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Welche Zentralbanken in Europa für welche Geldpolitik?

Im Dokument Die Europäische Zentralbank. (Seite 86-94)

In diesem Beitrag sollen die Ziele, der Aufbau und die Funktionsweise des Eurosystems im Hinblick auf eine sehr tief gehende Demokratisierung nicht nur der Geldpolitik im engeren Sinne, in dem sie oft verstanden wird (die Festlegung der kurzfristigen Zinssätze zum Errei-chen makroökonomischer Ziele), sondern auch im Hinblick auf die soziale Rolle der Zentral-bank und des Kreditsystems als Ganzes untersucht werden.

Unabhängigkeit der Zentralbanken: Was heißt das?

Den Verfechtern der Unabhängigkeit der Zentralbanken zufolge soll die Handhabe der Wäh-rung aus der politischen Debatte ausgeklammert werden, weil die Stabilität der Preise ein Gemeingut wäre, dessen Zugang den Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von den wirt-schaftlichen und politischen Begebenheiten zu sichern sei. Der erste Teil dieser Behauptung ist offensichtlich falsch: Die Geldpolitik ist ganz gewiss eine politische Angelegenheit, und ihre Steuerung entzieht sich bei weitem nicht dem Druck der besonderen Interessen, gleich ob sie einer gewählten Regierung oder einer als unabhängig erklärten Zentralbank übertragen wird. So ist insbesondere festzustellen, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken, die in fast allen Ländern seit zehn Jahren wirksam ist, gerade zum Ziel und zur Folge hat, alle ihre Ent-scheidungen dem Streben nach „Glaubwürdigkeit“ bei den Finanzmärkten unterzuordnen. Ist das die so genannte „Unabhängigkeit“? In einem Satz: Die Zentralbanken sind vielleicht von den Regierungen unabhängig geworden, von den einfachen Bürgerinnen und Bürgern sind sie dies allemal, aber wohl kaum von den Inhabern der Finanzmacht.

Der Hinweis, die Stabilität der Währung habe den Charakter eines Gemeinguts oder diene dem öffentlichen Wohl – der darauf hinausläuft zu sagen, dass die Sicherung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Währung eine Art öffentlicher Dienst ist, in dem Sinne, in dem er in Frankreich verstanden wird –, ist ernster zu nehmen. Die Währung ist ein grundle-gendes soziales Bindeglied. Schwindet das Vertrauen in die Währungszeichen, so bricht die Volkswirtschaft zusammen und mit ihr die Gesellschaft. Ist aber daraus abzuleiten, dass die Erhaltung der Qualität der Währung eine im wesentlichen technische Aufgabe wäre, die, ohne einer demokratischen Kontrolle zu unterliegen, Experten zu übertragen ist? Die Realität scheint mir komplexer zu sein.

Die technischen Aspekte der Währungsregulierung schließen eine demokratische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen zur Währungsbildung und Steuerung des Geldes keineswegs aus

Die technischen Aspekte des Vorgehens der Zentralbank (Überwachen der reibungslosen Funktionsweise der Zahlungsmittel, Gewährleisten der Qualität der Banknoten und Schutz vor Fälschungen, aber auch genaue Einschätzung der wirtschaftlichen Lage, der finanziellen Verhaltensweisen der Unternehmen und der Haushalte usw.) sind von ihrer öffentlichen Funktion untrennbar.

Die Aufgabe, die die Zentralbanken erfüllen, besteht nämlich nicht nur darin, politische Be-schlüsse in bezug auf das Zinsniveau zu fassen. Die Macht, über die sie verfügen, um eine Geldpolitik umzusetzen, beruht auf der Funktion, die sie im Mittelpunkt der Zahlungssysteme ausüben. Weil Geldüberweisungen zwischen Banken über Konten ablaufen, die diese bei der Zentralbank führen, hängt das Bankensystem als Ganzes von der Menge dieser zentralen Währung ab, die allein von der Zentralbank bestimmt wird. Aufgrund dieser von der Gesell-schaft beschlossenen Monopolsituation leitet sich ihre Funktion als „Lender of last resort“

(wenn sich ein Kreditinstitut tatsächlich im Zahlungsverzug befindet) und ihre Befugnis ab, den Preis der zentralen Währung festzulegen, das heißt die kurzfristigen Zinssätze.

Dies bedeutet zweierlei:

• Die Tätigkeit der Zentralbank setzt Kompetenzen und technische Hilfsmittel voraus, die in der Tat eine Angelegenheit von Spezialisten sind.

• Man kann aber – beispielsweise wie beim Umgang mit der Kernenergie oder dem Erbgut – Spezialisten nicht allein über die möglichen Folgen ihrer Handlungen für die gesamte Bevölkerung urteilen lassen: eine aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Debatten und Entscheidungen, die für die Einführung und Steuerung des Geldes maßgeb-lich sind, ist eine demokratische Notwendigkeit und eine für die Stabilität der Gesellschaft unerlässliche Vorsichtsmaßregel.

Unabhängigkeit und Ziele der Geldpolitik

Diese Überlegungen geben uns Anlass zu dem Vorschlag, dass die Europäische Zentralbank ihr Vorgehen nicht darauf ausrichtet, die Lohnentwicklung zu bremsen und die Finanzinfla-tion zu fördern, wie sie es seit ihrer Gründung zu tun neigt, sondern vielmehr darauf, die

Ban-ken dazu anzuregen, vorrangig Projekte zu finanzieren, die zur Entstehung von sicheren Ar-beitsplätzen und zur Vergrößerung der arbeitsplatzschaffenden Kapazitäten beitragen. Dies würde dazu führen, dass im Rahmen eines konfliktgeladenen Mix zwei Regulierungslogiken gegenüber gestellt werden: die spontane Selektivität, die den kapitalistischen Kriterien der finanziellen Rentabilität innewohnt und eine bewußte Selektivität des Kredits, die auf neuen Befugnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Bevölkerung beruht.

In einer solchen Perspektive würden die Aufgaben geteilt: Die Banken wählen die Empfänger ihrer Kredite nach der wirtschaftlichen und sozialen Effizienz ihrer Projekte (und nicht nur nach ihrer Rentabilität) aus; die Zentralbank und der Staat ermutigen sie dazu, indem sie zum Beispiel Banken, die beschäftigungs- und ausbildungsfördernde Kredite entwickeln, günstige-res Geld leihen; und die sozialen Akteure – Unternehmensleiter, aber auch lokale, regionale oder nationale Volksvertreter, Betriebsräte – beteiligen sich schließlich an der Unternehmens-führung, aber auch an der Führung der Finanzinstitute, um auf die Einhaltung der Finanzie-rungskriterien zu achten. Bei diesem Unterfangen behält unser Vorschlag einer gemeinsamen Währung für Beschäftigung und Wachstum (anstelle einer einzig auf die Finanzmärkte orien-tierten Währung) voll und ganz seine Aktualität.

Die zur Verwirklichung einer Geldpolitik nach dieser Vorstellung notwendigen Techniken sind im wesentlichen bereits vorhanden, sowohl hinsichtlich der Benachteiligung von Finanz-geschäften als auch hinsichtlich der Ermutigung zu beschäftigungsfördernden Finanzierungs-formen.

Das Eurosystem verfügt in der Tat über ein sehr umfassendes Ensemble von geldpolitischen Instrumenten.

Es stützt sich in erster Linie auf ein System von Mindestreserven. Die auf der Grundlage der Hauptrefinanzierungssätze des Systems vergüteten Mindestreserven werden auf Sicht- und Termineinlagen der Gebietsansässigen und Gebietsfremden in Euro und in Fremdwährungen veranlagt. Ihre Bemessungsgrundlage ließe sich auf reine Finanzgeschäfte (Kredite für den Kauf von Wertpapieren) oder gegebenenfalls auf Kredite zur Finanzierung von spekulativen Devisenbewegungen (Darlehen für „Gebietsfremde“) erweitern. Um die Bildung dieser Re-serven zu verhindern, könnte ihre Vergütung abgeschafft oder zu einem unter dem Marktni-veau liegenden Satz festgelegt werden.

Umgekehrt könnten die Darlehen des Eurosystems für Geschäftsbanken in bestimmten Fällen zu Sätzen nahe Null gewährt werden, wenn sie im Gegenzug beschäftigungs- und ausbil-dungsfördernde Geschäfte bewirken. Solche selektiven Refinanzierungen sind im Rahmen der derzeitigen Interventionsverfahren des Eurosystems teilweise durchführbar. Ihrer Definition im Vertrag von Maastricht und ihrer Auslegung durch den EZB-Rat entsprechend können sie sehr unterschiedliche Formen annehmen, die gegenwärtig nicht alle genutzt werden. Aber bereits jetzt sind die Refinanzierungskosten verschieden, je nachdem, ob es sich um ein regu-läres Geschäft des Eurosystems (Hauptrefinanzierungsgeschäfte) oder um den Rückgriff der Banken auf eine teurere Spitzenrefinanzierungsfazilität handelt. Der Möglichkeit, dass Ban-ken, die ihre Kreditvergabe an den sozialen Nutzen und die wirtschaftliche Effizienz knüpfen (dies ist von den Dienststellen der Zentralbanken in Abstimmung mit allen Wirtschafts- und Sozialakteuren zu überprüfen) im Rahmen eines bestimmten Höchstbetrags eine Refinanzie-rung dieser Kredite beim Eurosystem zu einem Satz unterhalb des Marktniveaus erhalten können, steht daher nichts im Wege.

Eine solche Geldpolitik müsste Bestandteil einer allgemeinen Strategie sein. So wäre es bei-spielsweise sinnvoll, wie Jörg Huffschmid vorschlägt, sehr strenge Regeln für Investitionen in Pensions- und Anlagefonds vorzuschreiben und die Rolle der öffentlichen und genossen-schaftlichen Finanzinstitute zu fördern. Setzt man bei den grundlegenden Mechanismen der Währungsinstitution an, so stellt sich schließlich die Frage nach dem internationalen Wäh-rungssystem und der Ablösung der Vormachtstellung des Dollars durch etwas anderes, etwa eine gemeinsame Weltwährung.

Neuorientierungen der europäischen Geldpolitik und Organisation des ESZB

Europa ist auf der Suche nach einem „Sozialmodell“. Seine Errichtung wird, dies ist unver-meidlich, zu tief greifenden Entwicklungen im derzeitigen Modell der Währungszusammen-arbeit führen – diese Meinung ist bei zahlreichen Kundgebungen, die den Gipfel von Nizza begleiteten und bei denen oft die Unabhängigkeit der EZB und ihre Polarisierung auf das aus-schließliche Ziel der Preisstabilität in Frage gestellt wurden, deutlich zum Ausdruck gekom-men. Es gilt daher, ein „europäisches Währungsmodell“ zu erfinden, das im Dienste des Wachstums, der Beschäftigung und des lebenslangen Lernens steht und imstande ist, das Beste aus den Traditionen der Zentralbanken zu übernehmen: den angelsächsischen Pragma-tismus bei der Definition der geldpolitischen Ziele und Strategien, die deutsche Strenge bei der Sicherung des Vertrauens in die Währung als Garanten für den sozialen Zusammenhalt,

die Dynamik des öffentlichen Dienstes französischer Art usw. Unter diesem Gesichtspunkt ist die politische, aber auch technische Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Zentralban-ken und der Europäischen Zentralbank eine wichtige Frage geworden.

Die seit der Einführung des Euro vor drei Jahren gewonnene Erfahrung hat die zunächst weit verbreitete Vorstellung widerlegt, dass die Rolle der nationalen Zentralbanken unaufhaltsam zurückgehen würde. Vielmehr hat sich die dezentralisierte Umsetzung der europäischen Geldpolitik in technischer Hinsicht als erfolgreich erwiesen. Vor allem um das Vertrauen der Europäerinnen und Europäer in ihre Währung zu fördern, sind die Kontakte zwischen der Bevölkerung und der mit der Verwaltung des Währungssystems betrauten Institution zu stär-ken. Was wäre daher wertvoller als nationale Zentralbanken, die über ein Netz verfügen, das dem wirtschaftlichen und sozialen Gefüge möglichst genau entspricht? Die Banque de France mit ihren 211 Zweigstellen oder die Deutsche Bundesbank besitzen in diesem Punkt einen beträchtlichen Vorteil.

Eine Geldpolitik, die ausschließlich auf der Unterstützung der Finanzmärkte beruht, könnte dagegen von einer solchen Dezentralisierung nicht profitieren. Die großen Finanzinstitute neigen von Natur aus dazu, ihre Geschäfte auf einen einzigen Finanzplatz in Europa zu kon-zentrieren (dies könnte auch London sein, falls Großbritannien der Währungsunion beitritt, was aus heutiger Sicht als wahrscheinlich gilt: Sind nicht Gerüchte im Umlauf, wonach auf die Deutsche Bank Druck ausgeübt wird, ihren Sitz in die britische Hauptstadt zu verlegen?).

Aus den gleichen Gründen wird diese Situation, je mehr Aktivitäten des Eurosystems in den Dienststellen der EZB untergebracht werden, einer Geldpolitik gleichkommen, deren Auf-merksamkeit ganz den Finanzmärkten, ihren Erwartungen und den von ihnen vorgeschriebe-nen Kriterien gilt und die dem tatsächlichen Befinden der Volkswirtschaften und Gesell-schaften in Europa gleichgültig gegenübersteht. Umgekehrt verbessern sich die Aussichten der Geldpolitik, den Vorstellungen der Bevölkerung, ihren Erwartungen in bezug auf Wachstum, Beschäftigung, Ausbildung und soziale Gerechtigkeit zu entsprechen, je mehr die nationalen Zentralbanken imstande sein werden, sich der Gesellschaft zu öffnen, die Kontakte mit den in ihrem Gebiet angesiedelten Banken, den Unternehmen, den Vertretern der Be-schäftigten, den nationalen, regionalen und lokalen Politikern und den einfachen Bürgerinnen und Bürgern zu vertiefen.

Diese Fragen stellen sich sehr konkret in einer ganzen Reihe von Bereichen, in deren Zusam-menhang der EZB-Rat Beschlüsse fassen musste:

• Derzeit erfolgt die Herstellung der europäischen Banknoten dezentralisiert in jedem Mit-gliedstaat der Währungsunion. In einigen Jahren dagegen wird Druck zugunsten von Aus-schreibungen in der Privatwirtschaft ausgeübt werden: In diesem Fall wäre das Risiko groß, dass die Herstellung der europäischen Banknoten vollständig von einigen multinati-onalen Notendruckereien kontrolliert wird und sich ihr technisches Know-how dem Euro-system entzieht, das immerhin für das Vertrauen der Öffentlichkeit in ihre Währung ver-antwortlich ist!

• Ein Kernpunkt liegt in der buchhalterischen Organisation der Beziehungen zwischen dem Eurosystem und den Banken. In diesem Bereich ist die Dezentralisierung ein Faktor für technische Wirksamkeit und Sicherheit. So wurde beispielsweise zu Recht beschlossen, dass die Geschäftsbanken nicht direkt bei der EZB Konten einrichten und sie ihre Min-destreserven bei der jeweiligen nationalen Zentralbank anlegen. Die mehr oder weniger dezentralisierte Architektur des TARGET-Systems, vom Eurosystem eingerichtet, um die nationalen Zahlungssysteme miteinander zu verbinden und den Euro-Geldmarkt zu ver-einheitlichen, stellt ebenfalls eine große Herausforderung angesichts des Wettbewerbs der privaten Netze dar.

• Es ist eine Debatte über die Rolle der nationalen Zentralbanken im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht (und allgemeiner im Zusammenhang mit der Überwachung der Stabi-lität der Kapitalmärkte) in Gang gekommen. In ihrer Anfang 2001 veröffentlichten Stel-lungnahme betonte die EZB, dass die nationalen Zentralbanken eine wichtige Verant-wortung in diesem Bereich tragen; dies ist eine bedeutende und meiner Ansicht nach po-sitive Entwicklung ihrer politischen Ideologie.

• Schließlich erscheint es mir wichtig, enge Beziehungen zwischen dem Eurosystem und der realen Volkswirtschaft, das heißt mit den Unternehmen zu entwickeln: Vor allem die Fähigkeit, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der den Unternehmen bewil-ligten Finanzierungen zu beurteilen, wäre eine unverzichtbare Komponente einer selekti-ven Geldpolitik, wie jener, deren Grundzüge weiter oben skizziert wurden.

Dies zeigt, dass es an Ideen nicht mangelt, um den europäischen Gesellschaften moderne Zentralbanken zu geben, die den neuen Bestrebungen der Bürgerinnen und Bürger gerecht werden und etwas Transparenz in diesem traditionellen Tabubereich der Geldwirtschaft ein-führen. Natürlich reichen Ideen an sich nicht aus, es ist auch der politische Wille notwendig,

und um zu diesen anzuregen, ist meistens gesellschaftliche Mobilisierung notwendig. Am 19.

Juni 2001 fand vor den Fenstern des Präsidenten der Europäischen Zentralbank in Frankfurt die erste „Euro-Demonstration“ der Beschäftigten der europäischen Zentralbanken statt: ein zukunftsträchtiges Ereignis für die Zentralbanken, ihre 65 000 Beschäftigten und ihre drei-hundert Millionen Kunden.

Klaus Steinitz

EU-Osterweiterung und die Geldpolitik der EU

Anforderungen,

Im Dokument Die Europäische Zentralbank. (Seite 86-94)