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VERSUCH EINER ARBEITSDEFINITION DES BEGRIFFS ” MYTHOS1 ״

Im Dokument Mythos in der slawischen Moderne (Seite 43-49)

Angesichts des häufigen und u n te rsch ie d lich e n Gebrauch des Be- g r i f f s "Mythos” se i an dieser S te lle eine anspruchslose A rb e its - d e f in it io n vorgeschlagen, die k e in e r le i Anspruch auf eine w ei- tergehende G ü ltig k e it erhebt, sondern le d ig lic h dazu dienen

s o l l , das Verständnis der weiteren Argumentation zu e r le ic h te r n . Unter einem Mythos verstehe ic h die einem Ensemble von Diskursen zuordbare kompakte K o n s te lla tio n (archetypischer) semantischer und axiomatischer E inheiten, eine K o n s te lla tio n , die in der je - w eiligen K u ltu r eine k o n s titu t iv e synthetisierende Funktion aus- übt. Dabei i s t der Mythos se lb st im Unterschied zu seiner n arra- tive n Transformation h a n d lu n g s o rie n tie rt, d .h . er im p liz ie r t

seine r i t u e l l e R e a lisa tio n ebenso wie der Ritus den mythischen

W ev tm o d elíie ru n g

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%

Diskurs. Die semantische und axiomatische K o n s te lla tio n des My- thos fin d e t ihren je w e ilig e n sprachlichen Ausdruck in der Kon- fig u r a tio n der Ausdrucks- und Bedeutungseinheiten des mythischen Diskurses.

Ferner gehe ich davon aus, daß die Diskussion über den r i - tu e lle n Charakter des Mythos ü b e rflü s s ig i s t , da in der m ythi- sehen K u ltu r Diskurs und Handlung, Text und r i t u e l l e r T e x tv o ll- zug k o n ze p tio n e ll zusammenfallen. In diesem Sinne g ib t es, wie Leach (1983:6,18) f e s t s t e l l t , im ursprünglichen Mythos keinen is o lie r t e n Text: Dieser Text entsteht e rs t durch die Tonbandprò- to k o lle oder Berichte der Mythologen. In der mythischen K u ltu r w ird der Mythos im mythischen Diskurs auf die gleiche Weise vo llzie h e n d zur Erscheinung gebracht wie k r a f t des animierenden Verfahrens aus unserer S icht abstrakte Qualitäten in lebendige Erscheinungen tra n s fo rm ie rt werden. Die Semantik des Mythos i s t ontologisch und e x i s t e n t i e l l , seine A xiologie erscheint gegen- über unserem Wertmodell a ls u n d iffe r e n z ie r t. Wenn Leach in Uber- einstimmung m it Malinowski k o n s ta tie r t, der Mythos habe eine le - g itim a to ris c h e Funktion, und wenn er ihm damit einen i s o l i e r t pra ktisch-eth ische n Wert zu sp rich t, müssen w ir entgegnen, daß

im Mythos a l le Erscheinungen ontologisch gewertet und damit auch ontologisch l e g it im ie r t werden.

2 .

FUNKTIONALER, AXIOLOGISCHER UND SEMIOTISCHER SYNKRETISMUS

Die Diskussion über den frü h k u ltu r e lle n Synkretismus i s t zu kom- plex a ls daß sie sich in wenigen Worten zusammenfassen lie ß e .

Ich kann h ie r nur einige in diesem Zusammenhang relevante Punkte aus dieser Debatte herausgreifen. Unter Berufung auf Veselovskij hat sich in der russischen K u ltu r- und L ite ra tu rw iss e n sc h a ft die Überzeugung herausgebildet, die frühen Kulturen seien n ic h t nur durch die E in h e it der Medien, sondern auch der Gattungen ge- p rä g t. Ich habe anderenorts b e re its darauf hingewiesen, daß sich eine Entsprechung beobachten lä ß t zwischen dem A u ftre te n der These vom medialen Synkretismus und den Versuchen zur E ta b lie - rung des Gesamtkunstwerks (Grübel 1986:4 54 f . )

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R a in e r Grübet

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M e le tin s k ij, der in seiner

P o e t i k d e s M y t h o s

das Epos aus dem generischen Synkretismus ausgenommen h a tte , s p ric h t in s e i- ner Monographie über den Roman des M it t e la lt e r s (1983:3) vom

" sy n k re tis tis c h e n Zusammenhang

( s i n k r e t i o e s k a j a s v j a z 1)

des My- thos m it der re lig iö s e n oder w e ltlic h e n Lehre, m it der a lte n

,W eisheit1” . Tatsächlich scheint der ursprüngliche Mythos Be- kenntnis und Erkenntnis, r e lig iö s e und gnoseologische Funktion, m it der b e re its angeführten praktisch-ethischen Funktion der Le- g itim a tio n zu vereinen. Dabei i s t hervorzuheben, daß sich im my-

thischen Diskurs archetypische Handlungsmuster und p o te n tie lle gegenwärtige Handlungsreferenz w echselseitig re c h tfe r tig e n . Der Vollzug des Diskurses b e s tä tig t die G ü ltig k e it t r a d ie r t e r Nor- men, ohne sie fu n k tio n a l einzugrenzen. Diesen funktionalen Syn- kretismus sehe ich a ls k o n s t it u t iv an fü r den k u ltu r e lle n Status des Mythos. Er bestimmt auch das Erscheinungsbild der A xio lo g ie

im ursprünglichen Mythos.

2.1. A xiologischer Synkretismus

Bis in die jüngste Vergangenheit hat die Diskussion über den

Wahrheitsmodus von Aussagen des mythischen Diskurses eine beson- dere Rolle g e s p ie lt. So hat Levi-B ruhl das P rin z ip des m yth i- sehen Denkens, er sprach vom "prälogischen Denken", auf den My- stizism us, den Glauben an übernatürliche K rä fte , zurückgeführt, einen Glauben, der sich im Gesetz der mystischen K o n tig u itä t ma- n if e s t ie r e . Levi-B ruhl hat damit im Geiste des Historismus die b e re its d is k u tie r te These von der Isomorphie des "w ilden" und des " z i v i l i s i e r t e n " Bewußtseins zu e n tkrä fte n versucht. Mir scheint dagegen der Unterschied zwischen der Semantik des my- thischen und des postmythischen Diskurses n ic h t in der Frage des Glaubens an metaphysische Erscheinungen zu lie g e n , sondern

in der im mythischen Diskurs n ic h t vollzogenen Unterscheidung zwischen Natur und K u ltu r. Da auch diese D ifferenzierung p o st- mythischen Charakter hat, ziehe ich es vor, von der im m yth i- sehen Diskurs fehlenden Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata zu sprechen. Damit i s t das Weltmodell des

Wertmode l l i e r u n g

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mythischen Diskurses aber keineswegs simpler oder von geringe- rem Wert a ls das unsere, es s p r ic h t den Erscheinungen vielmehr d o rt eine innere Ambiguität zu, wo w ir sie durch äußere K la s s i- f ik a t io n voneinander trennen. Diese Ambiguität beruht auf dem von 01, да Frejdenberg beschriebenen Sachverhalt, daß im m ythi- sehen Bewußtsein Ding und Eigenschaft n ic h t unterschieden wer- den und die Eigenschaften den selben ontologischen Charakter ha- ben wie die Erscheinungen, die w ir Dinge nennen.

Noch Steblin-Kamenskij und Leach stimmen b e i a lle n Unter- schieden in der Auffassung vom Mythos d a rin überein, daß der ту- thische Diskurs durch Präsupposition des Wahrheitscharakters

seiner Aussagen von Seiten seiner Produzenten und Rezipienten c h a r a k te r is ie r t werde. M e le tin s k ij (1983:3) s c h re ib t in der be- r e i t s angeführten A r b e it, erstmals t r e t e ” in der G estalt des Ro- mans die n a rra tiv e L it e r a t u r a ls ein kü n s tle ris c h e s Werk, a ls Frucht der Phantasie hervor, d ie keinen e rn sth a fte n Anspruch auf h is to ris c h e oder mythologische Glaubwürdigkeit e rh e b t".

Im B lic k auf den mythologischen Diskurs sind f r e i l i c h a l - les dies Erwägungen aus postmythischer S ic h t. Der fu n k tio n a le Synkretismus i m p l i z ie r t nämlich, daß es im mythischen Diskurs keinen gesonderten Wahrheitswert g i b t . Der Wahrheitswert i s t im Bezug auf den genuinen Mythos n ic h ts anderes a ls die postm ythi- sehe Transformation des f ü r den Mythos relevanten ontologischen Wertes. Wilamowitz-Moellendorf (1955:17) hat auf vergleichbare Weise f ü r den Götterglauben der Griechen k o n s t a t ie r t :

Die Götter sind da. Daß w ir dies a ls gegebene Tatsache m it den Griechen erkennen und anerkennen, i s t d ie erste Bedin- gung fü r das Verständnis ih re s Glaubens und ih re s K ultus.

Daß w ir wissen, sie sind da, beruht auf e in e r Wahrnehmung, se i sie in n e r lic h oder ä u ß e rlic h , mag der Gott s e lb s t wahr- genommen sein oder etwas, in dem w ir die Wirkung eines Got- tes erkennen.

Dieses Z it a t s o l l keineswegs suggerieren, der griechische Göt- terglaube entstamme dem mythischen Diskurs, sondern darauf h in - weisen, daß der mythische Diskurs zu seinem Verständnis e in e r vergleichbaren Anerkennung des M itg e te ilte n n ic h t a ls Wahres, sondern a ls Seiendes bedarf. Es i s t der Gegensatz der o n to lo g

i-ąb R a in e r G rübet

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sehen Werte ־ des S e i e n d e n und des N i c h t s e i ־ e n d e n - , der im Mythos das Geschehen h e r v o r t r e ib t . Daher i s t die Kosmogenese auch sein vornehmstes Thema.

Die A xio lo g ie des Mythos könnte nach dem zuvor Gesagten s t a r r und einfach erscheinen. In W ir k lic h k e it i s t sie dagegen dynamisch und hochkomplex. Ih re Dynamik und Komplexität e n t-

s p rin g t der Ambivalenz des ontologischen Wertes: a lle s t r ä g t den Wert des Seins und den Wert des N ichtseins in s ic h . Daher und nur daher kann es sowohl werden a ls auch vergehen.

Der Mythos i s t , wie w ir oben b e re its sagten, n ic h t reines Geschehen, sondern b e s p r o c h e n e s Geschehen. Er b in - det das Sein an das Sagen. Auf der anderen Seite e rsch e in t im mythischen Diskurs a lle s Gesagte a ls Seiendes. Der Gegensatz

be-»

ste h t daher n ic h t zwischen der Wahrheit oder F alschh eit der Aus־

sage, sondern zwischen dem Gesagt-Werden und dem N ic h t־ Gesagt־

Werden. Was gesagt i s t , g i l t : Geltung i s t der Seins-Modus des Sprechens im mythischen D iskurs. Der Ausdruck "in fa n s " f ü r das Kind im Lateinischen bezeichnet ja n ic h t die a r tik u la to r is c h e U nfähigkeit des Sprechens, sondern den Zustand des Noch-nicht־

m it־ Geltung־ Sprechens, der Unmündigkeit.

Das über den Wahrheitswert Gesagte g i l t m utatis mutandis auch fü r den ästhetischen Wert. Auch e r geht beim mythischen Diskurs v ö l l i g auf im ontischen Wert des Seins und des Gesagt־

Seins vs. des N ic h t־ Seins und des Nicht-G esaģt-Seins. Wir können aber im Vergleich m it dem Diskurs in der postmythischen K u ltu r die E rs a tz s te lle n des Wertbezugs markieren. Durch die Lösung des Sprechens vom besprochenen Geschehen können sich so die auf das Geschehen bezogene In h a lts ä s th e tik und die auf das Sprechen o r ie n t ie r t e Formästhetik herausbilden; zugleich umfaßt der my- thische Diskurs auch die Spannung zwischen K o n tin u itä t und D is- k o n tin u itä t im werdenden Geschehen. Das Sagen s e lb s t dagegen wird a ls K o n tin u itä t v o rg e fü h rt: die Wiederholung des Sprechens b e k r ä ftig t die zyklische Regelmäßigkeit des Wandels.

Jean Bollak hat in seinem Aufsatz

M y t h i s c h e D e u t u n g u n d D e u -t u n g d e s M y -t h o s

(1971:18) die "ursprüngliche Form der In te g ra ־ tio n a l l e r Wahrnehmung" a ls C harakteristikum des Mythos gegen­

W e rtm o d e llie ru n g ą /

über der Philosophie bezeichnet. In der Tat i s t die Evidenz des Wahrnehmbaren der Rechtfertigungsgrund f ü r die G ü ltig k e it von Aussagen im mythischen Diskurs. Wir werden später sehen, wie sie sich zu S k lo v s k ijs Theorem des "Neuen Sehens" und zu Jakobsons Axiom der "E in s te llu n g auf den Ausdruck" v e r h ä lt.

Zusammenfassend können w ir f e s t s t e lle n , daß der ästhetische Wert im Mythos in der O rientierung auf die Wahrnehmbarkeit von r i t u e l l e r Handlung und mythischem Diskurs zwar angelegt, aber n ic h t a ls eigenständige Größe ausgebildet i s t . Da es nur eine ontische Wertfundierung g i b t , besteht im mythischen Diskurs kein Unterschied zwischen Wertung und Wert, zwischen Eigenwert und Wertzuschreibung. N ich t z u f ä l l i g w i l l uns erscheinen, daß unser B e g r iff des Ästhetischen sich vom griechischen Ausdruck f ü r das s in n lic h Wahrnehmbare h e r l e i t e t . A p p e llie r t die S in n f ä llig k e it der Wahrnehmung noch an die mythische Prämisse e in e r u n a u flö s li- chen E in h e it von Wesen und Erscheinung des Seienden (und zu- g le ic h Geltenden), so o ffe n b a rt sie doch zugleich, daß diese Union ebenso zerbrochen i s t wie der Zusammenhang von Herauffüh- rung und Aufnahme, von Produktion und Rezeption.

2.2. Der semiotische Synkretismus

Neben funktionalem und dem axiologischen Synkretismus können w ir dem mythischen Diskurs auch einen semiotischen Synkretismus zu- ordnen. Kulakovskij (h ie r z i t i e r t nach Jüdin 1978:22) hat f o l - genden Brauch der Jakuten ü b e r li e f e r t : Wenn aus der erloschenen F eu e rste lle ein langgezogener hoher Ton hervorkam, p fle g te n die Jakuten einen noch längeren P f i f f auszustoßen, L u f t einzusaugen und zu sagen: "Mein P f i f f i s t besser und s t ä r k e r ! " , um den Geist der Habsucht zu besiegen, der ih r e r Überzeugung nach aus dem Ton des verlöschenden, a lle s verzehrenden Feuers s p r ic h t. Ändern- f a l l s erwarteten s ie , daß im Laufe des Winters der Überlebens- w ichtigen Nahrung die "Seele", d .h . die N a h rh a ftig k e it entzogen und sie so ungenießbar gemacht werden könnte.

Der P f i f f i s t a ls mythische Handlung in diesem B e is p ie l der zugleich m a te rie lle wie id e e lle Vollzug des Wettkampfes. Der

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R a i n e r Grübe I

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P f i f f i s t Zeichenträger u n d Referenzobjekt, eines I n t e r - p r e t a n t e n bedarf es f ü r den mythisch Sprechenden im Ge- gensatz zu unserem Zeichengebrauch n ic h t . Die notwendige meta- semiotische Handlung des abschließenden U r t e ils i s t die unver- zich tb a re Kehrseite der mythischen symbolischen Handlung (my- th is c h und symbolisch i s t sie nur aus unserer S ic h t, f ü r den Handelnden i s t sie so , n a t ü r l ic h 1 wie das Atmen). Ohne das Aus- sprechen des Satzes wäre d ie Handlung gar n ic h t vollzogen. Ver- g le ic h b a r damit i s t in unserer K u ltu r das Aussprechen des Ur- t e i l s vor G e ric h t, das ja e r s t das von den Geschworenen oder dem R ich te r b e r e its g e f ä llt e U r t e i l r e c h ts k r ä ftig werden lä ß t.

O l1да Frejdenberg (1978:191) hat in ih r e r noch immer unzu- reichend zur Kenntnis genommenen Monographie

D e r M y t h o s u n d d i e L i t e r a t u r d e s A l t e r t u m s

das B ild a ls Prototypen des u rs p rü n g li- chen mythischen Zeichens beschrieben. Es war durch die Ver-

Schmelzung von wahrgenommener Erscheinung und wahrnehmendem Be- tra c h te r gekennzeichnet. Das mythische B ild bedeutet s te ts das, was es m i t t e i l t , und es bezeichnet nur das, was es bedeutet. In

ihm kommt ganz zur Erscheinung, worauf es ve rw e is t: Das m ythi- sehe B ild i s t das sich zeigende Ding.

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