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Streit um familiäre Zuständigkeiten

V. Z WISCHENPOSITIONEN

1. Zwischen Leben und Tod: Konflikte um

2.4 Streit um familiäre Zuständigkeiten

Nach dem Tod eines verheirateten Mannes brechen unter den Hinter-bliebenen oftmals bereits vorher bestehende Konflikte darüber auf, welches der in Kasama parallel bestehenden Zuständigkeitsmodelle gelten soll. Weil ihre familiäre Zugehörigkeit und damit ihre Ansprüche in der liminalen Position im rituellen Prozess zunächst nicht definiert sind, machen sich die Auseinandersetzungen meist an der Frage fest, ob Witwen Anspruch auf das Erbe ihres verstorbenen Mannes haben. Sie befinden sich bis zur Witwenreinigung in einer Grenzposition zwi-schen ihrer Herkunfts- und ihrer Schwiegerfamilie, die erst durch die Reaffirmation der jeweiligen Rechte und Pflichten im Wiedereinglie-derungsritual aufgehoben wird, wie Jack Goody für die LoDaga in Ghana beschreibt:

»By her husband’s death she [the widow] is placed in an intermedi-ary position, which results in a formal restatement, in dramatic form, of the rights and duties held by members of the two kin groups in spect of her and, conversely, of her privileges and obligations with re-gard to them« (Goody 1962: 247).

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Im nördlichen Sambia wurde diese Zwischenposition bis in die 1990er Jahre erst dadurch aufgehoben, dass die Witwe durch das Levirat wieder in die Schwiegerfamilie des Mannes eingegliedert wurde. Vor dieser formalen Bestätigung der Zugehörigkeit war unklar, wer die Witwe und ihre Kinder – wenn sie nicht selbst genügend Einkommen haben – versorgt. Aus der Konkurrenz der divergierenden Zuständigkeitsdefini-tionen ergeben sich die heftigen Erbschaftsstreitigkeiten zwischen der Herkunftsfamilie und der Witwe des Verstorbenen. Doch auch über die konkreten Verteilungskämpfe nach einem Todesfall hinaus ist in Kasama heftig umstritten, wer innerhalb der Familie für wen zuständig sein sollte und welches Modell von familiärer Zugehörigkeit Gültigkeit hat.

Die Frage, ob ein Mann seine Ehefrau und die von ihm gezeugten Kinder oder seine Schwestern und deren Kinder versorgen sollte, wird in Gesprächen unter Frauen in Kasama viel diskutiert. Viele verheiratete Frauen klagten über Konflikte mit ihrem Mann, die sich darum drehen, dass dieser die Angehörigen seiner Matrilinie mitversorgt. Gleichzeitig beschwerten sich viele meiner Gesprächspartnerinnen über die ›gierigen‹

Ehefrauen ihrer eigenen Brüder, die diese finanziell ausnähmen, um sich und ihre Kinder mit Luxusgütern zu verwöhnen. Je nach Kontext wechselten die Frauen also ihre Perspektive und verwiesen als Schwester auf die matrilineare ›Tradition‹, als Ehefrau hingegen auf christliche Regeln oder ›moderne Zeiten‹. Es waren meist die Frauen aus der Stadt, die sich für ein konjugal-patrilineares Modell einsetzen und monierten, dass ihre Ehemänner zuviel Geld an ihre, häufig auf dem Land leben-den, Geschwister verschenken. Frauen aus ländlichen Gebieten schimpf-ten dagegen häufiger darüber, dass ihre Brüder ihre Versorgungsver-pflichtungen gegenüber ihrer matrilinearen Herkunftsfamilie nicht einhielten. Während sich in einer wohlhabenden Schicht in der Stadt, in der Familien oft nur wenige Kinder haben, zunehmend patrilinear-konjugale Prinzipien durchsetzen, sind auf dem Land weiterhin über-wiegend matrilineare Prinzipien gültig. Da Versorgungsleistungen meis-tens von Stadtbewohner/innen für ihre Familien auf dem Land erbracht werden, treten Konflikte zwischen den verschiedenen Zuständigkeits-modellen insbesondere dann auf, wenn ein Mann aus der Stadt stirbt, der nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine Verwandten auf dem Land versorgt hat. Die Erbschaftskonflikte verlaufen somit v. a. entlang einer Stadt-Land-Trennung zwischen ärmeren Frauen auf dem Land, die oftmals von ihren Brüdern versorgt werden, die in die Stadt gezogen

sind, und Frauen in der Stadt, die von ihren berufstätigen Männern versorgt werden. Beide stellen Ansprüche an die gleichen Personen.

In einem Gruppeninterview teilten die fünf anwesenden Witwen, die alle in der Stadt lebten, die Meinung, dass Ehemänner zu sehr auf die Herkunftsfamilie ausgerichtet seien. Precious beklagte sich vor dem Hintergrund der oben geschilderten Konflikte zwischen ihr und ihrem Mann über die matrilinearen Ansprüche der Herkunftsfamilie des Mannes:

»They [the husbands] don’t invest for their children, the majority of them invest for their relatives – so there’s the woman now who suf-fers. […] Relatives, if we have to help them, we can think of them af-ter we have sorted out our children’s issues. Then we can help. And we don’t refuse to help. But children first!« (Precious Ngambi, 43 Jahre, Gruppeninterview 7.2.2004)

Mit den Formulierungen »the woman now suffers« oder »children first!« berief Precious sich auf die von Nichtregierungsorganisationen vertretenen Rechte von Frauen und Kindern und argumentierte, dass diese durch matrilineare Zuständigkeitsregeln eingeschränkt würden.

Helen, Leiterin einer NRO und ebenfalls Witwe, stimmte ihr zu. Sie begründete das Anrecht einer Ehefrau auf den Besitz des Mannes jedoch stärker mit christlichen Argumenten:

»Even in the bible, when somebody marries, it says: ›A man shall leave his mother and father and live a life with a woman‹. Yah, when that man comes to me, he has left his parents, we live our life together.

Whatever we are acquiring as assets or whatever, it’s supposed to feed me and my children. […] And we assist the parents just when we have; it’s not an obligation that you must give them. […] So when he dies, how should they come and grab whatever, what we worked with?« (Helen Mwale, 45 Jahre, Gruppeninterview 7.2.2004) In solchen Auseinandersetzungen zeigt sich die für matrilineare Gesell-schaften beschriebene Konkurrenz zwischen Schwägerinnen sowie Kreuzcousinen und -cousins, die aus der Inkongruenz von Residenz- und Zugehörigkeitsregeln resultiert. Diese Konkurrenz wird durch die ebenfalls Geltung beanspruchenden patrilinearen Zuständigkeitsdefini-tionen, wie sie sich in der nationalen Rechtssprechung manifestieren und von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen vertreten werden, noch verstärkt. Die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Zuständig-keitsmodelle ermöglicht es den Beteiligten im Konfliktfall je nach Kon-text auf patrilinear-konjugale oder matrilinear-konsanguinale Argumen-te zurückzugreifen.

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Debatten darüber, wer in der Familie für wen zuständig ist, haben auch in der politischen und medialen Öffentlichkeit eine erstaunlich hohe Präsenz. Fast täglich findet sich in großen sambischen Zeitungen ein Artikel, in dem über die Enteignung von Witwen berichtet wird. Dabei wird die mangelnde Einhaltung des Intestate Succession Act nicht nur von regierungsnahen Zeitungen stark kritisiert. Auch in politischen Diskussionen hatte die Frage, wie das Erbrecht gestaltet werden sollte, während meines Aufenthalts einen hohen Stellenwert. Bei den im Jahr 2003 stattfindenden öffentlichen Anhörungen zur geplanten Verfas-sungsreform war die Änderung des Erbrechts ein zentrales Thema. Im Vorlauf der geplanten Reform wurden in Kasama öffentliche Versamm-lungen in Schulen organisiert, in denen von der Bevölkerung Vorschläge für eine Änderung der Verfassung eingebracht werden konnten. In den dabei häufig aufkommenden Diskussionen über das Erbrecht, forder-ten viele, den Intestate Succession Act wieder abzuschaffen. Das Gesetz wurde kritisiert, weil es den Kindern und der Witwe eines Verstorbe-nen eiVerstorbe-nen zu großen Anteil des Erbes zuspreche. Diejenigen meiner Gesprächspartner/innen, die diese Position unterstützten, betonten, das Gesetz sei nicht auf die ›afrikanischen Verhältnisse‹ ausgerichtet und missachte die ›Traditionen‹. Ein Mann müsse für seine Herkunftsfami-lie zuständig sein, die ihn zu dem gemacht habe, was er ist. Das Gesetz werde von vielen nicht befolgt, weil es in Sambia als falsch gelte, die Herkunftsfamilie zu vernachlässigen. Auch viele meiner verwitweten Gesprächspartnerinnen sprachen sich, selbst wenn sie sich vorher über ihre eigene Enteignung und die Nichtbeachtung des Gesetzes beklagt hatten, gegen das Gesetz aus und bezeichneten es als ›unafrikanisch‹.

Obwohl diese Positionierung von Witwen zunächst paradox erscheint, ist sie darauf zurückzuführen, dass Frauen nach dem Tod ihrer Ehe-männer nicht mehr von diesen, sondern – wenn überhaupt – von ihrer Herkunftsfamilie unterstützt werden. Angesichts des Wechsels von einer ökonomischen Versorgung als Ehefrau zur Versorgung als Schwes-ter erklärt sich ihre Forderung, dass die Erbschaft eines Mannes an des-sen matrilineare Familie und damit auch an sie als Schwestern gehen solle, und nicht an Ehefrau und Kinder.

Die hohe mediale Aufmerksamkeit und die breit geführten öffentli-chen Diskussionen über die Erbschaftsverteilung weisen – insbesondere angesichts der Tatsache, dass nur die Hälfte der von mir interviewten Witwen tatsächlich von property grabbing berichtete – darauf hin, dass mehr zur Debatte steht als nur die Frage nach Geld und Absicherung.

Vielmehr wird in diesen Konflikten auch der Stellenwert ehelicher

Verbindungen gegenüber denen der ›Blutsverwandtschaft‹ und der Vor-rang matrilinearer oder patrilinearer Elemente in der verwandtschaftli-chen Ordnung ausgehandelt. Zudem geht es in den politisverwandtschaftli-chen Debat-ten über die gesetzliche Definition verwandtschaftlicher Zuständigkeit darum, den Umgang nicht nur mit der Geschichte der britischen Kolo-nialherrschaft, sondern auch mit den Ansprüchen der verschiedenen Ethnien im multikulturellen Sambia zu bestimmen.

Deutlich wird die Brisanz der Frage nach familiären Zuständigkeiten etwa in der autobiographischen Erzählung einer sambischen Witwe. In ihrem Buch A Song in the Night (1992) berichtet die Bibliothekarin Norah M. Mumba von ihren Erlebnissen nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1986. Aus den Rückblicken auf die Zeit vor seinem Tod geht hervor, dass das in der Hauptstadt Lusaka lebende Ehepaar Mumba sehr wohlhabend und westlich orientiert war. Die Verwandten des Mannes hingegen lebten größtenteils unter sehr viel ärmeren Bedingungen auf dem Land. Nach seinem Tod beschuldigten die Verwandten des Man-nes die hinterbliebene Ehefrau, seinen Tod verursacht zu haben, indem sie nach der Abtreibung eines Kindes die vorgeschriebenen Reinigungs-rituale verweigert habe. Sie nahmen nach der Beerdigungsfeier alle Wertgegenstände aus dem Haus, unter anderem den Kühlschrank, und das Auto mit in ihr Dorf. Im Kapitel »Matrilinealism or Vindictive-ness« (Matrilinearität oder Rachsucht) argumentiert Mumba mit er-staunlicher Vehemenz gegen die matrilineare Ordnung in Sambia, die zu Enteignungen und zu vielen anderen sozialen Übeln im Land führe und zudem unchristlich, feministisch und chaotisch sei (1992: 20). Die Herkunftsfamilie eines Mannes ruhe sich auf dessen Einkommen aus und gehe einfach davon aus, dass sie mitversorgt würde. Norah Mumba stellt Matrilinearität dabei als eine veraltete und schädliche Praxis dar, die nicht mehr mit den modernen Wirtschaftsformen in Sambia über-einstimme:

»I consider matrilinealism to be an incongruent system which has fos-tered social evils in our society. It may have operated acceptably for those societies that evolved it in those bygone days before the advent of the present money-centred economy, when life was gloriously sim-ple … In the present days, however, anarchy prevails over moral con-siderations. In particular, the matrilineal system has been used as cover by opportunist poor relatives who see the chance to uplift themselves from their poverty upon the death of a materially better off relative« (Mumba 1992: 21).

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Während sich in einigen Familien »rationalere« Familienbande als diese

»entwickelt« hätten, schlängen die meisten weiterhin »die Nabelschnur um ihre Männer […], bis diese daran ersticken« (1992: 20). Mumba berichtet, dass sie wiederum wegen ihrer Einstellung als »verwestlicht«

beschimpft werde, weil sie den Traditionen nicht mehr folge.

Wie Mumbas Darstellung und auch die Aussagen meiner Gesprächs-partnerinnen ist die ganze Debatte darüber, welche Verantwortlichkei-ten in der Familie herrschen sollVerantwortlichkei-ten, geprägt von den Gegenüberstellun-gen ›afrikanisch‹ versus ›europäisch‹ sowie ›alt‹ versus ›neu‹. So wurde beispielsweise in einer Informationssendung zum Erbschaftsrecht im staatlichen Fernsehen vom November 2003 die »afrikanische Tradi- tion«, nach der die Herkunftsfamilie Anspruch auf das Erbe habe, als Modernisierungshemmnis dargestellt. Die Moderatorin der Diskussions- runde fragte entsprechend den eingeladenen Rechtsexperten, »We Afri-cans have our traditions. Doesn’t that cause problems?« Patrilinear-konjugale Zuständigkeitsmodelle werden in Kasama hingegen als ›mo-dern‹ angesehen. Insbesondere in der Stadt lebende Frauen betonen, dass die Vorstellung, ein verheirateter Mann sei für seine Herkunftsfamilie zuständig, veraltet sei: Heutzutage folge man christlichen Regeln und wisse über die Rechte von Frauen Bescheid. Bei den Gegner/innen die-ser Position wiederum gilt es als ›verwestlicht‹ und egoistisch, wenn jemand sein Geld allein seinen Kindern und seinem Ehepartner/seiner Ehepartnerin zukommen lässt und seine Schwestern und Brüder nicht unterstützt.

Die Position, die eine Person in dieser Debatte einnimmt, ist trotz der scheinbar klaren Dichotomie häufig stark kontextabhängig. Argu-mente für ein patrilineares beziehungsweise für ein matrilineares Ver-fahren in der Erbschaftsregelung werden je nach Interessenslage vorge-bracht. Der wechselnde Einsatz unterschiedlicher und sich widerspre-chender Argumentationsmuster ist für diejenigen, die auf Versorgung angewiesen sind – und dazu gehören oftmals auch Witwen – fatal, da alle Angehörigen sich ihre Argumentation so zurecht legen können, dass sie keine Verantwortung tragen müssen.