst-lern: Die Nanostrukturen geben ihnen etwa die Fähigkeit zur Selbstversteifung – ein Merkmal, das Gebäude oder Windräder aus dem Material auch starken Stürmen trotzen ließe. Oder sie verleihen dem Kunststoff selbstheilende Kräfte, die etwa Kratzer und Risse in einem Lack aus Bio-PUR wie von Geisterhand verschwinden lässt. Zudem kön-nen die Eigenschaften von Bio-PUR, die biokompatibel sind, so programmiert wer-den, dass sie interaktiv auf Signale ihrer Umwelt mit Eigenschafts- und Form-änderungen antworten können. Rolf Mülhaupt ist zuversichtlich, dass der grüne Werkstoff aus Baden-Württemberg damit auch die Industrie überzeugen wird.

Es ist ein häufiges Problem der Medizin: Das-selbe Arzneimittel wirkt bei manchen Patien-ten gut, bei anderen dagegen gar nicht. Denn der Körper jedes Menschen hat seine indivi-duellen Eigenheiten, die sich bei Entwicklung und klinischen Tests eines neuen Medika-ments nicht berücksichtigen lassen. Dem behandelnden Arzt bleibt daher oft nichts anderes übrig, als nach dem Prinzip Versuch und Irrtum zu experimentieren, bis das geeignete Präparat gefunden ist.

Experimente am digitalen Double In Zukunft könnte dieses mühselige und für den Patienten frustrierende Vorgehen über-flüssig werden. Denn weltweit feilen Wissen-schaftler an Computermodellen des Körpers, die das Experimentieren vom Menschen auf einen digitalen Zwilling verlagern würden:

In Daten gegossene Abbilder von Knochen, Muskeln, Organen und Nerven werden sich dereinst vielleicht als virtueller Teststand für Tropfen und Tabletten nutzen lassen. Damit,

VIRTUELLES MUSKELSPIEL

Im Programm High Performance Computing werden Computer mit höchster Leistung und neue Rechenmethoden genutzt, um komplexe Forschungsprobleme zu lösen.

Stuttgarter Wissenschaftler simulieren damit die Funktion der Muskeln – für ein verbessertes Verständnis unseres Bewegungsapparats.

so die Hoffnung der Forscher, können Medi-ziner die Wirksamkeit und den Nutzen einer Arznei für jeden einzelnen Patienten an sei-nem digitalen Double ergründen.

Doch bis es so weit ist und Mediziner ein weitgehend vollständiges Menschmodell zur Verfügung haben, haben die Wissenschaftler noch viel Arbeit. Einen entscheidenden Bei-trag dazu leistet ein Forscherteam um Prof.

Dr. Oliver Röhrle. Er leitet die Forschungs-gruppe für Kontinuumsbiomechanik und Mechanobiologie am Exzellenzcluster Simu-lation Technology (SimTech) der Universität Stuttgart. Gemeinsam mit Kollegen aus etli-chen anderen Fachbereietli-chen – Informati-kern, Mathematikern und Experten für die Visualisierung von Daten – entwickelt er einen zentralen Baustein für ein digitales Modell des menschlichen Körpers: Es soll die Funktion des neuromuskulären Systems im Computer nachahmen – des Zusammenspiels von Nerven und Muskeln, das jegliche Art von körperlicher Bewegung steuert.

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BADEN-WÜRTTEMBERG STIFTUNG JAHRESBERICHT 2017

FoRSCHUNG HIGH PERFoR MANCE CoMPUTING

Detaillierte Modelle der Muskulatur

»Unser Ziel ist es, hochaufgelöste Modelle der Skelettmuskulatur mit digitalen Abbildern der Nervensignale wiederzugeben«, erklärt Röhrle. »Dadurch hoffen wir, die Funktion von Muskeln und Nerven und die Bewegungs-abläufe besser verstehen zu lernen.« Die Baden-Württemberg Stiftung finanziert die Forschung in dem Projekt »Towards a digital human« (DiHu), das im November 2016 gestartet ist.

leistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) zur Verfügung stehen – nicht weit entfernt von Oliver Röhrles Arbeitsgruppe auf dem Uni-campus in Stuttgart-Vaihingen. Sie gehören zu den modernsten und kraftvollsten Rechen-maschinen weltweit. Dennoch können die Forscher für die Simulation des menschlichen Bewegungsapparats nicht einfach mit den Computermonstern loslegen. Stattdessen ste-hen zunächst unter anderem die Entwicklung geeigneter numerischer Verfahren und die Anpassung der Nerven- und Muskelmodelle an die spezielle Architektur der Rechner auf dem Programm. Erst dann kann sich deren Rechenleistung voll entfalten.

Feintuning mit elektrischen Signalen

Um die digitalen Funktionsmodelle mit der Realität im menschlichen Körper in Einklang zu bringen, berechnen und messen die Wissenschaftler sogenannte Elektromyo-gramme (EMG). »Sie sind das Pendant bei den Muskeln zum bekannten EKG, das Einsicht in die elektrische und mechanische Aktivi-tät des Herzens gibt«, erklärt Röhrle: »Das EMG liefert Aufzeichnungen der überlagerten elektrischen Signale von einzelnen Muskel-fasern.« Aus dem Vergleich von berechneten und gemessenen EMG-Daten lassen sich die biologischen Prozesse im zentralen Nerven-system bei der Muskelbewegung ablesen und in ein mathematisches Modell übertragen.

Ein weiterer Schwerpunkt der DiHu- Forscher liegt auf einer möglichst klaren und anschaulichen Visualisierung der Simu-lationsergebnisse.

Crashtests, Knieprothesen und Arbeitsplatzgestaltung Neue Erkenntnisse über Belastungen des Körpers, die sich aus den Simulationen am digitalen Muskel- und Nervensystem ergeben, könnten künftig etwa bei einer ergonomisch günstigen Gestaltung von Arbeitsplätzen helfen. Oder dazu beitragen, dass virtuelle Crashtests, in denen neue Auto-mobil- oder Flugzeugmodelle im Computer gegen die Wand geschoben werden, zu genau-eren Resultaten führen. Implantate wie künstliche Knie- oder Hüftgelenke ließen sich auf Basis der Muskelsimulationen pass-genauer auf die Bedürfnisse eines jeden Patienten zuschneiden. Und zusammen mit der Simulation anderer Abläufe im mensch-lichen Körper – zum Beispiel des Herzschlags, des Blutflusses durch die Adern und der Ver-sorgung von Zellen mit Nährstoffen durch das Blut – kämen die Forscher dem Ziel eines digitalen Zwillings des Menschen ein großes Stück näher.

Oliver Röhrle und seine Mitstreiter haben sich viel vorgenommen. Insgesamt rund 650 Muskeln sorgen im menschlichen Kör-per für die Beweglichkeit seiner Bestandteile.

Dirigiert werden sie durch sogenannte Aktionspotenziale: elektrische Signale, die das Gehirn über Nervenbahnen an die Fasern in den Muskeln schickt. Daraus ergibt sich ein enorm komplexes Netzwerk aus bio-logischen Steuerungssträngen: Denn viele Muskeln, etwa die im Oberschenkel, ent-halten mehrere hunderttausend bis zu einer Million einzelne Fasern.

Eine Million Fasern im Fokus

»Bislang konnten wir Reize und Kräfte nur für ein paar tausend Fasern berechnen«, sagt Röhrle. Schon das brachte selbst die größten Cluster von Rechenmaschinen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Doch für eine wirk-lichkeitsnahe Simulation der biolo gisch-physikalischen Vorgänge genügt das nicht.

Dazu müssen die Wissenschaftler die mäch-tigen Bündel von Einzelfasern möglichst voll-ständig nachbilden. In dem interdisziplinä-ren Projekt, das drei Jahre lang laufen wird, wollen die Stuttgarter Forscher dieses ambi-tionierte Ziel erstmals erreichen.

Dazu setzen sie auf die immense Rechen-power von Supercomputern, die am

Höchst-Prof. Dr. Oliver Röhrle

Exzellenzcluster

Simulation Technology (SimTech) an der Universität Stuttgart

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HIGH PERFoR MANCE CoMPUTING

NEUE PERSPEKTIVEN

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