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Anders als in Würzburg war Brentano diesmal entschlossen, das so erfolgreich angebaute philosophische Feld nicht wieder dem Verfall preiszugeben;

gleich-zeitig mit der Niederlegung seiner Professur ersuchte er also die Fakultät um Neuhabilitierung, zunächst als Privatdozent.²⁸⁸ Die von Dekan Lieben veranlasste Abstimmung darüber fiel zu seiner Genugtuung ohne Gegenstimmen aus.²⁸⁹ Da auch der im Kabinett Taaffe neu bestellte Unterrichtsminister Conrad von Ey-besfeld die Meinung vertrat, das Verbleiben Brentanos in Wien sei im Interesse

 Zit. n.Lebensbild, V, 72.

 An Freund Marty schrieb Brentano über seine Trauung:„Am 16. war unsere Hochzeit, ob-wohl noch in letzter Stunde alles zu scheitern geschienen hatte. Erst am 13. Abends rief ein Te-legramm mich hin mit der Nachricht, dass alle Schwierigkeiten gehoben seien. Der Vermäh-lungsakt war kurz und würdig. An dem kleinen Festmahl nahmen nur die 3 Brüder Teil. Mein Bräutchen, das beim Standesamt im einfachen Anzug erschien, war bräutlich geschmückt, und sah in ihrem weißen Atlaskleid und faltenreich bis zur Erde wallendem Schleier, den Myrthen-kranz im Haar gar jugendlich und anmutig aus. Es regnete Telegramme. Doch Ihr Gedicht, das ich bei Tisch erbrach und das in jeder Hinsicht uns allen sehr wohl gefiel, war das einzige, das die Feier verschönte. Ida war heiter bis zum Abschied.“Brentano an Marty, 25. September 1880.

Nachlass Brentano, FBAG/HL. Marty, der im April Ordinarius in Prag geworden war, hatte Ida bereits im Juli in Wien persönlich kennengelernt und war entzückt von ihr. Im Familienarchiv in Blonay werden mehr als 70 Briefe von Marty an Ida aufbewahrt.

 An seinen Schüler Schell schrieb Brentano 1885 rückblickend über diese Ereignisse:„[Ich]

erwarb in Leipzig das Bürgerrecht und dachte eventuell zum andernmal dort an Habilitation.

Doch tat mir der Gedanke leid, dass, wie in Würzburg, auch in Wien nach meinem Weggang alles wieder zu Grunde gehen werde. Und so reichte ich zunächst in Wien selbst um sofortige Habili-tation ein.“Brentano an Schell, 22. Dezember 1885. Zit. n. Hasenfuß 1978, 44.

 „Gleichzeitig mit der Anzeige, dass ich die Professur niederlege, ersuchte ich die Fakultät um sofortige Habilitation. Die Vorlesungen waren schon geschlossen. Eine Sitzung konnte nicht mehr gehalten werden. Der Dekan ließ mein Gesuch kursieren und […] es haben sich rasch 40 Unter-schriften zusammengefunden, lauter ,Ja‘, kein einziges ,Nein‘; auch die des einen katholischen Geistlichen, der in unserer Fakultät Professor ist, fehlte nicht. Auch vom Ministerium habe ich schon das Versprechen der Genehmigung und so hoffe ich in meiner Wirksamkeit keine Unter-brechung zu erfahren.“Brentano an seine Mutter, 13. August 1880. Zit. n.Lebensbild, V, 72f.

der Universität, betonte er in seinem Majestätsvortrag vom 27. September dessen Gesetztestreue und Loyalität gegenüber der Regierung, was den Kaiser offenbar milde stimmte.²⁹⁰ Anfang Oktober schrieb Brentano

offenbar mit seiner neuen Position nicht gänzlich unzufrieden

an Stumpf:

Ich bin nun wieder Privatdozent, und habe heute unter großem Applaus der Zuhörerschaft meine erste Vorlesung gehalten. Diecapitis deminutiomacht mich nicht unglücklich. Die Bereicherung meines Glückes durch größere Güter als das, auf welches ich verzichtete, macht vollends das Übel unfühlbar.²⁹¹

Brentanos Leben kam jetzt in ruhigere Gewässer, auch seine private Existenz.Von seiner Wohnung in der Erdbergstraße 19 im 3. Bezirk, die er seit Mai 1876 bewohnt hatte,²

⁹² übersiedelte er in die Oppolzergasse 6,²⁹³ wo er mit Ida die dritte Etage

bewohnte. Josephine Winter, die Tochter von Rudolf und Helene Auspitz, gewährt uns in

50 Jahre eines Wiener Hauses, der Geschichte des Hauses in der

Oppol-zergasse, einen einzigartigen Einblick in das Familienleben, der auch Brentano von einer gänzlich ungewohnten Seite zeigt und belegt, dass er nicht nur in der Philosophie neue Wege zu gehen wusste:

Außer Onkel Richard und Tante Ida standen den Auspitzschen Kindern noch eine Reihe von Verwandten nahe. Aber es fehlte ihnen entweder an Zeit oder an seelischer Eignung, sich

 Sigmund Conrad von Eybesfeld (1821–1898) war bis 1885 k.k. Unterrichtsminister. Erwäh-nenswert erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht auch, dass er Träger des Gregoriusordens war, eine Auszeichnung, die seit 1831 vom Papst„für den Eifer in der Verteidigung der katholi-schen Religion“an Laien verliehen wurde. Sein Majestätsvortrag, dessen Original im Professo-renakt Brentano am österreichischen Staatsarchiv aufbewahrt wird, ist teilweise abgedruckt in Oberkofler 1989, xiiif.

 18. Oktober 1880. Brentano/Stumpf 2014, 205.

 Das Haus Erdbergstraße 19 war das„Wiener Brentano-Haus“, denn es hatte Brentanos Tante Antonia Brentano-Birkenstock gehört und sowohl Clemens als auch Bettina bei ihren Aufent-halten in Wien beherbergt. Hermine Cloeter zitiert in Cloeter 1917a einen Brief Brentanos an sie, in dem er beschreibt, wie er auf Wohnungssuche durch Zufall auf das Haus seiner Tante stieß.

 Das Haus Oppolzergasse 6, das die Geschwister Lieben gemeinsam erbaut hatten, liegt an der Ringstraße fast direkt gegenüber der Universität. Neben der Familie Auspitz in der zweiten Etage wohnte auch noch Richard Lieben in dem Haus.„Seine mit den Geschwistern geteilte, von feinem Verständnis unterstützte Vorliebe für bildende Kunst aller Zeiten und Völker ließ all-mählich in seinen Räumen ein kleines, unaufdringlich dargebotenes Museum entstehen: Ge-mälde altitalienischer und niederländischer Meister, Skulpturen der Antike und der Renaissance, schöne Schränke und, damals noch ziemlich einzigartig, eine Sammlung japanischer Holz-schnitte, Elfenbein- und Specksteinfigürchen und Nelzkes. Dazu kamen, in einem eigens für ihn gebauten Kasten wohlgeordnet, Stöße von Fotografien nach Kunstwerken, die er auf seinen Reisen durch Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Ägypten und andere Länder gesehen.“

(Winter 1927, 10) Heute befindet sich u.a. das bekannte Cafe Landtmann in diesem Haus.

eingehend mit ihnen zu befassen und ihr Herz und ihr Vertrauen zu gewinnen. […] Was aber bedeutete all diese freundliche Anteilnahme gegenüber der Fülle von Gaben, mit denen Franz Brentano seine Neffen und Nichten überschüttete! Wo beginnen und wo enden mit Ihrer Aufzählung? Jeder Tag schien Neues hervorzubringen. Onkel Franz kam auf Stunden vom dritten Stock herunter in den zweiten und nahm an allen Spielen teil, die er gerade vorfand, veränderte sie aber gewöhnlich in phantasievoller Weise. […] Von einer Reise nach Italien brachte Onkel Franz die Anregung zu einem neuen Spiel mit, dem Boccia. […] Das Bocciaspiel wird mit hölzernen Kugeln auf der Straße gespielt. Zwei Parteien streiten um die Plätze zunächst einer neutralen Kugel. Dieses Spiel führte Onkel Franz bei seinen Neffen und Nichten ein und es wurde mit Leidenschaft geübt. Aber er brachte auch hier bald eine eigene Note dazu. Er erfand eine Art hölzernes Hantel, das auch ausgeworfen wurde, genannt„die Nudel“. Diese hemmte oder begünstigte den Siegeslauf der Parteien, je nachdem sie lag. Es war nicht leicht, sie vom Platz zu bewegen und es gab durch sie ungezählte neue Kombi-nationen. […] Ein andermal beschäftigte den Onkel wochenlang die Konstruktion und Ausschmückung eines Wasserkarussells für die Kinder. An den Röhren brachte er Figuren wie Münchhausen auf seinem halbierten Gaul, eine auf dem Besenstiel reitende Hexe und ähnliche Scherze an, die er auf Blech gemalt hatte und die sich lustig im Kreise drehten, solange das Wasser aus dem obersten Becken abfloss.²⁹⁴

Ein Spiel lag dem

„Meister aller Spiele“

aber besonders am Herzen, nämlich das Schachspiel. Bald nach seiner Ankunft in Wien war er der Wiener Schachgesell-schaft beigetreten; ab 1884 war er dort sogar Mitglied des Vorstandes. Brentano war nicht nur in der Lage, mit sich selbst Schach zu spielen und die Partie des Gegners gleich mit zu übernehmen (wobei er seinen eigenen Zügen wie ein fremder Kritiker gegenüberstand und nach schwachen Punkten spähte), er konnte auch mehrere Partien zugleich ohne Brett spielen.²⁹⁵ Besonders gern beschäftigte sich Brentano mit dem Problem der Eröffnung und publizierte mehrere größere Arbeiten in der

Wiener Schachzeitung

darüber.²⁹⁶ Der Theoretiker begab sich aber auch in die Niederungen der Praxis, wie sich sein Schüler Husserl erinnert: Bei den gemeinsamen Zugfahrten in die Sommerfrische nach St. Gilgen pflegte Brentano alsbald sein selbstgeschnitztes Schachspiel hervorzuholen

selbstge-schnitzt, damit die Figuren durch die unruhige Fahrt nicht vom Brett geschleudert wurden

–, woraufhin man die ganze lange Fahrt hindurch eifrig spielte.²⁹⁷

Wie Kastil zu berichten weiß, konnte ihn die Leidenschaft für das Spiel auch gänzlich mit sich fortreißen:

 Winter 1927, 18ff. Hier ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer längeren, höchst lesenswerten Passage wiedergegeben, die unverzichtbar für Brentanos Charakterbild ist (vgl. a.a.O., 18–25).

 Vgl. dazu ruf & ehn, 2012, A8.

 Von 1901 bis 1903 erschienen in derWiener Schachzeitungdrei Artikel Brentanos über die

„Neue Verteidigung der spanischen Partie“.

 Vgl. Husserl 1919, 162.

[W]ie oft bei genialen Naturen, kam zuweilen etwas Dämonisches auch bei ihm zum Durchbruch. So in hemmungsloser Hingabe an das Schachspiel. Ich habe dies zu meinem Leidwesen erfahren, als ich, ein junger Student, zu ihm in sein Florentiner Heim ziehen durfte und Woche um Woche verrinnen und die Hoffnung auf die Wiederaufnahme philo-sophischer Gespräche versinken sah in den unendlichen Möglichkeiten des Schachbret-tes.²⁹⁸

Doch kehren wir wieder zur akademischen Seite von Brentanos Biographie zu-rück. Er hielt weiterhin im Wintersemester die große Vorlesung über praktische Philosophie und las daneben über ausgewählte metaphysische Fragen, über Psychologie, Logik und Geschichtsphilosophie. Auch die beliebten „Disputir-Uebungen“ bzw.

„Dialectischen Uebungen“

wurden fortgesetzt. Die Hörerzahlen des Privatdozenten erreichten bald wieder die frühere Frequenz, sodass sich der Ausschluss von allen Rigorosen und Examina, der mit der Lehrtätigkeit des Pri-vatdozenten verbunden war, als besonders hinderlich erwies. Das sah auch die philosophische Fakultät ein und schlug daher 1884

also nach einer durchaus angemessenen Frist

Brentano einstimmig und

unico loco

wieder als ordentli-chen Professor vor. Minister Conrad freilich ignorierte den Antrag der Fakultät und teilte Brentano mündlich mit, dass dieser

„etwas zu früh komme. Er halte für

nötig, dass infolge einer Verlängerung der Sedisvakanz die Diskontinuität deut-licher hervortrete.“²⁹⁹ Es scheint aber eher die Furcht vor dem Einfluss des Klerus den schwachen Minister angetrieben zu haben, der schon ein Jahr später durch Paul Gautsch von Frankenthurn ersetzt wurde.³⁰⁰ Von Gautsch, ebenfalls ein Vertreter der katholischen Restauration, sollte Brentano, wie noch zu zeigen sein wird, mindestens ebenso schlecht behandelt werden wie von dessen Vorgänger.

 Kastil 1951, 16.

 Brentano 1895a, 13. Im ersten Artikel seinerLetzten Wünsche für Österreich, der ursprünglich am 2. Dezember 1894 in derNeuen Freien Presseerschienen war, stellt Brentano die ganze un-erfreuliche Geschichte seiner unterbliebenen Wiederernennung aus seiner Perspektive dar.

 An Schell schrieb Brentano darüber:„[…] die Zeiten sind reaktionär geworden. Und da nach einigen Jahren die Fakultät den Antrag stellte, mir die Professur wieder zu verleihen, und der Minister vollkommen begriff, dass dies nur die einfache Konsequenz der Habilitation sei, und dass das Interesse der Universität es erheische, fing der Klerus, dem der Kamm zu schwellen begonnen hatte, zu intrigieren an, und es gelang ihm, den schwachen Minister, der täglich von seinem Stuhl zu purzeln fürchtete, einzuschüchtern. Nun ist er doch gestürzt, und wie es unter dem neuen Regime gehen werde, wird sich erst zeigen.“Brentano an Schell, 22. Dezember 1885.

Zit. n. Hasenfuß 1978, 46.–Über die Amtszeit von Baron Gautsch (1851–1918) herrscht in den verschiedenen Informationsquellen eine gewisse Uneinigkeit. So unterschlägt etwa der Eintrag in der deutschen Wikipedia den Unterrichtsminister Conrad von Eybesfeld völlig und lässt Gautsch von 1879 bis 1893 durchgehend dienen. Korrekt dürfte vielmehr sein, dass Gautsch zweimal k.k.

Unterrichtsminister war: einmal im Kabinett Taaffe von 1885 bis 1893, und das zweite Mal im Kabinett Badeni in den Jahren 1895 und 1896.

Einstweilen konnte er sich über diese Zurücksetzung immerhin damit