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W ertm o d ellieru n g 53

Im Dokument Mythos in der slawischen Moderne (Seite 53-67)

tio n eines ganzheitlichen Ereignisses " in einer Gesamtheit von Seelen" anstrebe. Damit hebt Ivanov das Theater (wohl auch im Horizont der Idee des Gesamtkunstwerks) a ls jene Kunstform her- aus, in der eine H ierarchie der Werte n ic h t gegeben i s t . A lle r - dings müssen seine Versuche der Renaissance einer antiken Tra- gödié im Geiste des Christentums a ls g e sc h e ite rt angesehen wer- den.

Wenn w ir nun a ls ein B e is p ie l spätsym bolistischer D ic h t- kunst Aleksandr Bloks Poem

D i e Z w ö l f

unter dem Gesichtspunkt der Modellierung des ästhetischen Wertes betrachten, so i s t der Ana- lyse vorauszuschicken, daß der ästhetische Wert zwar nur im Akt der ästhetischen Produktion und Reproduktion vollzogen w ird , der Text aber gleichwohl eine Präsupposition der Realisierung dieses

m

Wertes e n th ä lt. Die A rc h ite k to n ik eines Werks ü b e rs te ig t so die formale sprachliche S tru k tu r des Textes, indem sie primäre und sekundäre semiotische Modellierung zu einer Gesamtheit zusammen- s c h lie ß t.

Neben die evidente S tru k tu r wechselnder Lautkorresponden- zen, die e in dichtes Geflecht sekundärer semiotischer Beziehun- gen h e r s t e l l t (v g l. in der ersten Strophe die sechsmal auft r e - tende Phonçmkombination

v e )

, neben die inten sive Farbensymbolik m it den Kernfarben schwarz, weiß und r o t , neben eine bedeu-

tu n g svo ll gehandhabte V a ria tio n von rhythmischen Versprofile n , Strophenformen und Strophenkonstellationen in den zwölf K apiteln des Poems tre te n auf der semantischen Ebene symbolische Natur- d a rs te llu n g , konträr zugespitzte soziale In teraktionen und

s c h lie ß lic h ein äußerst le b h a fte r Wechsel a xiologischer Proposi- tionen.

Es d ü rfte n ic h t zu w eit gehen, wenn w ir f e s t s t e lle n , daß gerade diese spannungsreiche Welt e th isch e r, s o z ia le r, r e l i g i ö -

ser, ideologischer und s c h lie ß lic h auch ä sthetischer Wertungen den Kern des Sinngefüges von Bloks großem Poem ausmacht. Diese Bewegung durch eine Welt der Bewertung beginnt m it der Natur- Schilderung des Beginns, in der die im Text angelegte (durch die Lautkorrespondenzen re p rä se n tie rte ) p o s itiv e ästhetische Wertung

in einen Gegensatz zu ihrem praktischen Wert gerät ("Всякий

xo-док/сколзит - ах, бедняжка!" - "Ein jeder Fußgänger/gleitet aus

־ ach, armer K e r l ! " ; Blok 1971a[1919]:223)•

Es kann h ie r n ic h t darum gehen, d ie gesamte spannungsreiche und doch in sich geschlossene Welt der Wertungen des Gedichts

zu re ko n stru ie re n , es sei aber auf Erscheinungen wie die v e r- ständnislose G re isin hingewiesen, die m it einem Huhn verglichen w ird und aus deren S ich t die B o l'š e v ik i eine durchaus negative Wertung erfahren (233) sowie auf den Bougeois, der in die Nähe eines aus der Gemeinschaft ausgeschiedenen Hundes

( b e z r o d n y j p e 8

, 241) gerückt w ird .

N icht zu übergehen i s t i n diesem Zusammenhang f r e i l i c h die Entwertung des R eligiösen, die sich in den

Z w ö l f

zum einen durch die an P e t'ja g e ric h te te Personenrede - "От чего тебя упас/Золо- той иконостас?" ("Wovor hat dich g e re tte t/D ie goldene Ikonosta-

se?", 241) - zum anderen aber durch eine ambivalente Äußerung des Erzählers h e r v o r t r i t t : " . , .И идут без имени святого/Все две- надцать в даль" ("Und es gehen ohne h e ilig e n Namen/Alle zwölf in die Ferne", 242). E rs t vor diesem Hintergrund w ird d e u tlic h , was

fü r e in Skandalon es war, daß am Schluß des Poems kein anderer an der Spitze der re vo lu tio n ä re n Zwölf ging a ls C h ristu s. Es i s t genugsam bekannt, daß Blok s e lb s t von dieser Lösung i r r i t i e r t war. Weniger i s t in der umfangreichen L it e r a t u r zu diesem Poem auf die axiologischen Im plikatio ne n dieser überraschenden Pointe geachtet worden.

In e in e r Tagebuchnotiz vom 17. Februar 1918 s ch re ib t Blok (1971b:330) zwar b e krä ftig e n d "Daß C hristus ihnen vorangeht, un- t e r l i e g t keinem Z w e ife l", doch fü g t e r , den Wertgesichtspunkt ausdrücklich erwägend, hinzu: "Es geht n ic h t darum, 1ob sie s e i- ner würdig s in d ״ , und es i s t s c h re c k lic h , das wiederum Er m it

ihnen i s t , und daß es e in s tw e ile n keinen anderen g i b t " . Bezeich- nenderweise s c h lie ß t Blok (1971b:330) m it der Frage: "Und

be-•

d a rf es denn eines Anderen - ?". Zwei Tage später i s t er sich b e re its dessen s ic h e r, daß es ein anderer sein müsse, der v o r- angeht (Blok 1971b:330). Entscheidender i s t f ü r das Verständnis dieses Problems f r e i l i c h seine F e stste llu n g " [ . . . ] Патриотизм - грязь [ . . . ] Религия - грязь t . . . ] ( " ( . . . ] P atriotism us i s t

*>4

R a in e r G rübet

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Schmutz [ . . . ] R eligion i s t Schmutz I . . J 1 " ) , da sie zu erkennen g ib t , daß die a lte n Werte gerade im B lic k auf die ästhetische Axiomatik abgewertet werden. N ic h t verwundern kann dann, daß auchidie Romantik ä s th e tis c h a ls Schmutz abgetan w ird .

E ndgültig scheint sich Blok (1963:330) am 10. März 1918 Re- chenschaft über die Grundlage der Umwertung zu geben, wenn er auf die K r i t i k von O.D. Kameneva, in dem Poem werde C hristus ge- p rie se n , a n tw o rte t:

Я только констатировал факт: если взглядеться в столбы ме- тели н а э т о м п у т и , то увидишь "Исуса Христа".

Но я иногда сам глубоко ненавижу этот женственный призрак.

Ich habe le d ig lic h e in ׳ Faktum k o n s t a t ie r t : wenn man a u f d i e s e m W e g e in Säulen von Schneesturm schaut, so

s ie h t man "Jesus C h ris tu s ". Bisweilen hasse ic h s e lb s t j e - doch dieses w eibliche Gespenst t i e f .

Es i s t die Wahrnehmung, die A is th e s is im ursprünglichen

Sinne, die Christus zur Erscheinung b r in g t . Die ästhetische Per- zeption der Welt, von Blok n ic h t s e lte n in die Metapher des 1 Mu- sik-Hörens' gefaßt, u n t e r w ir f t sich sowohl die h i s t o r is c h - p o l i- tische a ls eben auch d ie r e lig iö s e W ir k lic h k e it . Der S y n k re tis - mus der Werte fü h r t dann im Symbolismus auch n ic h t zur D ehierar- chisierung und ontischen Begründung des Wertsystems, sondern zur Dominanz des ästhetischen Wertes und zur Begründung des Wertsy- stems auf einer emphatischen Wahrnehmung der Erscheinung. M it der Semiotik der Repräsentation, die im zw ölften K a p ite l ihren Gipfelpunkt in der semiotischen und axiomatischen Ersetzung des Windes durch Christus f in d e t und damit Natur und R e lig io n a ls Äquivalente v o r s t e l l t - ” Это ветер с красным флагом/Разыгрался впереди..." ("Dies i s t : der Wind hat m it der roten Flagge vorn

sein Spiel g e t r ie b e n . . . " , 1971a:242) - ko rre spo nd ie rt eine Wert- bildung, die in der ä s th e tis c h wahrgenommenen Erscheinung ihren Grund h at.

Als ein B e isp ie l f ü r die f u t u r is t is c h e Wertmodellierung können w ir Chlebnikovs Text

Z a n g e z i

heranziehen, der nur v ie r Jahre nach Bloks Poem

D v e n a d c a t 9

abgeschlossen und v e r ö ffe n t- l i c h t worden i s t . In diesem le tz te n großen Werk Chlebnikovs, das sich mir a ls ein besonderer Typus des Entwurfs eines

Gesamt-W e rtm o d e llie ru n g

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kunstwerks d a r s t e l l t , i s t zwar durch die Gleichsetzung der menschlichen Sprache m it der Sprache des Kosmos, durch die In -

terferenz von Held und Erzähler, von Held und Autor, durch die v ie lf ä lt ig e n Verfahren der Metamorphose eine größere Nähe zur S tru ktu r mythischer Diskurse e r r e ic h t, doch t e i l t sich Zangezi, der Weise, der Prophet einer neuen Welt, gerade a ls D i c h - t e r m it (zur Geschichte der In te rp re ta tio n von

Z a n g e z i

v g l.

Grübel 1986). Am Ende des komplexen, aus ly ris c h e n , dramatischen und prosaischen Stücken montierten Textes w ird die Zeitungsnach- r ie h t von Zangezis Tod w id e rle g t, indem Zangezi e i n t r i t t (auf- t r i t t ? ) und die Sätze s p ric h t: "Зангези жив,/Это неумная шутка."

("Zangezi le b t, /D ie s war ein dummer Spaß.", Chlebnikov 1986:

504). Auch h ie r i s t es n ic h t das Sein, das die Unwahrheit wider- le g t, sondern das im Erscheinen des Helden v o r g e f ü h r t Sein.

S ic h e rlic h lä ß t sich bei Chlebnikov im Besonderen und beim Futurismus im Allgemeinen eine hohe Stufe der Poetomythik und damit auch des sekundären Synkretismus rekonstruieren, doch wäre es h ie r ebenso irre fü h re n d , von Mythik und Synkretismus im Sinne archaischer Kulturen zu sprechen wie im F a lle des theoretischen Diskurses über den Futurismus. Es i s t kein Z u f a ll, daß in Maja- k o vs kijs T raktat

Kak d e l a t

'

e t i c h i ?

und in den Arbeiten der rus- sischen Formalisten v i e l von "Regeln", "Verfahren" und sprach- liehen Merkmalen der L it e r a t u r die Rede i s t , kaum aber von Er- scheinungen des Wertes. Majakovskij ve rste h t sich nur zu dem Hinweis, der Grundsatz der Sparsamkeit b ild e in der Kunst die Grundregel der Produktion ästhetischer Werte, bei S k lo v s k ij, Tynjanov, Êjchenbaum und Jakobson w ird man eine Theorie des

(ästhetischen) Wertes durchaus vermissen. Zwar setzen B e g riffe wie das "Neue Sehen", "Verfremdung", "Desautomatisierung" und evidenter noch "Dominante" und "Innovation" Werthorizonte voraus vor deren Hintergrund sie produktiv werden können, doch sind die entsprechenden Werte in den Arbeiten der Formalen Schule keines- wegs bestimmt und in ih r e r Arbeitsweise beleuchtet worden. Es

lohnte eine eigene Untersuchung, ob Jakobsons P rin z ip der Äqui- valenzbildung durch die Egalisierung der Werterscheinungen n ic h t

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in besonderem Maße den W ertnihilism us der russischen Avantgarde zum Ausdruck b r in g t. Es i s t e in durchaus bedenkenswerter Um- stand, daß Bachtin den Formalismus wegen der Vernachlässigung des ästhetischen Wertes k r i t i s i e r t hat und diese Kategorie dann im tschechischen Strukturalism us bei Jan Mukafovskÿ neben dem F u n k tio n s b e g riff zur leitenden Kategorie geworden i s t .

Wir haben b e re its darauf hingewiesen, daß im mythischen Diskurs die Evidenz des Wahrnehmbaren die Legitim ation f ü r die G ü ltig k e it von Aussagen b i ld e t . In der Konzeption S klo vskijs und Jakobsons muß die Wahrnehmnarkeit

( o ë â u t i m o s t

9) dagegen

s te ts aufs Neue durch bestimmte Verfahren der Desautomatisierung herbeigeführt werden. Die "E in s te llu n g auf den Ausdruck" kann ja auch nur dann das Spezifikum der poetischen Sprache b ild e n , wenn in der praktischen Sprache die Wahrnehmbarkeit s te ts wieder ve r- loren geht. Der Mythos kennt die Erscheinung der Überraschung n ic h t; C hristus a ls Fahnenträger der Revolutionäre und Zangezi a ls totgesagter Lebender sind in ih r e r ästhetischen Wirksamkeit angewiesen auf die getäuschte Erwartung. Die Ä s th e tik der Inno- vation t r i t t der A xiologie der K o n tin u itä t diam etral gegenüber.

Zwischen ihnen g ib t es keine Brücke, sondern nur Interferenzen.

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vs.a »гл лаѵ^ізеаѵ

A a g e A. HANSEN-LÖVE (Wien )

ZUR MYTHOPOETIK DES RUSSISCHEN SYMBOLISMUS

Der in diese r Darstellung i m p l i z i t und e x p l i z i t verwendete S y m b o l b e g r i f f b ild e t das Rekonstrukt eben jener Symbolvorstellungen, die von Symbolisten se lb st in zahlreichen und o f t sehr widersprüchlichen r e lig io n s - und k u ltu rp h ilo s o p h i-

sehen S c h rifte n e n tw ic k e lt wurde•1 Da die Arbeiten zu dieser Thematik ohnedies sehr ausgedehnt und r e ic h h a ltig vorliegen

(v g l. z u le tz t Deppermann 1982; Holthusen 1957, 1982; West 1970;

Tschöpl 1968; Wallrafen 1982; Mine 1979 e t c . ) , möchte ich h ie r nur auf jene Besonderheiten hinweisen, die fü r das Symbolver- ständnis d ie ser Studie wesentlich sind.

"Symbol" und "Mythos” a ls solche (d.h. je n s e its ih r e r the- matischen Konkretisierung) sind - aus der S icht der poetischen Paradigmatik des symbolistischen Gedichtkorpus - se lb st zentra- le Paradigmata eben dieses Kodes, wie dies ja auch fü r die Para- digmata *Kunst1, *Leben', ,Gedicht*, 'D ic h t e r ', ,K u lt u r ', 'R e li- g io n ' e tc . g i l t , die in den Gedichten s y m b o lis ie rt, mythologi- s i e r t und p a ra d ig m a tisie rt sind, obwohl sie g le ic h z e itig außer- halb der "poetischen Welt" der Gedichte eigene k u lt u r e lle Medien bzw. Zeichensysteme (Wissenschaft, Kunst, R e lig io n , Psychologie e tc .) und damit eigene Weltmodelle d a rs te lle n , aus deren Per-

spektive die Gedichte und ih re Paradigmatik zum Gegenstand der Theoretisierung und In te r p r e ta tio n , der Pragmatisierung und Übersetzung in andere Kodes und andere "Lebenstexte" werden.

K o m p lizie rt wird diese g le ic h z e itig e Anwesenheit von kom- plexen Zeichensystemen und Kulturmodellen i n n e r h a l b des poetischen Kodes und a u ß e r h a l b desselben durch das

Bestreben der Symbolisten, die "Grenzen" zwischen diesen Syste- men (also zwischen Kunst und R eligion, Philosophie und Wissen-

s c h a ft, Theorie und Praxis, Werk und Leben e tc .) immer wieder zu verschieben, neu zu d e fin ie re n und zu transzendieren. V ie l- fach tre te n die abstrakten3 Bezeichnungen dieser elementaren Kultursysteme und Kodes a ls p e r s o n ifiz ie r te "Symbole” in den Ge dichten a u f, wo dann die in der (religionsphilosophischen, k u l- t u r - und kunsttheoretischen, ideologischen oder w is s e n s c h a ftli- chen) Theoriebildung abstrakt in W id e rs tre it stehenden K u ltu r- systeme im Gewände mythischer "Helden" erscheinen und das "Dra- ma" des "Kultur-Kampfes", der Auseinandersetzung zwischen den heterogenen semiotischen, medialen und axiologischen Kodes und In s t it u tio n e n der K u ltu r und ih re r Träger 1'durchspielen", "thea t r a l i s i e r e n " . Solche "Helden” sind - neben den schon erwähn-ten - v ie le (zumeist groß geschriebene) Abstrakta wie: "Vremja"

( " Z e i t ” ) , "Slovo" bzw. " Jazyk" ("Wort" und "Sprache"), "Sozer- c a t e l 'n o s t '" (als sym bolistischer Terminus fü r "Theoria", theo- r e t is c h - r e f le x iv e r Lebenshaltung) im Gegensatz zu "Tvorčestvo” ,

"D elo", ” Vešč1" , " Z iz n '" (d.h. a lle "k re a tiv e n ", physisch und psychisch faßbaren Prozesse und Produkte), aber auch Philosophu mena wie " d i o n i s ij s t v o " , "bogoborčestvo", " id e ja " , " s t i c h i j - n o s t1" u .a .

Dieser In te g ra tio n von Abstrakta (und der m it ihnen verbun denen Modelle) in den poetischen Kode (als Symbole der p o e ti- sehen Welt) steht die "Abstrahierung” und "Theoretisierung" kon k r e te r poetischer Motive und Symbole im nichtpoetischen Diskurs gegenüber, wo bestimmte Gegenstandssymbole, (mythologische)

Na-I men, Mythologeme u .a . a ls abstrakte "Termini" e in e r T h e o rie b il- dung und eines entsprechenden Genres a u ftre te n . Dies g i l t n ic h t nur fü r mythologische oder p h ilo s o p h is c h -re lig iö s e Motive, son- dern ebenso f ü r ästhetisch-poetologische P rin z ip ie n , Theorien und Verfahren, deren Termini sowohl p o e t i s i e r t a ls auch t h e o r e t i s i e r t a u ftre te n ("p o é z ija ", "slovo- semja", " ja z y k ” , ” rifm a ", " s t ic h " , "s o o tv e ts tv ie ” , "prelomle- n i e " , "o tra ž e n ie ", "pesn' ” , " r i t m " , "d ifira m b ” , "pro za ", "kniga

"ra z v e rty v a n ie ", " s v ito k ” , "p oê t", ” pevec", " l i r a " , " s v i r e l ' ”

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Aage A. Hansen-Löve

00064786

e t c . ) .

Versucht man den symbolistischen "Symbol-Mythos" in seinen Grundzügen und unabhängig von den sehr unterschiedlichen Theo- rie bild un ge n der Symbolisten (v .a . V I. Solov'evs, V j . Ivanovs, A. B e ly js , D.M. Merežkovskijs u .a .) zusammenzufassen, dann e r - g ib t sich folgendes B ild , das im wesentlichen auf das S e lb stve r-

ständnis des mythopoetischen Symbolismus z u t r i f f t .

Jedes Symbol ve rfü g t zugleich über einen s e m i o t i - s e h e n (d.h. im weitesten Sinne ,,sprachlichen", "medialen") Charakter und einen r e a l - d i n g l i c h e n ; es i s t zu- g le ic h "Zeichen", das fü r etwas ״anderes" ste h t ( fü r die "andere W elt", den metaphysischen "mir in o j" ) und f ü r sich "s e lb s t" (a ls B e standteil der "kosmischen D ingw elt", a ls "slovo-vešč' " ) . Umge- k e h rt i s t jeder Gegenstand, jede Real'ie der d ie s s e itig e n Welt und des irdischen Lebens insofern ein Zeichen, d.h. T e il e in e r u n iv e rs e lle n Sprache, a ls sie den "Welt-Text" des Kosmos da r-

s t e l l t . Die vielbesprochene symbolistische Theorie der "K orre- spondenzen" ("correspondances", " s o o tv e ts tv ija " ) b a s ie rt ganz eindeutig auf einer durch und durch (neo-)p 1 a t о n i -

s e h e n Ontologie und der f ü r sie typischen Emanationslehre.

Nach dieser b ild e t der Kosmos eine v e r t i k a l e H ie ra r- chie von "Seinsschichten11 (kosmogonischen "Sphären") , deren

"S e in s h a ltig k e it" sich in dem Maße v e r r in g e r t, wie sie sich vom absoluten "Ur-Sein" und der ,,U r-E in h e it" des kosmischen Ur-

sprungs entfernen. Aus diesem " flie ß e n " , "emanieren" o n to lo g i- sehe Elem entarteile (also "S e in s p a rtik e l", die üblicherweise a ls

"L ic h tm a te rie ", a ls "Licht-Samen" gedacht werden) in d ie "Min- derstufen" des Kosmos; diesem ,,ontischen" Aspekt der Ausstrah- lung e n ts p ric h t der "energetische" und der " p a r t iz ip a to r is c h e " : Ein jedes Phänomen einer Seinsstufe gehört dadurch seiner Sphä- re an, daß es der dieser immanenten M a t e r ia lit ä t und Essenz

e n ts p ric h t; g le ic h z e itig p a r t i z i p i e r t jedes Phänomen in sofe rn an den je w e ils übergeordneten Seinsschichten, a ls es an deren Sein und Energie t e i l h a t . Diese Teilhabe e rs c h lie ß t das Ur-Sein der Dinge ebenso wie die U r-K ra ft, d.h . sie bezieht sich sowohl auf die i m a g i n a t i v e U r b ild lic h k e it (also die

"Ideen-Mythopoetik dee rueeiechen Symbolismus 63

h a f t i g k e i t " ) der am übergeordneten Sein p a rtiz ip ie re n d e n Dinge a ls auch an der e n e r g e t i s c h e n U r k r a ft des Seins.

Diese P a r tiz ip a tio n t r i t t aber n ic h t in jedem Phänomen, in jeder S itu a tio n und fü r jeden Menschen gleichermaßen und perma- nent auf, sondern nur f ü r jenen, der fähig i s t , die "Sprache der Dinge" zu lesen bzw. umgekehrt die "Dinge" a ls sprachliche Zei- chen (genauer: "Vorzeichen") zu erschließen. Diese Teilhabe

macht das solchermaßen s ig n ifik a n te Ding zugleich zum S t e llv e r - t r e t e r , zum "substituens" eines a b w e s e n d e n Seins,

ohne daß dabei das Ding grundsätzlich seine äußere Erscheinungs- weise (als "Phainomenon" der immanenten Gegenstandswelt) v e r li e - ren würde. Dies g i l t auch fü r a lle im engeren Sinne sprachlichen Zeichen und Texte: Diese verharren e in e rs e its in der konventio- ne lie n Gegenstandswelt ("predmetnost1" , "predmetnyj m ir " ) , wenn sie vom "H y lik e r” , vom "Uneingeweihten" monofunktional benützt werden; andererseits erschließen sie dem "Sehenden" (also dem

"V is io n ä r", dem "Pneumatik e r" ) in der "imago" des Phänomens auch in seiner verbalen G estalt) das " U r b ild " , den "Archetypos"

(oder nach Plato die "Idee") seiner absoluten Entsprechung im Ursein. Untrennbar m it dieser i m a g i n a t i v e n "E in - s ic h t " 3 i s t die e n e r g e t i s c h e "E instrah lun g" v e r- bunden: Beides zusammen b ild e t die s y m b o l i s c h e W irk- samkeit von "Dingen a ls Zeichen" des W elttextes.

Das Symbolische i s t also eine Wirksamkeit und imaginative Präsenz, die Zeichen und Dingen n ic h t an ih r e r "Oberfläche" und a ls m a te rie lle Substanz a n h a fte t, sondern nur im E r l e b e n erfahren werden kann. Dieses P rin z ip des "pereživanie" durch- z ie h t a lle Symboltheorien der Symbolisten und jener Symbolden- ker der Religionsgeschichte (v .a . in ih r e r g n o stisch-h erm e ti- sehen Unterströmung) , auf die sich die Symbolisten m it größter Sachkunde und Einfühlsamkeit bezogen. Das "Symbolwort"** ("s lo v o -

simvol") i s t also zunächst "Wortterminus" (ein a b s tra k te r "s lo v o - termin") der bloß konventionellen Zeichensprache f ü r denjenigen, der seine rezeptiven Fähigkeiten e in z ig auf die lin g u is t is c h -

semiotische Seite des Zeichens r i c h t e t ; fü r den "Symbolmen- sehen", fü r die E lit e der " Pneumatik e r " , wie sie die pythagore­

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M y th o p o e tik d e s r u s s is c h e n Sym bolism us

ischen oder gnostischen Sym bolisten-Kollektive re p rä se ntie rte n , fü r den k re a tiv e n Menschen (im Sinne der K u n stre lig io n der Mo- derne) t r i t t das Symbolische (d.h. 1״imago" und "Energie" Verm it- telnde) der Zeichen und Realia nur a u g e n b l i c k l i c h , im rechten Moment ("k a iro s ") des Lebensvollzugs, im sch icksal- haften A u fb litz e n der E in s ic h t und " Illu m in a tio n " oder " v is io - nären" Erfahrung in Erscheinung. Außerhalb dieser e x is te n tie lle n S i t u a t i o n , außerhalb etwa eines m a g isch -ritu e lle n

R a h m e n s (wie ihn das "templum" im Baulichen und die I n i - t i a t i o n s r i t e n in der Lebensgliederung d a r s te lle n ) , außerhalb des K o l l e k t i v s synchron erlebender Menschen, außerhalb der

"h e ilig e n Z e it " , des "Festes", der " r ic h tig e n Stunde" i s t das Symbolische u n s i c h t b a r .

Auf die Kunst übertragen bedeutet d ie s , daß der Kunsttext

” e x o te ris c h ” gelesen werden kann, d .h . entweder außerkünstle- ris c h (unter dem Zeichen eines anderen Kodes und einer externen Pragmatik: etwa a ls h is to r is c h e r , p o lit is c h e r , ideologischer, dogmatischer u .a . T e x t) , oder aber bloß ä s th e tis c h -k ü n s tle ris c h , also unabhängig von der m yth isch -re lig iö s e n , ja geradezu sakra- mentalen Wirksamkeit des Symbolischen- Dieser B r u c h zwi- sehen Kunst a ls religiös-m ythischem "Medium" (ja a ls R eligion selbst) und Kunst a ls autonomer, ästhetischer Denk- und Daseins- form, zwischen "Real-Symbolismus"5 ( ” r e a li s t i č e s k i j simvolizm"

bei V j . Ivanov) und einem "nom inalistischen" "Idealsymbolismus"

( " i d e a l i s t i č e s k i j sim vo lizm "), zwischen "dekadentstvo” und

"K u n s tre lig io n " des S I und dem religiös-m ythopoetischen S I I , durchzieht den gesamten Symbolismus, ja v e r le ih t a lle n

"K u n s tre lig io n " des S I und dem religiös-m ythopoetischen S I I , durchzieht den gesamten Symbolismus, ja v e r le ih t a lle n

Im Dokument Mythos in der slawischen Moderne (Seite 53-67)