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Verwaltungshandeln im nationalsozialistischen Behördenalltag

Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 196-200)

und die Verflechtung mit NS-Unrecht: Inklusions- Inklusions-und Exklusionsprozesse durch das

3.2 Verwaltungshandeln im nationalsozialistischen Behördenalltag

Neue Beschäftigungsverhältnisse und andere operative Probleme

Obwohl drei Jahre seit dem letzten Rentenversicherungsgesetz vergangen waren, mussten sich die zuständigen Stellen immer noch mit der Umsetzung der ungebro-chenen Flut von Durchführungsverordnungen des vagen Aufbaugesetzes befassen.

Abb. 16:Brief eines Versicherten an das RAM vom 20. Januar 1938 mit Kritik am Ausbaugesetz 188 3 Rentenversicherungspolitische Weichenstellungen

Sieht man sich die wichtigsten Probleme und Aspekte im praktischen Verwaltungs-handeln der RfA-Beamten genauer an, so lässt sich darin ein Spiegelbild der NS-Ge-sellschaft erkennen. Ein erstes Themenfeld war die versicherungsrechtliche Einord-nung neuer Berufe, und hier gab es nicht nur die alten Konflikte zwischen RfA und LVA als zuständige Versicherungsträger der AV bzw. der Invalidenversicherung. Darüber hinaus war auch erkennbar, dass entgegen der proklamierten „Volksversicherungs-ideologie“ und den dahinterstehenden versicherungsrechtlichen Nivellierungsab-sichten nach wie vor ein ungebrochener Trend bei den betroffenen Berufsgruppen bestand, im Zweifelsfall zu versuchen, in die Angestelltenversicherung mit höheren Renten und auch Prestige zu gelangen. Sowohl der langfristige Trend zu neuen An-gestelltenberufen als auch die Dynamiken der nationalsozialistischen „Wirtschafts-wunder-Gesellschaft“ hatten dazu geführt, dass das Berufsgruppenzugehörigkeits-verzeichnis von 1924 keine zehn Jahre später vielfach veraltet und überholt war. Neue Berufe bzw. sich auch in vielen alten Berufen ergebende Tätigkeitsveränderungen in vielen alten Berufen wie Hollerith-Tabellierer, Fleischbeschauer, Werkschutzleute, Badeaufseher, Molkerei-Leistungsprüfer oder Telefon-Revisoren erforderten eine rentenversicherungsrechtliche Zuordnung.²³⁴ Dutzende Aktenordner füllten etwa auch die Schriftwechsel zur versicherungsrechtlichen Stellung der Hebammen. Lau-fend fragten die jeweiligen Reichstreuhänder der Arbeit bei der Aufstellung der Ta-rifordnung in der Ruhrstraße an, ob und inwieweit angestellte Gefolgschaftsmitglie-der, z. B. Büroboten, Kassenboten, Portiers u. a. tatsächlich als Angestellte im Sinne des Gesetzes zu gelten hatten.²³⁵

Die Regel war eigentlich einfach, denn die Zugehörigkeit zu einem der beiden Versicherungszweige richtete sich allein nach der Art der ausgeübten Tätigkeit. Dabei war es unerheblich, ob das betreffende Gefolgschaftsmitglied als Angestellter be-zeichnet wurde und wöchentlich, monatlich oder nach anderer Art entlohnt wurde.

Dennoch kam es immer wieder zu Streitverfahren, nicht nur mit den Landesversi-cherungsanstalten, sondern vor allem auch mit den betroffenen Versicherten selbst.

Im Juli 1938 hatte etwa das Versicherungsamt Berlin die Stromgeldeinheber und Zählerableser bei der Berliner Kraft- und Licht-AG als invalidenversicherungspflichtig eingestuft, wogegen die Betroffenen,vertreten durch die Gaurechtsberatungsstelle der DAF, Beschwerde eingelegt hatten, um eine Zugehörigkeit zur Angestelltenversiche-rung zu erreichen. Mit Beschluss vom 30. November 1939 wurde ihnen tatsächlich Recht gegeben.²³⁶Ein langes Hin und Her zwischen der Reichsgruppe Industrie, RfA und LVA ergab sich auch im Fall der Einordnung der Betriebsbeamten, Werkmeister und Werkgehilfinnen, für die die RfA letztlich keine pauschale Regelung traf, sondern

 Vgl. dazu die entsprechenden Unterlagen und Schriftwechsel zu einzelnen Berufsgruppen in: RfA-Archiv Fach 76, Nr. 1–11.

 Vgl. dazu etwa Schreiben des Reichstreuhänders für das Wirtschaftsgebiet Brandenburg vom 13.9.

1937, in: RfA-Archiv Fach 16, Nr. 8.

 Die Entscheidung mit Urteilsbegründung vom 30.11.1939, in: RfA-Archiv Fach 101, Nr. 5. Zahl-reiche weitere Fälle zur Versicherungspflicht in: RfA-Archiv Fach 78, Nr. 1–3 und Fach 79, Nr. 1–4.

gleichfalls erst nach Prüfung der genauen Tätigkeitsmerkmale entschied.²³⁷Schon im Dezember 1934 hatte sich das RfA mit der Zuordnung der reichsweit ca. 150 Filialleiter des Bata-Schuhkonzerns befassen müssen. Hier ging es um die Frage der prinzipiellen Versicherungspflicht, die das Versicherungsamt Berlin mit Verweis auf die mit Um-satzprovision ausgestatteten „Handlungsagentenverträge“ verneinte. Im März 1935 wurde dann die Angestelltenversicherungspflicht festgestellt bzw. anerkannt und die bis dahin rückständigen Beiträge wurden bei den Betroffenen wie der Firma einge-zogen.²³⁸ Dagegen waren die Großtankstellenpächter (anders als die normalen Tankwarte) der aufstrebenden Mineralölfirmen wie Olex, Deutsche Gasolin AG und Reichskraftsprit GmbH nicht angestelltenversicherungspflichtig.²³⁹

Im Prinzip wurden die jeweiligen Entscheidungen über Versicherungspflichtigkeit oder versicherungsrechtliche Zuordnung relativ schnell gefällt. Wenn jedoch RfA und LVA unterschiedlicher Auffassung waren und um die Zugehörigkeit einer Berufs-gruppe stritten, dann konnte es allerdings mit entsprechender negativer Rückwirkung für die Betroffenen länger dauern. Sechs Jahre lang verhandelten etwa das cherungsamt Nürnberg, die LVA Ober- und Mittelfranken und die RfA um die Versi-cherungszugehörigkeit der bei der Mechanischen Baumwollspinnerei in Bayreuth beschäftigten Web- und Spinnmeister. „Wir mussten häufig die Beobachtung ma-chen“, so heißt es in einem Schreiben der LVA an die RfA,„dass Sie unter Zugrun-delegung der Angaben der Beteiligten die Versicherten mit Hilfe des § 193 des AVG auf die Seite der Angestelltenversicherung zu ziehen versuchen.“²⁴⁰Seit 1932 stritten sich RfA und die LVA Sachsen-Anhalt auch über die Angestelltenversicherungspflicht der Kassenschaffner bei der Magdeburger Straßenbahn AG. Die RfA hielt die Kassen-schaffner für angestelltenversicherungspflichtig, die LVA hielt sie für invalidenversi-cherungspflichtig. Die Betroffenen selbst beantragten, aktiv unterstützt von der Rechtsberatungsstelle der DAF, ihre Zugehörigkeit zur RfA, die dann im Oktober 1940 in einem Grundsatzurteil auch bestätigt werden sollte.²⁴¹ Schon fast legendär war der seit 1929 zwischen RfA und den Landesversicherungsanstalten schwelende Streit über die Versicherungszugehörigkeit der über das ganze Reich verteilten Warenverteiler der schleswig-holsteinischen Firma Friedrich Bölck AG. Die Betroffenen selbst wollten mit der Begründung, dass ihre Tätigkeit ein überwiegend kaufmännisches Gepräge trage und weit über die Tätigkeit eines Handarbeiters hinausgehe, in die RfA. Dennoch waren sie zunächst als invalidenversicherungspflichtig eingestuft worden, und der Reichsverband der Landesversicherungsanstalten legte im Herbst 1937 alles daran, die Abwanderung der ca. 3000 Warenverteiler mit ihrem damaligen Beitragsaufkommen von 300.000 RM zur RfA zu verhindern,„um der sich immer stärker bemerkbar

ma- Vgl. dazu die drei Aktenmappen für die Zeit 1935 bis 1944, in: RfA-Archiv, ohne Signatur (Re-galreihe 5).

 Vgl. RfA-Archiv Fach 78, Nr. 1.

 Vgl. dazu die Abteilungsverfügung vom 12.7.1939, in: RfA-Archiv Fach 1, Nr. 1.

 Schreiben vom 24.4.1937, in: RfA-Archiv Fach 57, Nr. 5.

 Der Vorgang in: BArch R 89/22705. Weitere Vorgänge mit 16 Akteneinheiten in: BArch R 89/22702.

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chenden Aushöhlung des Versichertenbestandes der Invalidenversicherung entge-genzutreten“, wie die LVA Schleswig-Holstein dazu schrieb.²⁴²

Bei einigen Berufsgruppen spielten auch politisch-ideologische Motive in ihren Bemühungen um Anerkennung als Angestellte und Zugehörigkeit zur RfA mit hinein.

Im Zuge der politischen Aufwertung versuchten etwa der Reichsbauernführer sowie der Reichsjägermeister, Jagdaufseher bzw. Revierjäger und Forstwarte mit dem Ar-gument des im NS-Staat angeblich wesentlich erweiterten Aufgabenkreises aus ihrer früheren Invalidenversicherungspflicht in die Angestelltenversicherung zu bringen.²⁴³ Im Windschatten der politischen Verhältnisse versuchten auch die Schriftleiter ver-sicherungsrechtliche Privilegien zu erlangen und von der Angestelltenversicherung insgesamt befreit zu werden. Schon im Dezember 1933 hatte sich deshalb die RfA mit der Versorgungsanstalt der Reichsarbeitsgemeinschaft der Deutschen Presse angelegt und die Nachentrichtung der AV-Beiträge für die ca. 1500 Mitglieder unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze (600 RM pro Monat) gefordert.²⁴⁴Das Goebbels-Mi-nisterium hatte sich dabei offenbar auf die Seite der Schriftleiter geschlagen, und so beschäftigte die Angelegenheit die Behörde bis 1935. Letztlich ging es dabei um die Frage, ob die Reichsregierung einem Berufsstand gestatten durfte, „sich von der Versichertengemeinschaft, deren Träger die RfA ist, abzusondern, um daraus für sich Vorteile zu erzielen“.²⁴⁵RfA und RAM konnten sich tatsächlich nicht durchsetzen. Erst im Zuge des Aufbaugesetzes wurde der 1. Januar 1937 als Stichtag der Versiche-rungspflicht festgesetzt. Für diejenigen Schriftleiter, die infolge der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze vorher erneut angestelltenversicherungspflichtig gewor-den waren, galt allerdings für die Zeit vom 1. September 1928 bis 31. Dezember 1935 nach wie vor Versicherungsfreiheit, wie das RVA in einer Grundsatzentscheidung im Juni 1937 bestimmte.²⁴⁶Auch anderweitig fiel das RVA der RfA in den Rücken. Ende Juni 1938 wurde in einem Rundschreiben zur Nachprüfung der Versicherungszuge-hörigkeit bestimmt, dass in langjährigen Versicherungsverhältnissen, in denen sich Arbeitgeber und Gefolgschaftsmitglieder über die Versicherungszugehörigkeit einig waren, trotz etwaiger andersartiger Zuordnung infolge einer Nachprüfung durch den Versicherungsträger„künftig grundsätzlich nicht mehr ohne besonders zwingenden Anlass von Amt wegen“eingegriffen werden sollte und„grundsätzlich von einer

Be- Vgl. Schreiben der RfA an das RVAvom 24.9.1937 sowie Brief der LVA an das RVAvom 8.11.1937, in:

BArch R 89/3446.

 Vgl. dazu der sich von Mai 1938 bis Februar 1939 hinziehende Konflikt zwischen dem Badischen Oberversicherungsamt, der RfA und der DAF-Rechtsberatung um die Einstufung des Jagdaufsehers Hubert P. bzw. des Revierjägers Franz M., in: BArch R 89/22704. Vgl. auch das Schreiben des Reichs-bauernführers an das RAM vom 15.6.1937 und vom 21.12.1940, in: RfA-Archiv Fach 109, Nr. 8.

 Vgl. Aktennotiz vom 15.12.1933, in: RfA-Archiv Fach 116, Nr. 15/16.

 Schreiben des RAM an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vom 16.3.

1935, in: ebd.

 Das Grundsatzurteil zum Streifall der Pflichtbeiträge eines Schriftleiters aus Chemnitz vom 16.6.

1937, in: ebd.

anstandung der Beiträge und Überführung in einen anderen Versicherungsträger abzusehen“war.²⁴⁷

Weit stärker politisch aufgeladen war demgegenüber die Klärung der Versiche-rungsfragen bei den vielen nun entstandenen NS-spezifischen Beschäftigungsver-hältnissen. Wie sollten HJ-Landdienst und NS-Frauenhilfsdienst versicherungsrecht-lich behandelt werden? Und wie die Dienstzeiten in der SA und den verschiedenen SS-Organisationen? Die RfA sah sich dabei mitten in einem politischen Aushandlungs-prozess zwischen RAM, RVA und den verschiedenen NS-Stellen, auf den sie wenig Einfluss hatte. Unter dem Strich erfolgten hier eindeutige Privilegierungen und Aus-nahmeregelungen, die von den gesetzlichen Bestimmungen deutlich abwichen.

Dennoch versuchte die RfA in Einzelfällen durchaus, den Gesetzesabweichungen nicht Tür und Tor zu öffnen. Schon im Juni 1934 hatte sich die Abteilung I Versiche-rung mit der Frage der VersicheVersiche-rungspflicht der SA-Angehörigen zu befassen. Danach legte man im Einvernehmen mit der Rechtsabteilung der Obersten SA-Führung fest, dass die Aufwandsentschädigungen an in Verwaltungsstellen der SA Beschäftigte nicht als Entgelt im Sinne des Angestelltenversicherungsgesetzes anzusehen waren und daher Versicherungsfreiheit bestand.²⁴⁸ Im Mai 1936 war dann per Erlass des Reichsfinanzministeriums bzw. des RVA bestimmt worden, dass bei„Alten Kämpfern“

die Dienstzeiten in der SS, SA, als Amtswalter oder Redner der NSDAP sowohl beim Besoldungsdienstalter wie auch bei den Versicherungsanwartschaften „ausnahms-weise“angerechnet wurden.²⁴⁹Ebenfalls angerechnet als Ersatzzeit zur Aufrechter-haltung der Anwartschaft wurden etwa auch die Zeiten in den SA-Hilfswerkslagern, die als berufliche Bildungsmaßnahme für SA-Angehörige angesehen wurden.²⁵⁰Im Mai 1939 wurde dies durch eine Sonderreglung hinsichtlich der Anrechnung der Dienstzeit in der SA-Standarte„Feldherrnhalle“ergänzt.²⁵¹ Eine weitergehende Son-derreglung für die„alten Kämpfer“in Form einer nachträglichen Befreiung von der AV-Versicherungspflicht für diejenigen alten Nationalsozialisten, die im Rahmen des Stellenvorbehalts in das Beamtenverhältnis überführt worden waren, ließ sich jedoch nicht verwirklichen.²⁵² Schon zuvor hatten einzelne höhergestellte SA-Angehörige mit Unterstützung ihrer zuständigen NSDAP-Kreisleitungen versucht, Ausnahmereglun-gen bei ihren Versicherungsverläufen zu erreichen, insbesondere bei der Anrechnung von Erwerbslosenzeiten vor 1933 bei der Rentenversicherung.²⁵³ Doch was als versi-cherungsrechtliches Unrecht der sogenannten Systemzeit dargestellt wurde,

ent- Rundschreiben des RVA vom 27.6.1938, in: ebd.

 Vgl. Abteilungsverfügung vom 19.6.1934, in: RfA-Archiv ohne Signatur, Regal 5.

 Vgl. Rundschreiben des RVA vom 26.5.1936 sowie dazu auch Rundschreiben vom 26.2.1937, in:

BArch R 89/3427 bzw. 3481.

 Vgl. Abteilungsverfügung vom 14.1.1937, in: RfA-Archiv Nr. 1.

 Vgl. Rundschreiben vom 8.5.1939, in: BArch R 89/3485.

 Vgl. Schreiben des Reichsinnenministeriums vom 7.7.1940, in: RfA-Archiv Fach 12, Nr. 8.

 Vgl. Schreiben der Kreisleitung Dortmund betr. SA-Obersturmbannführer Karl K.vom 29.1.1937, in:

RfA-Archiv Fach 3, Nr. 2.

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Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 196-200)