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HISTORISCHE VORBEMERKUNG

Im Dokument Mythos in der slawischen Moderne (Seite 37-41)

Hegels Diktum "Das Wahre i s t das Ganze" beklagt den V e rlu s t e i - ner T o t a l i t ä t , die sich zugleich nur a ls T e i l, a ls gnoseologi- sehe Wertbestimmung nämlich, zu erkennen g i b t . Dieser T e il war in Hegels Philosophie f r e i l i c h dazu bestimmt, in der re fle x iv e n Bewegung des W eltgeistes das Ganze zugleich zu erfassen und dar- z u s te lle n - Kunst, R eligio n und p raktisch e Lebenswelt s o llte n

ganz und gar in der Philosophie, ä s th e tis c h e r und e th isch e r Wert waren dazu bestimmt, im Wahrheitswert «*philosophischer Erkenntnis aufgehen. Hegels Entwurf i s t h ie r zunächst a ls eminentes B ei- s p ie l f ü r die Bestrebungen n e u z e itlic h e r Kulturen herangezogen worden, das Auseinandertreten k u l t u r e l l e r Bereiche, k u l t u r e l l e r Funktionen und k u l t u r e l l e r Werte rückgängig zu machen. Für die theoretische Begründung des russischen Realismus durch B e lin s k ij, CernySevskij und Pisarev war Hegels k o g n itiv e Synthese von aus- schlaggebender Bedeutung, und s ie fand ih re endgültige Ablösung e rs t in den u n iv e rs e lle n ästhetischen Entwürfen des Symbolismus, die gnoseologische wie praktische Funktion und n ic h t selte n auch die r e lig iö s e Funktion ganz der ä s t h e t i s c h e n

F u n k t i o n nachordneten.

Ein anderer Versuch a llg e m e in k u ltu r e lle r Synthese i s t ne- ben der Anthroposophie Ste in e rs und der Psychoanalyse Freuds in der symbolischen Theorie des Mythos gegeben, d ie um die Jahrhun- dertwende ih re e in d rin g lic h e D arstellung in der

Völkerpsycholo-g ie Wilhelm Wundts Völkerpsycholo-gefunden h a t, auch in Rußland bekannt war und n ic h t ohne E in flu ß auf die Mythenkonzeption der russischen Symbolisten und Avantgardisten gewesen sein d ü r fte . Wundt sah einen k o n s titu tiv e n Zusammenhang zwischen Dichtung und Mythos, einen Zusammenhang, der sich f ü r ihn auch in der W ir k lic h k e its - auffassung des Mythenschaffens ausprägte. Er e n tw ic ke lte die Theorie der mythischen Apperzeption, die m it seinem Verständnis von Charakter und Funktion der Phantasie zusammenhängt. Anders a ls Hegel bestimmte Wundt nämlich das poetische B ild vom m ythi- sehen Denken her: Der Mythos fasse dasjenige a ls W ir k lic h k e it au f, was in der Dichtung le d ig lic h a ls S piel der Imagination e r- scheine. Die W ir k lic h k e it gehe jedoch s te ts dem S piel m it seinem mimetischen Charakter voraus. Wundt hat bezeichnenderweise k e i- nen grundsätzlichen Unterschied zwischen mythischer und n ic h t- mythischer Phantasie gesehen. In dem K a p ite l "Die Phantasie und die Kunst" der

V ö l k e r p s y c h o l o g i e

fü h rte er aus, d ie mythische Phantasie zeichne sich gegenüber der kü n stlerische n le d ig lic h durch die P ro je ktio n von Gefühlen, A ffekten und W ille n sb e stre - bungen auf ih re Objekte aus, wodurch diese Objekte a ls leb endi- ge Wesen in Erscheinung gebracht würden. Dieser Vorgang der

m y t h i s c h e n A n i m a t i o n u n d P e r s o n i - f i k a t i o n war f ü r Wundt (1910:65) le d ig lic h e in "g e s te i- g e rte r Grad a l l e r jener Vorgänge, die man b e i der ästhetischen Wirkung a ls *Einfühlung1 zu bezeichnen p f l e g t . "

Die Neigung zur ve re in h e itlich e n d e n Synthese von m yth i- scher und k ü n s tle ris c h e r T ä tig k e it w ird d o rt unverkennbar, wo Wundt (1910:66) ästhetische Wahrnehmung und mythische Belebung nur a ls "M odifikationen der allgemeineren Funktion der A uffas- sung des Objekts" d e f i n i e r t , die er "Apperzeption" genannt hat.

Die mythologische Phantasie a ls in ihrem Wesen durchaus iden- tis c h m it der Phantasie überhaupt auffassend, hat Wundt d ie my- thologische Apperzeption dann auch n ic h t a ls eigenständige Er- scheinung m it besonderen Gesetzmäßigkeiten entworfen, sondern a ls jene allgemeine A r t der Apperzeption, d ie s te ts im Gefolge e in e r Verstärkung des A ffe k ts h e rv o rtre te . Wie die Phantasietä- t i g k e i t n ic h ts anderes a ls eine unter günstigen Umständen

her-38

R a in e r Grübet

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vortretende Steigerung normaler Funktionen s e i, so werde die animierende Apperzeption g ru n d sä tzlich von a lle n Objekten aus- g e lö s t, die sich dazu eigneten, s tä rk s te A ffe k te hervorzurufen.

K ra ft der verstärkenden Wirkung der animierenden Apperzeption werde der mythische Gegenstand in ein persönliches Wesen verwan- d e l t .

Die p a r a lle lis ie r e n d e Einordnung des Mythos in die Ent- Wicklung der W e ltk u ltu r, die im Umkehrschluß ja auch die K u ltu r der Gegenwart der S tru k tu r des Mythos a s s i m i l ie r t , lä ß t sich

auch b e i dem russischen K u ltu r - und L it e r a t u r h is t o r ik e r Veselov- s k i j beobachten. In einem posthum v e r ö ffe n tlic h te n K a p ite l aus der

H i s t o r i s c h e n P o e t i k

lesen w ir :

И в формальном и в содержательном отношении поэзия продол- жает собою, на почве уже определившихся исторических от-

ношений, деятельность мифа, как миф явился развитием ело- ва

Sowohl in form aler a ls auch in in h a lt li c h e r Beziehung s e tz t die Dichtung auf der Grundlage b e re its ausgebilde- t e r h is to r is c h e r Beziehungen die T ä t ig k e it des Mythos f o r t , wie der Mythos die Entwicklung des Wortes b ild e t e . Das Verständnis der L it e r a t u r a ls Fortführung der m ythi- sehen A k t i v i t ä t überschneidet sich aufs D e u tlic h s te m it dem Selbstverständnis von russischen symbolistischen D ichtern.

Es mag überraschen, daß der S t r u k t u r a lis t Lévi-S trauss auf durchaus vergleichbare Weise die grundsätzliche Isomorphie zwi- sehen dem mythischen Diskurs und Texten der Gegenwartskultur h e ra u sg e ste llt h a t. Zwar b i ld e t sein Entwurf des w i l d e n D e n k e n s a ls der Grundstruktur des Denkens überhaupt s i - c h e rlic h auf weite Strecken eine Reaktion auf die übermächtige Wirkung der h is to ris ie re n d e n Mythologie L e v i-B ru h ls , die das т у - thologische Bewußtsein a ls prälogische Stufe des Denkens abge- wertet h a tte , doch d ü rfte e in n ic h t minderer Impuls f ü r d ie Ent-

stehung dieser d e h isto risie re n d e n Konzeption in der Suche nach den phonologischen Oppositionen vergleichbaren universalen

Strukturen der Semantik des Diskurses lie g e n . Wie dem auch s e i, w ir müssen uns die Frage s t e lle n , ob w ir n ic h t auf ähnliche Wei- se der Gefahr e rlie g e n , unsere Vorstellungen, K la s s ifik a tio n e n

W e rtm o d e llie ru n g

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und Wertungen in den ursprünglichen Mythos zu p r o jiz ie r e n , wie bei Wundt der Wilde seine 11Gefühle, A ffe k te und W ille n sb e stre - bungen" in den Gegenstand der Betrachtung und der Besprechung v e rla g e rte . S c h lie ß lic h i s t unübersehbar, daß das Bewußtsein un- serer eigenen K u ltu r in s te ts höherem Grade durch unsere Vor- Stellung von ihrem V e rh ä ltn is zu anderen Kulturen bestimmt w ird . In dem Maße, in dem w ir unsere eigene K u ltu r von der anderen, mythischen K u ltu r absetzen oder i h r annähern, verändern w ir auch

ihre S tru k tu r, ih re Funktion und ih re W e rtig k e it.

Im Gegensatz zu den h ie r aufgeführten V e rtre te rn der Uni- f ik a t io n von mythischem und postmythischem Diskurs beharre ich m it O l'ga Frejdenberg (1978:173-487) auf dem Unterschied zw i- sehen mythischem und postmythischem Sprechen. Während 0 1 'да Frejdenberg diese D iffe re n z semasiologisch im Unterschied zu

B ild , Metapher und B e g r iff fa ß te , sei h ie r der Versuch unternom- men, axiologische Unterschiede zwischen mythischem und postmy- thischem Diskurs d a rz u s te lle n und durch die F u n ktio n sd iffe re n z zu begründen.

M e le tin s k ij (1976:164 f . ) hat den Charakter des "Noch-un- d iffe r e n z ie r t- S e in s "

{ e s a e - n e v y d e l e n n o a t

165 ,׳ ) d.er mythischen K u ltu r n ic h t so sehr a ls Produkt des in s tin k tiv e n Gefühls f ü r die E in h e it des Menschen m it der Welt und die Zweckmäßigkeit dieser Welt gedeutet denn vielmehr a ls "U n fä h ig k e it, die Natur q u a l it a t iv vom Menschen zu d iffe r e n z ie re n " (165) . Wir haben es h ie r wiederum m it jenem postmythischen B lic k auf die mythische K u ltu r zu tun, der sich auch im sprachlichen Ausdruck der z e i t - liehen Perspektive ("noch n ic h t" ) n ie d e rs c h lä g t. Angemessener erscheint m ir dagegen seine Rede vom "d iffu s e n Charakter" des Denkens in der frühen K u ltu r , das sich in e in e r n ic h t rig id e n Trennung von Subjekt und O bjekt, von M ateriellem und Ideellem , von Zeichenträger und Denotat, von Ding und Eigenschaft, von E in h e it und V ie lh e it , Statischem und Dynamischem, von Z e it - und Raum-Bezügen Geltung v e r s c h a fft; der mythische Synkretismus i s t ja p r i n z i p i e l l auf T o t a l i t ä t e in g e s t e llt . Leider hat M e le tin s k ij

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״

e in e rs e its sehr zu Recht d ie q u a lit a t iv e n Unterschiede zwischen den archaischen Kulturen und der modernen Z i v i l i s a t i o n

hervorge-чи

R a in e r G rübet

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