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der Weimarer Republik. Die RfA und das Alterssicherungssystem vor 1933

Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 21-50)

Das System der staatlichen Rentenversicherung befand sich Anfang der 1930er Jahre in einer prekären Lage. Schrumpfende Beitragseinnahmen bei gleichzeitig steigenden Leistungsausgaben für Ruhegeldzahlungen infolge von Arbeitslosigkeit oder Alter sowie Witwen- und Waisenrenten rissen rasch wachsende Defizite in die Kassen der Versicherungen. Die sozialpolitischen Diskussionen wurden neben dem alles über-schattenden Kampf gegen die Arbeitslosigkeit daher auch von der Frage einer Reform und Sanierung der Rentenversicherung beherrscht. Doch die Lage in den einzelnen Versicherungszweigen war höchst verschieden.Während in der Invalidenversicherung die Deckungsgrundlage massiv geschrumpft war und die Vermögensreserven ange-griffen werden mussten, mithin ein akuter Sanierungsbedarf bestand, stand die An-gestelltenversicherung vergleichsweise solide da. Auch die RfA hatte durch Krieg und Inflation massive finanzielle Einbußen erlitten. Die Zahl der Heilbehandlungen etwa war im Ersten Weltkrieg sprunghaft angestiegen, gleichzeitig war es, da viele Versi-cherungspflichtige Kriegsdienst leisten mussten, zu beträchtlichen Beitragsausfällen gekommen.¹ Das Deckungsvermögen der RfA schrumpfte. Dazu kam, dass etwa zwei Drittel des Gesamtvermögens in Kriegsanleihen angelegt war und im Strudel der In-flation wertlos wurde.² Ende Oktober 1923 waren aus dem Vermögen von schät-zungsweise rund 900 Mio. Goldmark ganze 45 Mio. Goldmark übrig geblieben. Auf die ca. drei Mio. Versicherten umgerechnet hatte jeder von ihnen von dem angesparten Kapital von 300 Goldmark ca. 285 Goldmark verloren.³

Aber nach der Währungsstabilisierung gelang eine rasche Konsolidierung der Finanzen, die nicht nur durch steigende Beitragseinnahmen, sondern vor allem auch durch hohe Zinserträge beschleunigt wurde. Sie mündete in den Jahren zwischen 1924 und 1928/29 in zahlreichen Leistungsverbesserungen und einen Ausbau des Versi-cherungssystems. Eine Reihe neuer Gesetze im Mai 1924 (Angestelltenversicherungs-gesetz), Juli 1925 und März 1928 (Gesetz über Leistungen in der Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung) hatte zunächst eine deutliche Stärkung der Selbst-verwaltungsorgane in der RfA mit sich gebracht. Statt vier standen nun sechs eh-renamtliche Mitglieder im Direktorium den vier ernannten Beamten gegenüber mit

Vgl. dazu auch Hans-Jörg Bonz, Die Geschichte der Angestelltenversicherung, unveröffentl. Manu-skript, Berlin 1988 (im Folgenden Bonz-MS), S. 349ff.

Indikator für das sich beschleunigende Tempo der Inflation war die Erhöhung der Versicherungs-pflichtgrenze, d.h. der versicherungspflichtigen Jahresarbeitsverdienstgrenze. Zunächst, im Juli 1921, bereits auf 30.000 Mark angehoben, stieg sie bis Ende 1922 auf 840.000 Mark, um in den Monaten der Hyperinflation 1923 auf 7,2 Mio. Mark anzusteigen. Vgl. Bericht des Direktoriums der RfA über das Geschäftsjahr 1921, dito für 1922 und 1923, in: RfA-Archiv Nr. 10 sowie auch Bonz-MS, S. 350.

Vgl. 25 Jahre Angestelltenversicherung, S. 145.

OpenAccess. © 2019 Paul Erker, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0. https://doi.org/10.1515/9783110652741-002

entsprechendem Gewicht bei Entscheidungsprozessen. Auch die Überwachungs- und Kontrollrechte des Verwaltungsrates waren ausgeweitet worden.⁴Daneben standen aber vor allem vielfältige Veränderungen im Versicherungs- und Leistungsrecht: eine Erhöhung der Jahresarbeitsverdienstgrenze von 4000 RM auf 6000 RM, dann auf 8400 RM, eine Heraufsetzung der Beiträge und Erweiterung der Beitragsklassen sowie durch Festsetzung des Grundbetrags auf 480 RM eine deutliche Erhöhung der jähr-lichen Mindestversicherungsleistung für Ruhegeldempfänger.⁵ Auch die Steige-rungsbeiträge, der zweite Bestandteil der Ruhegeldes neben dem Grundbetrag, wur-den (entsprechend wur-den jeweiligen Beitragsklassen) erhöht, Kinderzuschuss und Witwenrente angehoben. Das durchschnittliche Rentenniveau in der Angestellten-versicherung lag dennoch nur bei 63 RM im Monat, ca. 40 Prozent des Durch-schnittsverdienstes aller RfA-Versicherten.⁶Vor allem wurden auch die Wartezeiten verkürzt und die Altersgrenze von 60 Jahren für Versicherte der Invalidenversiche-rung, die in eine angestelltenversicherungspflichtige Beschäftigung übertraten (die sogenannten Wanderversicherten), aufgehoben. Prinzipiell galt: Wer Anspruch auf eine Rente aus der AV erhob, musste nachweisen können, dass er die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft aufrechterhalten hatte. Wartezeit meint die Mindestzahl von Beitragsmonaten, für die der Versicherte Beiträge geleistet hat. Die Anwartschaft verlangte, dass diese festgelegte Mindestzahl an Beiträgen auch während bestimmter gesetzlich vorgeschriebenen Zeiten entrichtet wurde. In der Regel mussten 60 Bei-tragsmonate vorgewiesen werden, dann galt die Wartezeit als erfüllt. Für den Bezug von Ruhegeld bei Vollendung des 65. Jahres waren 180 Beitragsmonate notwendig.

Dabei war die Anrechnung von Ersatzzeiten möglich. Bei den Anwartschaften galt, dass jährlich mindestens sechs Monatsbeiträge bezahlt sein mussten. Wenn es zu große zeitliche Lücken gab, in denen keine Beitragszahlungen geleistet worden wa-ren, dann kam es zum Verlust der Anwartschaft und alle bisherigen Beiträge waren verloren. Der Nachweis über die geleisteten Beiträge erfolgte über den Kauf und das Einkleben von Marken entsprechende den jeweiligen Beitragsklassen, die sich nach der Höhe des Einkommens bestimmten, in die Versichertenkarte.

Die Folge der Gesetzesänderungen war, dass sich nach 1929 die Zahl der Ruhe-geldanträge sprunghaft erhöht und gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt hatte.

Zudem wurde der Versichertenkreis ausgedehnt, unter anderem durch die Einführung der Selbstversicherung für Ärzte und selbständige Gewerbetreibende (bei einem Höchstalter von 40 Jahren und einer verlängerten Wartezeit von 180 Beitragsmonaten) sowie durch Abschaffung der Altersgrenze von 16 Jahren als Versicherungseintritts-grenze. Schließlich hatte das Gesetz vom März 1929 die Möglichkeit geschaffen, Ru-hegeld auch solchen Versicherten zu gewähren, die älter als 60 Jahre waren und seit mindestens einem Jahr arbeitslos waren.⁷Entsprechend waren nicht nur die Zahl der

Vgl. Glootz, S. 63.

Vgl. 25 Jahre Angestelltenversicherung, S. 33f.

Vgl. auch Schlegel-Voß, S. 47.

Vgl. ebd., S. 36.

14 1 Problemlagen der Rentenversicherung am Ende der Weimarer Republik

RfA-Versicherten (von 2,8 im Jahr 1926 auf 3,2 Mio. im Jahr 1929) und der Rentenbe-stand (von 108.011 auf 192.949), sondern auch die Rentenleistungen förmlich explo-diert (von 60,66 Mio. RM auf 134,82 Mio. RM im selben Zeitraum). Auch die Bei-tragsleistungen, d.h. die Einnahmen der RfA stiegen (von 245,7 auf 372,3 Mio. RM), blieben aber mit einem Plus von 51,5 Prozent deutlich hinter den Ausgabensteige-rungen zurück.⁸Dennoch war die finanzielle Lage der RfA vergleichsweise stabil und weit entfernt vom defizitbelasteten und höchst instabilen Zustand der Invaliden-, aber auch der Knappschaftsversicherung. Jahr für Jahr verbuchte die RfA Jahresüber-schüsse in Millionenhöhe und verzeichnete im Jahr 1930 mit 323 Mio. RM sogar einen Rekordstand.

Auf den ersten Blick schienen die Finanzen der RfA mithin gesund und solide. Das bis Ende 1931 auf mehr als zwei Mrd. RM angestiegene Vermögen bildete scheinbar ein beruhigendes Polster für stürmische Jahre, zumal wenn man die Kritierien des in der Inflationszeit faktisch geltenden Umlageverfahrens anlegte. Demnach wurden die Beitragseinnahmen an den jeweils notwendigen Leistungen ausgerichtet, was eine Politik der fallweisen Mittelbeschaffung nach sich zog. Tatsächlich jedoch, wenn man den strengen Maßstab des Anwartschaftsdeckungsverfahrens anlegte, das innerhalb der RfA nach wie vor das Denken bestimmte, reichte das Vermögen gerade aus, die Verpflichtungen aus den bereits bewilligten Renten kapitalmäßig langfristig zu er-füllen. Für die notwendige Deckung der Anwartschaften sämtlicher Beitragszahler blieb nur ein unzureichender Bruchteil des hierzu benötigten Kapitals übrig. In einer internen Denkschrift über die voraussichtliche künftige Vermögenslage hatte die RfA Ende 1926 bereits konstatiert, dass im Jahr 1936 die Ausgaben die Einnahmen aus Beiträgen übersteigen werden und„mit dem Ende des Jahres 1953 der letzte Rest des Vermögens der Reichsversicherungsanstalt voraussichtlich aufgezehrt sein wird“.⁹ Um die Anwartschaften langfristig zu decken, müssten die Beiträge eigentlich mehr als doppelt so hoch sein. Ende 1928, in einer erneuten Prognose zur künftigen Vmögenslage der RfA, sah das Bild der zu erwartenden Entwicklung zwar bereits er-heblich freundlicher aus–demnach reichten die Beiträge nun bis zum Jahr 1941 zur Deckung der Ausgaben, erst 1955 würde das Vermögen angegriffen werden müssen und 1977 war mit einer völligen Aufzehrung des Vermögens zu rechnen.¹⁰ Eine Er-höhung der Beiträge war auch rein rechnerisch bzw. versicherungsmathematisch nicht mehr akut. Dennoch war deutlich, dass das Anwartschaftsdeckungssystem als Finanzierungssystem auf tönernen Füßen stand und über kurz oder lang zu kolla-bieren drohte. Der rasante Wandel des Anteils der Rentenausgaben an den

Beitrags-Zusammengestellt und berechnet nach den Angaben in: Bericht des Direktoriums der Reichversi-cherungsanstalt für Angestellte über das Geschäftsjahr 1932 sowie Voranschlag für das Kalenderjahr 1931, in: RfA-Archiv Nr. 10/11. Vgl. auch 25 Jahre Angestelltenversicherung 1913–1937, Berlin 1937.

Denkschrift über die Vermögenslage der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte 1926, S. 34, in:

RfA-Archiv, Handakte Granzow.

 Vgl. Denkschrift über die Vermögenslage der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte 1928, S. 21, in: ebd.

einnahmen, der 1926 noch 22,5 Prozent betragen hatte, bis 1932 jedoch auf knapp 72 Prozent kletterte, zeigte eine bedrohliche Tendenz auf.¹¹

Im Vergleich zu den anderen Versicherungszweigen, allen voran der Invali-denversicherung, war die Angestelltenversicherung dennoch geradezu ein Hort der Stabilität. Ende 1930 standen den ca. 3,5 Mio. Versicherten lediglich etwa 200.000 Vollrentner (129.000 Ruhegeldempfänger und 64.000 Witwen- bzw. 38.000 Wai-senrentenempfänger) gegenüber. Das Verhältnis der Versicherten zu den Rentnern belief sich auf 19 zu 1, während in der Invalidenversicherung (6 Beitragszahler auf einen Rentner) und der Knappschaftsversicherung (1,5 bis 2 zu 1) bereits eine dra-matische Lage herrschte.¹² Die Weltwirtschaftskrise verschlechterte dann für alle Versicherungszweige massiv die Parameter. Die rigorosen Rentenkürzungen der Not-verordnungspolitik Brünings und Papens erfassten auch die Angestelltenversiche-rung, die allerdings insgesamt weniger stark von den Auswirkungen der Deflation betroffen wurde. Im Zuge der Krise brach jedoch eine neue hitzige und höchst kon-trovers geführte rentenpolitische Debatte aus, in deren Mittelpunkt immer mehr die Frage einer Verschmelzung von Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung rückte, oder zumindest die Frage nach Art und Umfang eines Vermögenstransfers von Letzerer zu Ersterer zwecks deren Sanierung. Zu allem Übel waren in diesem Zu-sammenhang zunehmende Einflussversuche durch das RAM festzustellen, das seine Befugnisse als Aufsichtsbehörde immer öfter geltend machte und Einfluss auf die verwaltungspolitische Arbeit der RfA durchzusetzen versuchte, die man dort als re-gelrechte Angriffe auf die Selbstverwaltung wahrzunehmen begann.

Mitten in dieser Situation starb der seit 1922 amtierende RfA-Präsident Dr.Theodor von Olshausen am 2. September 1930 und Albert Grießmeyer trat als dessen Nach-folger nach einer kurzen Übergangsphase Anfang März 1931 an die Spitze der RfA. Der zu diesem Zeitpunkt 51-jährige Verwaltungsjurist stammte aus Bayern, wo er sein Ju-rastudium absolviert hatte, um danach im Reichsmarineamt tätig zu werden.¹³ Nach verschiedenen Dienstreisen nach Ostindien und Nordamerika wurde Grießmeyer zur Gouvernementsverwaltung Kiautschou versetzt. Dort geriet er 1914 in japanische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im Dezember 1919 freikam. Im Frühjahr 1920 war er dann nach Deutschland zurückgekehrt und im Sommer 1920 in das Reichsar-beitsministerium berufen worden,wo er sechs Jahre als Personalreferent tätig war, ehe ihm die Leitung der Personal-, Haushalts- und Organisationsabteilung übertragen wurde. Für die Leitung der RfA brachte Grießmeyer mithin keinerlei spezifische Kompetenzen mit, weder war er bis dahin mit rentenversicherungsrechtlichen Details befasst noch irgendwie in rentenpolitische Debatten involviert gewesen. Ihn zeich-neten dagegen vor allem organisatorische Fähigkeiten,

Personalführungskompeten- Vgl. 25 Jahre Angestelltenversicherung, S. 96.

 Vgl. Bonz-MS, S. 366.

 Zur den biographischen Daten Grießmeyers (* 20.11.1879 in Ansbach, +30.3.1967 in München) vgl.

die Angaben in seiner Personalakte in BArch , R 3901/103525, darin auch ein Auszug aus dem Inter-nationalen Biogr. Archiv vom 15.7.1931 zu seinem Werdegang.

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zen und eingehende Erfahrung mit Finanzverwaltungsangelegenheiten aus.¹⁴ Den-noch gab es aus Sicht des Direktoriums und des Verwaltungsrats der RfA weitaus geeignetere und vor allem auch aus der eigenen Behörde kommende Kandidaten für die Präsidenten-Nachfolge. Am 8. November 1930 hatte der damalige Reichsarbeits-minister Stegerwald dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats der RfA vertraulich eine Liste von fünf möglichen Nachfolgern als RfA-Präsident präsentiert, um, bevor der Reichsrat sein Vorschlagsrecht ausübte, das Votum des Selbstverwaltungsorgans der RfA zu hören. Neben Grießmeyer standen dabei die beiden Oberregierungsräte Rudolf Haenel und Dr. Richard Lehmann sowie Senatspräsident Dr. Schulte-Holthausen und der Geheime Regierungsrat Dr. Schulz auf der Liste.¹⁵Haenel und Lehmann– acht bzw. zehn Jahre älter als Grießmeyer – waren seit 1912 im Direktorium der RfA, Letzterer der langjährige Stellvertreter des Präsidenten und zur Zeit auch amtierender Vorsitzender des Verwaltungsrats. Schulte-Holthausen, mit 41 Jahren noch ver-gleichsweise jung, hatte bereits eine Verwaltungskarriere im Reichsversicherungsamt vorzuweisen, während Schulz nach Tätigkeiten im Reichsarbeitsministerium sowie im Reichsversicherungsamt (RVA) Direktor des Hauptversorgungsamtes Schlesien in Breslau geworden war. Innerhalb des Verwaltungsrates gab es jedoch über den Wunschkandidaten keine lange Diskussion. Auf der Sitzung am 21. November wurde, nachdem nicht nur die beiden direkt betroffenen Direktoren, sondern sämtliche Be-amte des höheren Dienstes die Sitzung verlassen hatten, von den 24 verbliebenen Verwaltungsratsmitgliedern als Vertreter der Arbeitgeber und Versicherten ein ein-stimmiger Beschluss gefasst:„Der Verwaltungsrat ist der Meinung, dass im Direkto-rium der Reichsversicherungsanstalt vorhandene Kräfte durchaus geeignet sind für das Amt des Präsidenten, und dass deshalb grundsätzlich außenstehende Herren nicht in Betracht gezogen werden sollten.“¹⁶Von den vorgeschlagenen Kandidaten sei nach Auffassung des Verwaltungsrates allein der Geheime Oberregierungsrat Haenel für den Präsidentenposten geeignet, da Lehmann der Altersgrenze schon zu nahe war.

Im übrigen wäre auch der dritte beamtete RfA-Direktor Hans Schaefer, der in der Vorschlagsliste des RAM nicht auftauchte, für das Präsidentenamt geeignet. Doch im Reichsarbeitsministerium kümmerte man sich wenig um das Votum des Verwal-tungsrates. Im Februar 1931 ernannte man mit Wirkung zum 1. März Grießmeyer zum neuen Präsidenten des Direktoriums der RfA. Über die Gründe kann man nur spe-kulieren. Es könnte durchaus im Kalkül des Ministeriums gelegen haben, mit Grieß-meyer bewusst einen RfA-externen Beamten an die Spitze der Behörde zu setzen, eventuell um damit größere Einflussmöglichkeiten zu erhalten und dann auch aus-zuüben. Vielleicht wollte man aber auch mit Hilfe eines von außen kommenden, in Organisations- und Vermögensverwaltung versierten Beamten frischen Wind in die RfA als Rentenversicherungsbehörde bringen.

 Vgl. dazu das Zeugnis der Marineverwaltung vom September 1920, in: ebd.

 Vgl. das Schreiben vom 8.11.1930 sowie der weitere Schriftwechsel, in: ebd.

 Der Beschluss vom 21.11.1930 als Anhang zur Niederschrift der Verwaltungsratssitzung am 21.11.

1930, in: BArch R 112/93.

Die Ernennung sorgte jedenfalls für erhebliche Irritationen und offene Entrüstung innerhalb der RfA, nicht nur auf Direktoriums- und Verwaltungsratsebene, sondern auch unter den Vertrauensleuten. Die Ortsgruppe Berlin-Pankow des Deutschnatio-nalen Handlungsgehilfen-Verbandes etwa protestierte in einer Entschließung gegen Grießmeyers Ernennung.„Die seit Jahrzehnten von Angestellten und Arbeitgebern klaglos verwaltete Reichsversicherungsanstalt ist eine Selbstverwaltungseinrichtung, bei der die Reichsbehörde nie Veranlassung zum Einschreiten hatte“, hieß es darin.

Trotz dieser reibungslosen Verwaltung hat der Reichsrat den Vorschlag des Verwaltungsrats verworfen und einen in der Sozialversicherung fremden Ministerialbeamten zum Präsidenten vorgeschlagen. Es liegt die Vermutung nahe, dass aufgrund des Abstimmungsergebnisses die hinter dem Beschluss stehenden Länder und Provinzen in dem jetzigen Präsidenten einen ihren eigenen Wünschen willfährigen Beamten sehen. Wir Kaufmannsgehilfen sehen in dieser Erledi-gung nicht nur eine unsachliche und darum schädigende Handlung, sondern auch eine Ge-ringschätzung und Missachtung des Selbstverwaltungsprinzips.¹

Der Verwaltungsrat selbst hatte, als er Mitte Februar anlässlich einer Sitzung des Haushalts- und Rechnungsausschusses von der vollzogenen Ernennung Grießmeyers erfuhr, umgehend die Einberufung einer Sonder-Vollversammlung beschlossen, um dort über die Reaktion zu beraten.¹⁸ Auf der inzwischen 70. Sitzung wurde dann abermals einstimmig eine Resolution an den Reichsarbeitsminister beschlossen.

Darin hieß es:

Die Nichtbeachtung des einstimmigen Vorschlags des Verwaltungsrates bei der Ernennung des Präsidenten der Reichsversicherungsanstalt beweist die Notwendigkeit der Stärkung des Selbst-verwaltungsrechts. Aus diesem Grund weist der Verwaltungsrat erneut mit Nachdruck auf den gemeinsam mit dem Direktorium im Mai 1929 gemachten Vorschlag der Abänderung des § 100 AVG hin.¹

Darin hatte man gefordert, dass der Präsident und die anderen beamteten Direktori-umsmitglieder grundsätzlich vom Verwaltungsrat bestellt werden sollten bzw. durch den Reichspräsidenten auf Einzelvorschlag des Verwaltungsrates. Diese weitgehen-den Forderungen zum Ausbau der Selbstverwaltung waren aber in der Reichsar-beitsministerialbürokratie abgeblockt und nie weiterverfolgt worden. Und auch diesmal blieb der Protest des Verwaltungsrates ohne Resonanz.

Trotz der besonderen Umstände seiner Ernennung gelang es dem neuen RfA-Präsidenten offenbar schnell, sich nicht nur die professionelle Loyalität seiner Di-rektoriums-Kollegen zu verschaffen, sondern auch seitens des Verwaltungsrates und unter den RfA-Beschäftigten Respekt zu erhalten. Wer etwa geglaubt hatte, Grieß-meyer sei eine Marionette des RAM, sah sich schnell eines Besseren belehrt. Auf der

 Die Entschließung vom 18.3.1931, in: ebd.

 Vgl. Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Haushalts- und Rechnungsausschusses vom 16.2.

1931, in: ebd.

 Niederschrift der 70. Verwaltungsratssitzung am 25.2.1931, in: ebd.

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erstmals unter seiner Leitung abgehaltenen 71. Sitzung des Verwaltungsrates am 24. März 1931 ging es denn gar nicht mehr um die Person Grießmeyers, sondern die RfA war mit ganz anderen, akuten Problemen konfrontiert: Erstens der Finanzlage und zweitens den Auswirkungen der Notverordnungspolitik. Auf der Tagesordnung stand zunächst die Beratung des Rechnungsabschlusses und der Bilanz für das Jahr 1930. Allenthalben zogen düstere Wolken über der RfA auf. Schon im Dezember 1930 hatte man im Verwaltungsrat hier einen Wendepunkt konstatiert, als aufgrund sinkender Beitragseinnahmen bei stärker als erwartet ansteigenden Ausgaben der Vermögenszuwachs erstmalig geringer als im Vorjahr ausgefallen war.²⁰ Der Durchschnitt der Beitragszahlungen sank–eine Folge der wachsenden Arbeitslo-sigkeit auch unter den Angestellten, und der gleichzeitig vollzogene Gehaltsabbau würde sich mit Verzögerung erst noch im kommenden Jahr negativ beim Beitrags-aufkommen bemerkbar machen. Die vom Statistischen Reichsamt in Verbindung mit dem Reichspostministerium regelmäßig vorgenommene Auswertung der Beitrags-markenverkäufe lieferte ein detailliertes Schlaglicht auf die aktuelle Einkommens-struktur der Versicherten, und diese zeigte für 1931 besorgniserregende Entwick-lungen bei der Verteilung auf die insgesamt zehn Beitragsklassen. Auf die unteren Gehaltsklassen (A bis C, d. h. Monatseinkommen bis 200 RM) entfielen 63 Prozent des Beitragseingangs, die drei mittleren Gehaltsklassen (D bis F mit Monatsein-kommen zwischen 200 und 500 RM) machten 32,3 Prozent aus, während auf die vier obersten Gehaltsklassen über 500 RM (G bis K) ganze 4,6 Prozent entfielen.²¹ Allein zwischen I. und IV. Quartal 1931 zeigten sich deutliche Zuwächse bei den niedrigen Einkommensklassen zu Lasten der höheren Gruppen. Und auch der Markenverkauf insgesamt schrumpfte von 8,9 Mio. Stück auf 8,7 Mio. Mit anderen Worten: Immer mehr Versicherte waren gezwungen, sich in niedrigeren Einkommens- und damit auch Beitragsklassen zu versichern, mit langfristigen negativen Folgen für die spätere Ruhegeldhöhe, oder aber sie konnten ihre Beiträge überhaupt nicht mehr aufbringen. Bis 1933 sollten sich hier weitere dramatische Veränderungen ergeben:

Der Anteil der unteren Gehaltsklassen stieg auf über 70 Prozent, während die mitt-leren Gehaltsklassen nur noch 26,6 Prozent, die vier höchsten Gehaltsklassen 3,3 Prozent ausmachten.²² Angesichts der sinkenden Beitragseinnahmen gewannen die Zinseinnahmen als Einkommensquelle für die RfA erheblich an Bedeutung.

Hatten sie 1925 mit ca. elf Prozent der Beitragseinnahmen noch eine geringe Rolle gespielt, so machten sie inzwischen fast 35 Prozent, d. h. ein Drittel aus. Sollte auch diese Stütze wegfallen oder schwächer werden, drohten zusätzliche Probleme.

Der weitaus brisantere Tagesordnungspunkt auf der 71. RfA-Verwaltungsratssit-zung war aber der Bericht über die Ausschussverhandlungen zu den Plänen des RAM hinsichtlich der Heranziehung der Angestelltenversicherung zur Sanierung der

 Vgl. Niederschrift der 69. Sitzung des Verwaltungsrates vom 9.12.1930, S. 2, in: BArch R 112/93.

 Vgl. dazu die Statistik des Markenverkaufs in den vier Quartalen 1931, in: RfA-Archiv Fach 13, Nr. 1.

 Vgl. dazu die Angaben in: 25 Jahre Angestelltenversicherung, S. 50.

Knappschafts- und Invalidenversicherung. Vom Verband der Landesversicherungs-anstalten war dem RfA-Direktorium eine umfangreiche Denkschrift zugeleitet worden, in der unter anderem die Forderungen nach Zahlung von 500 Mio. RM durch die RfA, nach Nichterstattung der Steigerungsbeträge für Wanderversicherte und nach Ein-schränkungen des Versichertenkreises der Angestelltenversicherung erhoben

Knappschafts- und Invalidenversicherung. Vom Verband der Landesversicherungs-anstalten war dem RfA-Direktorium eine umfangreiche Denkschrift zugeleitet worden, in der unter anderem die Forderungen nach Zahlung von 500 Mio. RM durch die RfA, nach Nichterstattung der Steigerungsbeträge für Wanderversicherte und nach Ein-schränkungen des Versichertenkreises der Angestelltenversicherung erhoben

Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 21-50)