• Keine Ergebnisse gefunden

Reformbestrebungen und Sanierungsmaßnahmen unter neuem Vorzeichen und deren Handhabung in der

Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 80-143)

Verwaltungspraxis

Die Machtübernahme der NSDAP erfolgte in einer rentenversicherungspolitisch al-lenthalben aufgeheizten Stimmung. Unter den Angestellten herrschte vielfach wach-sende Kritik an den gesetzlichen Regelungen, während gleichzeitig die neue NS-Re-gierung mit einer großen Erwartungshaltung hinsichtlich einer raschen Aufhebung der verhassten Kürzungen der Notverordnungsjahre konfrontiert wurde. Und in den ja noch bestehenden Selbstverwaltungsorganen herrschte ein Machtkampf angesichts

 Vgl. ebd., Bericht Schaefers, S. 2.

 Ebd., S. 5.

72 2 Die RfA als Behörde

der anstehenden Neuwahlen der Vertrauensmänner, die dann aber letztlich nicht mehr stattfinden sollten. Der Bericht des RfA-Überwachungsbeamten und Leiters der örtlichen Auskunftsstelle in Kassel vom 19. März 1933 ist exemplarisch.¹⁰⁸ Es heißt darin:

Die Erfahrungen anlässlich der Auskunftserteilung und in Angestelltenversammlungen zeigen, dass unter der Angestelltenschaft ein steigender Unwille bemerkbar wird, der in einer vor wenigen Tagen hier stattgefundenen Angestelltenversammlung, in welcher ich ein Referat über die Leis-tungen der Angestelltenversicherung übernommen hatte, zu heftigen Angriffen eines national-sozialistischen Redners gegen das Direktorium der RfA führte.Wenn den Angriffen auch offenbar die Absicht zugrunde lag, Stimmung zu machen für die anlässlich der kommenden Vertrauens-männerwahlen aufzustellende nationalsozialistische Liste, so wurde doch in geschickter Weise u.a. der Umstand als Angriffsfläche benutzt, dass man den mittellosen Arbeitslosen zumutet, die Beiträge für die Erhaltung der Anwartschaft selbst aufzubringen, was in den meisten Fällen das Erlöschen der Anwartschaft zur Folge habe. Der Redner forderte die Anrechnung der Stellungs-losigkeit als Beitragsmonate für die Anrechnung der Anwartschafteine Forderung, die auch schon von Angestelltenverbänden erhoben worden ist, z.B.vom Verband der weiblichen Handels-und Büroangestellten.¹⁰⁹

Mit seinen Einwänden, dass die geforderte Anrechnung eine erhebliche Mehrbelas-tung der RfA und damit eine Verschlechterung des Wertes der Anwartschaften aller übrigen Versicherten bedeute, stieß der Überwachungsbeamte auf wenig Gehör.„Es ist in der Tat so, dass etwas geschehen muss, denn der in der Versammlung zutage getretene Unwille macht sich in jeder Sprechstunde bemerkbar“, notierte dieser in seinem Bericht und schloss ergänzend mit detaillierten Vorschlägen für einen ent-sprechenden Änderungserlass.¹¹⁰Der Tenor der Berichte und Forderungen der überall noch amtierenden Schriftführer der Ortsausschüsse der Vertrauensmänner von den Jahreshauptversammlungen war ganz ähnlich.¹¹¹

Die Krise der Anwartschaftsaufrechterhaltung prägte das ganze Jahr über die politische Diskussion in der Angestelltenversicherung. Die anhaltende Arbeitslosig-keit vieler Versicherten brachte es mit sich, dass diesen die Aufbringung der Marken

 Bericht vom 19.3.1933, in: RfA-Archiv Fach 114, Nr. 13.

 Ebd. Vgl. dazu auch den beigefügten Zeitungsbericht„Was geht in der Angestelltenversicherung vor?“in der NSDAP-nahen„Hessischen Volkswacht“.

 Ebd., S. 2.

 Vgl. etwa das Protokoll der Jahreshauptversammlung des Ortsausschusses Leipzig vom 28.3.1933 sowie das ausführliche Antwortschreiben der RfA in: RfA-Archiv Fach 114, Nr. 13. Und allenthalben herrschte weiterhin große Unsicherheit über die Zukunft der Rentenversicherung. Die in der Leipziger

„Notgemeinschaft Deutscher Angestellten e.V.“organisierten Renten- und Ruhestandsgeldempfänger der RfA erhoben etwa im April 1933 in einer Petition an den neuen Reichskanzler Adolf Hitler

„schärfsten Protest gegen evtl. Zusammenlegung der Angestellten-Versicherung mit der Invaliden-versicherung und den Knappschaftskassen“. Das Schreiben vom 8.4.1933, in: ebd. Vgl. auch die Ent-schließung des Ortsausschusses der Vertrauensleute für den Bezirk Heidenheim (Benz) vom 24.5.1933, in der die unverzügliche Aufhebung aller Notverordnungen für die Angestelltenversicherung gefordert wurde, in: RfA-Archiv Fach 117, Nr. 11.

für die Aufrechterhaltung der Anwartschaft nicht mehr möglich war, weil die Unter-stützungssätze zu gering waren, um noch Marken zu kaufen.„Gibt es denn nicht die Möglichkeit, diesen Versicherten zu helfen, indem sie bei Wiederbeschäftigung die Marken nachzahlen können oder ihnen sonst eine Erleichterung gegeben werden kann?“, hieß es in einem der zahlreichen Schreiben aus dem Kreis der Vertrauens-männer an das RfA-Direktorium.„Bisher hat das Wohlfahrtsamt den Verfall der An-wartschaft verhütet, indem es die dringendsten Marken geklebt hat. Neuerdings lehnt das Wohlfahrsamt es jedoch ab, die Anwartschaften für Versicherte unter 45 Jahren aufrechtzuerhalten.“¹¹² Ein weiteres Thema der rentenpolitischen Debatte war die Änderung der Voraussetzungen für den Bezug des Altersruhegeldes wegen Arbeits-losigkeit.Wenn Angestellte das 60. Lebensjahr vollendet und ein Jahr lang erwerbslos gewesen waren, konnten sie bislang in den Genuss des Ruhegeldes gelangen, das sonst erst ab dem 65. Lebensjahr beansprucht werden konnte. Nach einem Erlass des Reichsarbeitsministeriums zur Verlängerung der Krisenfürsorge war dies nach dem 31. März 1933 nicht mehr möglich.¹¹³ Kompliziert wurde die Situation noch dadurch, dass faktisch immer häufiger das Ruhegeld niedriger war als die Krisenunterstützung, was die Versicherten dazu veranlasste, ihre Ruhegeldanträge zurückzunehmen und nicht, wie bis dahin die Regel, den Antrag auf Einstellung der Krisenunterstützung zu stellen, in der Annahme, dass diese niedriger als das Ruhegeld war.¹¹⁴Letztlich waren aber alle Rentenversicherungsträger noch mit der Durchführung der letzten, am 18. Februar 1933 erlassenen Notverordnung befasst, über deren Auslegung der Ru-hensbestimmungen beim Zusammentreffen mehrerer Versorgungsrenten es – wie auch schon bei den Notverordnungen zuvor – zwischen der RfA und den LVA er-hebliche Differenzen gab.¹¹⁵

Dauerthema zwischen den beiden Rentenversichungsträgern war zudem die Reglung der Wanderversicherung. Im Kontext der Verordnung zur Durchführung von Vorschriften der Sozialversicherung vom 9. Januar 1933 schlossen RfA und LVA ein Abkommen über das Verfahren bei Feststellung der Rente eines Wanderversicherten oder seiner Hinterbliebenen, das,wie die Leistungsabteilung der RfA klagte, durch die Pflicht zur Anhörung der Träger der Invalidenversicherung„in erster Linie für uns eine erhebliche Vermehrung unserer Arbeit und Verwaltungskosten zur Folge hat, die wir ausschließlich im Interesse der Landesversicherungsanstalten und ohne jede Ge-genleistung aufzuwenden haben“.¹¹⁶Schließlich lief auch eine intern wie öffentlich

 Schreiben vom 19.7.1933 sowie vom 1.8.1933, in: ebd.

 Vgl. dazu die diversen Schriftwechsel vom Mai 1933 in: RfA-Archiv Fach 117, Nr. 1.

 Vgl. die Notiz Kochs vom 28.10.1933, in: RfA-Archiv Nr. 101.

 Vgl. dazu etwa die Besprechungsniederschrift im RAM vom 3.3.1933, in: RfA-Archiv Nr. 101 sowie RfA-Schreiben vom 7.2.1933 an das RAM, in der seitens der RfA die Auslegung durch das RVA für„nicht richtig“erklärt wurde.Vgl. auch Schreiben der RfA an das RAM vom 24.2.1933 betr. Durchführung der Not-VO vom 18.2.1933, in: ebd.

 Schreiben der RfA an den Reichsverband deutscher Landesversicherungsanstalten vom 11.7.1933, in: RfA-Archiv Nr. 7. Vgl. dazu auch Abteilungsverfügung vom 24.8.1933, in: ebd.

74 2 Die RfA als Behörde

geführte Diskussion über Ausnahmevorschriften für ältere Angestellte hinsichtlich der Verkürzung ihrer Wartezeit für das Altersruhegeld. Direktorium und Verwaltungsrat der RfA lehnten jedoch jegliche Ausnahmevorschriften strikt ab, unbeschadet der Forderung nach einer generellen Ermäßigung der Wartezeiten in der Angestellten-versicherung. In einer Notiz von RfA-Direktor Koch von Mitte März 1933, die dann wenig später so auch als Schreiben an das RAM ging, heißt es dazu:

Durch die Notverordnungen und die zahlreichen in den verschiedenen Durchführungsverord-nungen verstreuten Änderungen derselben für besondere Fälle ist das Rechtsgebiet der Ange-stelltenversicherung jetzt schon so verwickelt, dass es für jemanden, der sich nicht dauernd damit befasst, kaum mehr zu übersehen und auch für den Versicherungsträger nur unter größten Schwierigkeiten durchzuführen ist.Weitere Ausnahmevorschriften zu den jetzigen Bestimmungen würden diese Lage nur verschlimmern, und sie sind deshalb abzulehnen, selbst wenn sich für einzelne Versicherte oder auch ganze Gruppen Härten daraus ergeben sollten.¹¹⁷

Im September 1933 versuchte das RAM dann allen gestiegenen Erwartungen nach einer raschen Aufhebung der Rentenkürzungen durch die Notverordnungen einen Riegel vorzuschieben. In einem Erlass heißt es lapidar:

Durch die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 18. Februar 1933 und die Verordnung vom 5. Juli 1933 sind bereits einige Härten der früheren Notverordnungen gemildert worden. Die durch die Notverordnung vom 14. Juni 1932 bewirkte Minderung der Renten kann jedoch wegen der finanziellen Lage der Sozialversicherung noch nicht aufgehoben werden. Sobald es die Wirtschaftslage gestattet, wird geprüft werden, ob und in welcher Hinsicht weitere Milderungen möglich sind.¹¹⁸

Diese Standardformel hängte die RfA in der Folgezeit nun auch ihren Antwort-schreiben auf die zahlreichen Anfragen von Versicherten wie Rentnern an.

Am 7. Dezember 1933 wurde das Gesetz zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung erlassen. Es brachte durchaus eine Reihe von Abmilderungen der Notverordnungsbestimmungen bei der Aufrechterhaltung der Anwartschaft und der Erweiterung der Ersatzzeiten, aber auch, was die Versicherten rasch realisierten, neue Restriktionen und versteckte Leistungskürzungen sowie vor allem keine Änderungen bei den Ruhensvorschriften und bei den Wartezeiten.¹¹⁹Auf den ersten Blick ging es um eine nachhaltige Sanie-rung der RentenversicheSanie-rung, unter anderem über eine ÄndeSanie-rung der Rentenbe-rechnung, die (mittelfristige) Rückkehr zum Anwartschaftsdeckungsverfahren sowie weitere Maßnahmen finanztechnischer Art wie die (ebenfalls mittelfristig vorgese-hene) Beitragsübertragung von der Arbeitslosenhilfe auf die

Angestelltenversiche- Notiz Kochs vom 10.3.1933 bzw. Schreiben an das RAM vom 22.3.1933, in: RfA-Archiv Fach 113, Nr. 5.

 Zitiert nach der Abteilungsverfügung vom 5.10.1933, in: ebd.

 Zur Vorgeschichte des Sanierungsgesetzes vgl. Schlegel-Voß, Alter in der Volksgemeinschaft, S. 52–55.

rung.¹²⁰ Die Versicherungspflichtgrenze wurde von 8400 RM auf 7200 RM herabge-setzt, die bisherige Gehaltsstufe H wurde in eine Beitragsklasse für die freiwillige Beitragsentrichtung umgewandelt. Der Grundbetrag wurde jedoch gleichzeitig von 396 RM auf 360 RM jährlich herabgesetzt, ebenso wie die Steigerungsbeiträge. We-sentliche Änderungen ergaben sich auch für die Wanderversicherten. Ihnen standen nun selbständige Rentenansprüche aus jedem der Versicherungszweige zu, deren Leistungsvoraussetzungen erfüllt waren, d.h. sämtliche in den drei Versicherungs-zweigen gezahlten Rentenbeiträge wurden gegenseitig auf die Wartezeiten ange-rechnet und in einer Gesamtleistung zusammengefasst.

Konkret bedeutete dies, dass viele Versicherte nun eine Leistung beanspruchen konnten, die ihnen bisher wegen nicht erfüllter Wartezeiten nicht gewährt worden war. Andererseits mussten nun bei wanderversicherten Angestellten auch die be-sonderen Leistungsvoraussetzungen der Invalidenversicherung erfüllt sein und zu-dem erhielten diese den in der Invalidenversicherung erdienten Steigerungsbetrag nur noch insoweit, als er zwölf RM im Monat überstieg. Das hatte zur Folge, dass der Anteil der Rentenempfänger, die neben Leistungen aus der AV auch solche aus der IV er-hielten, drastisch von einst 79 Prozent (1931) auf 30 Prozent (1934) sank.¹²¹ Schließlich führte man die (bis Ende 1937 geltende) Möglichkeit ein, eine Rente auch ohne Fest-stellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Rentenberechtigten schon dann zu entziehen, wenn eine neue Prüfung ergab, dass der Rentenempfänger nicht berufsunfähig war. Ob durch das Gesetz vom Dezember 1933 tatsächlich AV wie IV auf scheinbar gesicherte versicherungsmathematische Grundlagen gestellt wurden und damit die Basis für die Sanierung der Rentenversicherung gelegt wurde, wie es vom RAM allenthalben verkündet und dann später auch in der Forschung vielfach übernommen wurde, ist gerade aus der Sicht der RfA und der Angestelltenversiche-rung fraglich. In Vielem war es eine bloße Fortsetzung der alten Notverordnungspo-litik, die dem Dogma der Anwartschaftsdeckung und dem damit verfolgten diszipli-nierenden Grundsatz „keine Leistungserhöhung ohne entsprechende Deckung“

verpflichtet war.¹²² Diese eigentliche Zielrichtung der Maßnahme wurde von der RAM-Ministerialbürokratie später noch durch den selbst geschaffenen Mythos ergänzt, dass es sich bei dem Gesetz um das Ergebnis zielstrebiger Sanierungsvorhaben gehandelt habe, deren rasche Realisierung den Versuch einer radikalen Reform der Sozialver-sicherung nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten verhindert habe.¹²³ „Die Reform wird nicht etwa hinauslaufen auf eine große Einheitskasse der

Versicherun- Vgl. zu den Maßnahmen im Einzelnen 25 Jahre Angestelltenversicherung, S. 41f. und Eckart Re-idegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Bd. II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919–

1945,Wiesbaden 2006, insbesondere S. 451ff. sowie auch Bonz-MS, S. 517ff. und Schlegel-Voß, S. 204f.

 Vgl. dazu die Ausführungen auf der Beiratssitzung der RfAvom 25./26.11.1935, S. 9, in: BArch R 89/

3468.

 Vgl. dazu auch Manow, Kapitaldeckung oder Umlage, S. 157f. und auch Hockerts, Sicherung im Alter, S. 307f. Zur Bewertung des Gesetzes auch Schlegel-Voß, S. 55f.

 Vgl. Glootz, S. 77.

76 2 Die RfA als Behörde

gen“, so hatte RAM-Staatssekretär Krohn damals gegenüber der Presse verkündet,„sie wird vielmehr die Verantwortlichkeit der einzelnen Versicherungsträger stärken, aber die Nachteile der Zersplitterung bekämpfen.“¹²⁴

Tatsächlich war damit aber ein Weg eingeschlagen worden, der mehr einen er-rechneten Deckungsbedarf als einen beobachtbaren Leistungsbedarf zum Maßstab nahm.¹²⁵Mit dem Sanierungsgesetz wurde mithin der„sozialpolitische Standard der Notverordnungszeit endgültig zementiert“.¹²⁶Die RfA hatte allerdings, wie erwähnt, bereits bei den ersten Vorbesprechungen des Gesetzentwurfs im Dezember 1932 er-Abb. 7:RfA-Merkblatt„Laßt die Anwartschaft nicht verfallen“von 1934

 „Sanierung der Rentenversicherung“, in:Soziale Praxis42 (1933), S. 1507–1514.

 Vgl. Hockerts, Sicherung im Alter, S. 308.

 Schlegel-Voß, S. 56.

hebliche Bedenken unter anderem gegen die neuen Leistungskürzungen um sieben Prozent bei gleichzeitig geplanten Beitragserhöhungen um 1,5 Prozent vorgebracht, zumal man den Sanierungsbedarf vor allem in der Invalidenversicherung sah. Und bei Erlass des Gesetzes Ende 1933 war bereits deutlich sichtbar, dass die gesamtwirt-schaftliche Erholung eingesetzt hatte und sich damit das Missverhältnis von hohen Ausgaben und sinkenden Beitragseinnahmen in absehbarer Zeit umkehren würde.

Spätestens seit Juli 1933 war eine langsame, aber stetige Steigerung der Beitragsein-nahmen zu verzeichnen gewesen und zudem waren über das ganze Jahr gesehen 185.000 neue Beitragszahler überhaupt hinzugekommen.¹²⁷Dennoch war klar, dass, wie schon damals dieSoziale Praxisurteilte,„die Versicherten in dem neuen Gesetz zuerst die Leistungsminderungen sehen und schmerzlich empfinden [werden]. Das wird sich noch verschärfen, wenn durch die Erhöhung der Beiträge das Verhältnis zwischen Beiträgen und Leistungen individuell noch ungünstiger wird.“¹²⁸

Die Auswirkungen des„Sanierungsgesetzes“waren höchst ambivalent. Die Än-derungen der Anwartschaftsbedingungen brachten mit der Einführung der Möglich-keit zur Nachentrichtung fehlender Beiträge zwar Erleichterungen, waren aber zu-gleich, was die Bedingungen zum Erlöschen und Wiederaufleben von Versicherungen betrafen, noch komplizierter geworden.¹²⁹Der Teufel steckte wie immer im Detail. Das Gesetz ließ etwa offen, aus welcher Wartezeit der Grundbetrag zu berechnen war, wenn mit den Pflichtbeiträgen der anderen Versicherungszweige die Wartezeit von 60 Pflichtbeitragsmonaten erfüllt war. Die Auslegung des Gesetzes ließ zwei verschie-dene Berechnungsarten zu, einmal bei alleiniger Berücksichtigung der Pflichtbeiträ-ge, zum anderen aber auch bei Einbeziehung freiwillig entrichteter Beiträge.¹³⁰ Fak-tisch trafen die Maßnahmen die Kleinrenten stärker als die mittleren und höheren Renten, so dass die Differenzierung der Einkommens- und Lebensverhältnisse eher vorangetrieben als nivelliert wurde. Und es schuf auch eine Trennungslinie zwischen älteren und jüngeren angestellten Beitragszahlern. Gleichzeitig wurde die bereits vor 1933 eingeleitete Angleichung des Rentenrechts in der Angestellten- und Invaliden-versicherung deutlich verstärkt.

Die Gesetzgebung bemühte sich um die Schaffung weitgehender Gleichheit bei den Rechtsbegriffen und um eine Vereinheitlichung des materiellen Rechts.¹³¹ Dass dies jedoch weitgehend auf dem Papier stand und Wunschdenken blieb, hatte sich schon im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes am heftigen Ringen zwischen den drei Versicherungsträgern um die Leistungskriterien gezeigt. Knappschaftliche Be-rufsunfähigkeit unterschied sich deutlich von BeBe-rufsunfähigkeit im Sinne des

Ange- Vgl. Niederschrift der 77. Sitzung des RfA-Verwaltungsrates vom 19.2.1934, S. 4, in: BArch R 112/

102.

 Soziale Praxis42 (1933), S. 1523.

 Vgl. dazu im Einzelnen RfA-Archiv Fach 24, Bd. 5 und 6 sowie auch den umfangreichen Schrift-wechsel bzgl. entsprechender Anfragen in: RfA-Archiv Fach 55, Nr. 3.

 Vgl. dazu die Notiz von Direktor Schaefer vom 11.6.1934, in: RfA-Archiv Nr. 19.

 Zur Bewertung des Sanierungsgesetzes vgl. auch Bonz-MS, S. 524f.

78 2 Die RfA als Behörde

stelltenversicherungsgesetzes, ganz zu schweigen von der Berufsinvalidität in der Invalidenversicherung.¹³² Jemand, der als Bergarbeiter längst arbeitsunfähig war, konnte in einer später aufgenommenen angestelltenversicherungs-pflichtigen Tätig-keit noch voll leistungsfähig sein. Dasselbe galt für einen invaliden Handarbeiter. Die RfA verteidigte daher vehement eine strenge Umsetzung des Grundsatzes„getrennte Renten bei getrennten Leistungsvoraussetzungen“; andernfalls sah man „auch für unser Verhältnis zur IV schwerwiegende, unsere ganze Versicherungsgrundlage um-stürzende Folgen“.¹³³ Vor allem aber wurden die großen Hoffnungen und Erwartungen in weiten Teilen der Versicherten auf eine Änderung bzw. Abschaffung der Ruhens-bestimmungen, der Kürzungen sowie eine Milderung der Wartezeitbestimmungen beim Altersruhegeld enttäuscht. Das Schreiben der Ingolstädter Vertrauensmänner an das RfA-Direktorium vom 15. Dezember 1933 war exemplarisch.¹³⁴

Bezeichnenderweise verteidigte die RfA in ihrem Antwortschreiben das neue Gesetz eher halbherzig.„Die durch das Gesetz vom 7.12.1933 auch für die Angestell-tenversicherung eingeführten Änderungen, über die die Organe der RfA vorher nicht gehört worden sind, bezwecken insbesondere die Wiedereinführung des Anwart-schaftsdeckungsverfahrens“, hieß es darin. Um das Ziel der Leistungsfähigkeit zu erreichen, müssten diese wieder so festgesetzt werden, dass sie versicherungstech-nisch tragbar seien.„Die künftige Entwicklung der AV wird zeigen, ob Verbesserungen ohne Beitragserhöhungen möglich sein werden.Wesentliche Härtemilderungen durch Ausführungsvorschriften dürften in Kürze nicht zu erwarten sein.“¹³⁵ Nicht zuletzt bestanden bei näherem Hinsehen viele Unklarheiten und entsprechender Ausle-gungsbedarf.

Die Vertrauensmänner der RfA wurden mit Anfragen über die neuen gesetzlichen Bestimmungen regelrecht überhäuft, insbesondere was die Neugestaltung der Ren-tenfestsetzung und die künftige (verminderte) Höhe der anzurechnenden Steige-rungsbeträge betraf.¹³⁶Vor allem bei den freiwillig Weiterversicherten löste das Gesetz eine regelrechte Panik aus.„Wie steht es bei den beabsichtigten Kürzungen mit den freiwillig erhöht gezahlten Beiträgen?“, lautete die besorgte Frage eines Beitrags-zahlers schon im September 1933. Würden bei dem geplanten Leistungsabbau die Sonderzahlungen der älteren Angestellten, die diese unter Verzicht auf den Abschluss einer Lebensversicherung jahrelang geleistet hatten, mit berücksichtigt? Die jüngeren Angestellten, deren Zukunftssicherung offenbar vor allem die Maßnahmen dienten, würden dadurch nicht geschädigt werden,„während sie bei Wegfall für die

betref- Vgl. dazu die Schriftwechsel zwischen der RfA und der Reichsknappschaft vom Mai 1933 sowie dann die Besprechungen mit dem RAM vom 28.9.1934 und vom 20.11.1934 in: RfA-Archiv Nr. 62/63 sowie Nr. 108.

 Interne Notiz für Direktor Koch vom 16.5.1933, in: ebd.

 Vgl. RfA-Archiv, Fach 11, Nr. 9.

 Vgl. das Schreiben vom 23.12.1933 in: ebd.

 Vgl. Schreiben des Vertrauensmanns der Ortsgruppe Einbeck an die RfA vom 28.12.1933 und Antwortschreiben der RfA vom 11.1.1934, in: RfA-Archiv Fach 90, Nr. 3.

fenden älteren Angestellten, die infolge ihres Lebensalters die Differenz gar nicht wieder aufholen können, eine ganz außerordentliche Schädigung bedeuten wür-Abb. 8:Schreiben der Ingolstädter Vertrauensmänner an das RfA-Direktorium vom 15. Dezember 1933 80 2 Die RfA als Behörde

den“.¹³⁷ „Ist es überhaupt noch ratsam“, so schrieb ein anderer Versicherter im Januar 1934 an die RfA, „die freiwillige Weiterversicherung aufrecht zu erhalten? Welche Möglichkeiten gibt es, die gezahlten Beiträge zurückzuerhalten?“¹³⁸Ein anderer Ver-sicherter war noch deutlicher. In seinem Brief an die RfA heißt es:

Ich erhalte erst heute genauer Kenntnis von der neuerlichen Herabsetzung der Leistungen der Angestelltenversicherung. Außer der Herabsetzung des Grundbetrags auf nur noch 30 M im Monat sind Sie dazu übergegangen, ab 1. Januar 1934 den Steigerungssatz von 15 Prozent für jeden ge-zahlten Monatsbeitrag aufzuheben und feste Steigerungssätze der einzelnen Klassen zu erheben, die nur noch ca. 12 Prozent ausmachen. Dies gilt auch für die bereits vor dem 1. Januar gezahlten Beiträge. Das ist Vertragsbruch, den ich nicht anerkenne. Ich habe auf Grund Ihrer früheren Versicherungsbedingungen ab Juli 1928 einen freiwillig höheren Beitrag gezahlt in der Annahme, dass mir hierauf 15 Prozent Steigerungsbetrag zur Rente angerechnet werden […]. Ich stelle Ihnen anheim, den alten Vertragszustand für die freiwillig gezahlten Beiträge wiederherzustellen oder mir den freiwillig gezahlten Betrag zurückzuzahlen. Ich bin zwangsversichert in Klasse E = 16 RM, freiwillig bezahlte ich Klasse G = 25 RM. Die Differenz beträgt für die eingezahlten 67 Monate 604 RM, die ich zurückerbitte.¹³

Immerhin sah das neue Gesetz vor, dass der Teil der Rente, der auf freiwillige Beiträge

Immerhin sah das neue Gesetz vor, dass der Teil der Rente, der auf freiwillige Beiträge

Im Dokument Paul Erker Rente im Dritten Reich (Seite 80-143)