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IV. W ITWENSCHAFT UND L IMINALITÄT

2. Witwenschaft als liminale Phase

Zwischen dem Tod eines verheirateten Mannes und der Durchführung des Witwenreinigungsrituals haben weder der Verstorbene noch die Witwe einen festgelegten Status. Der Tote verweilt während dieser Phase noch als Geist bei der Ehepartnerin und wird erst nach Beendi-gung des WitwenreiniBeendi-gungsrituals zu einem matrilinearen Ahnen. Auch die Witwe befindet sich in einer liminalen Position, bis sie nach dem Wiedereingliederungsritual erneut die soziale Position einer verheirate-ten Frau einnimmt. Ihre sozialen Beziehungen müssen nach dem Ver-lust ihres Ehemannes neu definiert werden, da der Todesfall ihre bishe-rige Position gegenüber der eigenen Familie, der Schwiegerfamilie und dem weiteren Umfeld verändert. Die Hinterbliebenen durchlaufen, so Richard Huntington und Peter Metcalf, eine liminale Phase, da die Verwandtschaftsgruppe ohne das verlorene Mitglied neu konstituiert werden muss (1991: 84).52

»Kin are contaminated by death because they partake in death. Each severed relationship leaves a living person that much reduced: a so-cial and psychological amputee. Of all relatives, the widow is the most disfigured. Like the dead man, she must undergo a liminal phase during which her identity is readjusted« (Huntington, Metcalf 1991:

82).

Am Ende des rituellen Prozesses wird durch das Wiedereingliederungs-ritual sowohl die soziale Position des Verstorbenen als Ahnengeist als auch die der Witwe wiederhergestellt, die nun wieder den Status einer verheirateten Frau innehat.

Die liminale Phase innerhalb von Übergangsritualen hat in der Eth-nologie besondere Aufmerksamkeit erhalten. Mit Phänomenen der Grenzüberschreitung befasste sich seit Mitte der 1960er Jahre die briti-sche Ethnologin Mary Douglas (1966). Wenn Personen kulturell defi-nierte Grenzen oder Klassifikationen überschritten oder nicht eindeutig zuzuordnen seien, würden sie als »unrein« definiert und ausgegrenzt (Douglas 1985: 53). »[Pollution powers] punish a symbolic breaking of

52 Die Beteiligung aller Verwandten an Beerdigungsritualen ist daher wesentlich, um alle in die Neudefinition der sozialen Ordnung einzubeziehen (vgl. Dilger 2005:

141).

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that which should be joined or joining of that which should be separa-te« (Douglas 1966: 113). Die aus der Ambiguität dieses Zustands er-wachsenden Reinheitsvorschriften und Tabus sieht sie als Mittel, gesell-schaftliche Grenzen zu definieren und Ordnungen aufrechtzuerhalten.

Die ausführlichste und bis heute weitgehend anerkannte Auseinan-dersetzung mit der liminalen Phase in rituellen Prozessen stammt von dem britischen Ethnologen Victor W. Turner. Als Mitglied des Rhodes-Livingstone Institute forschte Turner seit den 1950er Jahren über sozia-le Transformationsprozesse bei den Ndembu im westlichen Sambia, konzentrierte sich aber stärker als seine älteren Kolleg/innen Audrey Richards, Elizabeth Colson und Max Gluckman auf den rituellen und religiösen Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen und wandte sich der symbolischen Anthropologie zu. Anhand ritueller Prozesse bei den Ndembu beschreibt Turner die liminale Phase als einen Zwischen-zustand, in dem übliche Grenzziehungen und Statusunterschiede auf-gehoben sind.53 In Übergangsritualen sind liminale Subjekte sowohl

›nicht-mehr‹ als auch ›noch-nicht‹ und damit in jeglicher Hinsicht un-definiert.

»The attributes of liminality or of liminal personae (›threshold peo-ple‹) are necessarily ambiguous, since this condition and these per-sons elude or slip through the network of classifications that normally locate states and positions in cultural space. Liminal entities are nei-ther here nor nei-there; they are betwixt and between the positions as-signed and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial«

(Turner 1969: 95).

Liminale Personen befinden sich im rituellen Prozess somit in einer ambivalenten Position zwischen kulturellen Klassifikationen. Turner stellt fest, dass diesen grenzüberschreitenden Personen auf der einen Seite besondere magisch-religiöse Kräfte zugesprochen wurden, sie auf der anderen Seite aber als gefährlich und verunreinigend galten (Turner 1969: 96). In Bestätigung von Mary Douglas’ These von der Unreinheit des Uneindeutigen heißt es bei ihm:

53 Ausführlich befasste sich Turner mit der liminalen Phase und mit liminalen Phä-nomenen in Forest of Symbols: Aspects of Ndembu Ritual (1967, vgl. v. a. das Kapitel »Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites des Passage«), in sei-nem Buch The Ritual Process: Structure and Anti-Structure (1969, vgl. v. a. das Kapitel »Liminality and Communitas«) sowie in dem Artikel »Passages, Margins, and Poverty: Religious Symbols of Communitas« in seiner Aufsatzsammlung Dramas, Fields and Metaphors (1974).

»[…] transitional beings are particularly polluting, since they are nei-ther one thing nor anonei-ther; or may be both; or neinei-ther here nor nei-there;

or may even be nowhere (in terms of any recognized cultural topog-raphy), and are at the very least ›betwixt and between‹ all the recog-nized fixed points in space-time of structural classification. In fact, in confirmation of Dr. Douglas’s hypothesis, liminal personae nearly al-ways and everywhere are regarded as polluting« (Turner 1967: 97).

Wie Turner am Beispiel der Ndembu zeigte, wurde die Ambiguität der rituellen Subjekte in der liminalen Phase häufig gekennzeichnet durch geschlechtlich undefinierte Kleidung, Bisexualität, Besitzlosigkeit, Nacktheit oder das Fehlen von Insignien der Positionszugehörigkeit.

Die dadurch entstehende Ununterscheidbarkeit ließ rituelle Subjekte, so Turner, in einen Zustand der communitas, einer Gemeinschaft Glei-cher eintreten, in der sie untereinander enge Bindungen eingingen und weltliche Statusunterschiede und Hierarchien bedeutungslos wurden.

Auch der britische Ethnologe Edmund Leach (1978) griff Mitte der 1970er Jahre van Genneps Theorie der Dreiphasigkeit von Übergangsri-tualen auf. Die liminale Phase bewirke, »dass die normale Existenz des Initianden suspendiert und er vorübergehend zu einer abnormen Person wird« (Leach 1978: 99). In dieser Phase würden Personen zwar einer-seits als heilig und in besonderem Maße schutzbedürftig angesehen, gälten aber zugleich als gefährlich und unrein. Dies begründete Leach damit, dass in kulturellen Systemen grundsätzlich mehrdeutige Grenz-markierungen bestünden, die immer wieder affirmiert und neu herge-stellt werden müssten. Liminale Personen würden ausgegrenzt, weil sie die ständig zu sichernde kulturelle Ordnung gefährdeten. Edmund Leach geht dabei, wie auch Mary Douglas, in seinen Analysen von einer hohen Stabilität der jeweiligen kulturellen Kategorien und sozialen Positionen aus. In strukturfunktionalistischer Weise begründet er die Ausgrenzung des Uneindeutigen damit, dass bestehende Kategorien-grenzen dadurch vor liminalen Phänomenen geschützt und so gesell-schaftliche Strukturen bestätigt werden könnten. Der Möglichkeit, dass liminale Phänomene auch Verhandlungen und Veränderungen solcher Grenzen auslösen, schenkt er in seinen Analysen wenig Beachtung.

Während Leach und Douglas vor allem die Kategorien affirmierende Wirkung der Ausgrenzung von liminalen Personen hervorhoben, beton-te Victor Turner das transformative Pobeton-tential liminaler Phänomene.

Nach Turner begleiten Übergangsrituale häufig soziale Veränderungen und bieten den Raum, die daraus entstehenden Konflikte auszuhandeln.

Während die liminale Phase also einerseits gemeinschaftsstiftend sei, erlaube sie andererseits eine Infragestellung der gesellschaftlichen

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tur. Da in der statuslosen liminalen Phase laut Turner sichtbar werde, was jenseits der existierenden Sozialstruktur möglich wäre, ermögliche sie sozialen Wandel (1967: 97; vgl. Kap. VI.3).54

Victor Turners Ansatz fand in der Ethnologie insbesondere in den 1970er Jahren starke Beachtung und ist in letzter Zeit vermehrt von Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler/innen aufgegriffen wor-den. Ich nutze seinen Begriff der Liminalität, weil mir insbesondere die darin vorgenommene Verbindung von Ritual und gesellschaftlicher Krise hilfreich für die Analyse der veränderten Situation von Witwen im Kontext von AIDS erscheint.

Die durch die liminale Phase im Ritual verursachte Zwischenpositi-on vZwischenpositi-on Witwen möchte ich im Folgenden näher betrachten: Erstens befinden Witwen sich nach dem Tod ihrer Ehemänner in einer Grenz-position zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der spirits, weil der Geist des Mannes noch in ihrem Körper weilt. Das IciBemba-Wort für Witwe, mukamfwilua bedeutet wörtlich ›verheiratet mit einem Gestorbenen‹ und macht deutlich, dass Witwen als Personen gelten, die mit der Welt der spirits in einer engen Verbindung stehen. Das Reini-gungsritual am Ende des rituellen Prozesses wird auch mit dem Begriff ukubula imfwa, ›den Tod wegnehmen‹, bezeichnet, der darauf verweist, dass die Verbindung der Witwe mit dem Tod erst durch das Witwen-reinigungsritual aufgelöst wird. Es ist diese Position zwischen Leben und Tod, aufgrund derer Witwen als sowohl gefährdet wie auch als gefährlich wahrgenommen werden (vgl. Kapitel V.1).

Bis sie durch das Levirat und die Rückführung des spirit in die Li-neage des Mannes wieder in die Schwiegerfamilie eingegliedert sind, befindet sich eine Witwe nach dem Tod ihres Ehemannes zweitens in einer liminalen Position zwischen ihrer eigenen Herkunftsfamilie und der Familie ihres verstorbenen Mannes. Die familiäre Zugehörigkeit einer Witwe ist unklar, bis sie durch die Ehe mit ihrem Schwager wie-der in die Familie des Mannes integriert wird (vgl. Kapitel V.2). Drit-tens befinden sich Witwen in einer liminalen Position zwischen dem Status einer verheirateten und dem einer unverheirateten Frau. Erst durch das mit der Witwenreinigung eröffnete Levirat erlangen verwit-wete Frauen wieder den Status einer Ehefrau (Kapitel V.3).

54 Wie Peter Bräunlein (2006: 95) schreibt, sind Rituale für Turner »kulturelle Laboratorien für gleichermaßen persönlich-existentielle wie kollektive Transfor-mationsvorgänge«.

Da sie die Grenzen zwischen der Welt der spirits und der Welt der Lebenden, zwischen zwei Lineages und zwischen den beiden sozialen Positionen verheiratet und unverheiratet übertreten, gelten Witwen oftmals als unrein. Sie unterliegen aus diesem Grund Restriktionen und werden häufig stigmatisiert. Die Wiedereingliederung ist daher für Witwen ein zentrales Anliegen. Zu betonen ist jedoch, dass jene sozia-len Grenzen, welche Witwen durch ihre Zwischenposition stören, nicht als völlig klar definiert vorgestellt werden dürfen. Vielmehr sind diese Grenzen, wie in den folgenden Kapiteln deutlich wird, umstritten und werden anhand der Ausgrenzung von abweichenden, liminalen Perso-nen oft erst definiert.

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