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Der Konflikt mit der Mutter belastete Brentano offenbar so sehr, dass er zu dieser Zeit sogar ernsthaft in Erwägung zog, in die Vereinigten Staaten zu gehen, um den

heimischen Auseinandersetzungen möglichst zu entkommen. Da aber Mill, von dem er sich diesbezüglichen Rat und konkrete Empfehlungen für eine

US-Uni- Über ihre Entdeckung schrieb Emilie an Haneberg:„Beim Ausräumen der indessen ange-kommenen Koffer von Franz fand ich gestern eine Brieftasche, die Briefe von Lujo enthielt, die ich nicht nur lesen zu dürfen, sondern lesen zu sollen glaubte. Spät am Abend kam ich erst dazu, es ungestört zu tun und lag lange fast bewegungslos, nachdem ich daraus erkannt, dass der Un-glückliche von Lujo getrieben wird,baldden gräßlichen Schritt des Austritts aus der Kirche zu tun und dass Franz noch vor ganz kurzem schwankend war, ob er nicht unsern Rat befolgen und in Würzburg bleiben solle. Lujo schreibt in einem Brief vom 11. [März 1873]: ,Förmlich austreten würde ich, sobald dies irgend ginge. Ort, gleichgültig wo. Ich würde zu einem radikalen protes-tantischen Pfarrer gehen, wie wir sie zu Dutzenden haben und bei dem in aller Stille übertreten.

Wenn Du willst, mache ich Dir einen in Berlin ausfindig, bei dem dies in aller Stille geschehen kann.‘“23. März 1873. Zit. n.Lebensbild, IV, 73.

 a.a.O., IV, 75f. Ein wenig Licht auf die Motive, die Emilie antrieben, in ihrem Sohn so massiv Schuldgefühle anzufachen, wirft ein Brief, den sie Anfang März an den Abt van der Meulen schrieb:„Wenn Ihr Schmerz um Franz so groß, dass Ihre Seele in Gedanken an ihn fortwährend betrübt ist, so mögen Sie sich denken, was ich leide, die Mutter dieses geliebtesten Sohnes, der mein ganzes Glück, mein Stolz, meine Freude und meine Hoffnung warund für den ich auch so schöne Hoffnungen für die Kirche hegen durfte, der er bereit war alle seine reichen Kräfte zu weihen.“

(Hervorh. d. Verf.) Schuld an der Malaise war ganz offenbar die Philosophie:„Es ist mir oft ganz unbegreiflich, dass solche schreckliche Änderung in ihm vorgehen konnte, wenn ich an seinen Gebetseifer, seine tiefe Frömmigkeit, seinen Glauben und die Bereitwilligkeit denke, mit der er jede Aufgabe, die ihm der Bischof geben würde, aufzunehmen bereit war. Dass man ihm keinerlei priesterliches Wirken gegeben, dass man ihn ganz auf seine philosophischen Studien hinwies und zur Zeit der Versuchung ganz verlies, war gefehlt.“a.a.O., IV, 71f.

versität erhofft hatte,²⁰⁵ am 8. Mai in Avignon überraschend starb, zerschlug sich auch diese Hoffnung. Als Brentano sich dann Ende April gemeinsam mit seinem Luxemburger Schwager Théophile Funck auf den Weg nach Paris machte, ge-schah auch dies auf den Wunsch der Mutter, die ihn von der Öffentlichkeit in Bayern möglichst fernzuhalten wünschte.²⁰⁶ Zunächst machte Paris, wo er am 5. Mai 1873 eintraf, einen recht günstigen Eindruck auf Brentano. Vor allem die großen Sammlungen der Kunst und der Wissenschaft und die fortschrittliche Einstellung der Franzosen in religiösen Dingen beeindruckten ihn.²⁰⁷ Seine innere Befindlichkeit näherte sich freilich dem Tiefpunkt. Nachdem sein Schwager Théophile wieder abgereist war (er hatte seine Vorbereitungen zum Antritt einer Professur für Völkerrecht erledigt), schrieb Brentano einen Brief an Lujo, in dem er die Erfahrungen der vorangegangenen Jahre zusammenfasste; der Brief ist in seinem Pessimismus und seiner emotionalen Offenheit wohl singulär unter sei-nen schriftlichen Äußerungen:

Seit Theos Abreise konnte ich wieder einmal ruhig über meine Lage nachdenken. Sie ist sicher in keiner Beziehung eine erfreuliche. Von der Mutter erhielt ich neuerdings den ein-liegenden Brief. Nach Allem glaube ich, dass es unmöglich wird, sie von ihrem Unrecht in ihrem Betragen gegen mich zu überzeugen. Füge ich mich ihr, so ist mein Leben nicht bloß peinlich für mich, sondern auch verloren für alles Gute. Ich könnte allerdings darauf ver-zichten mich zu habilitieren. Die Universitäten Deutschlands sind mir nach meinen

Würz- „Von Mill erhielt ich eine Einladung ihn ein paar Tage in Avignon zu besuchen, wo er bis Mitte Juni bleibt. Ich werde offen mit ihm sprechen. Namentlich mich aber auch über Amerika bei ihm erkunden. Denn in der Tat scheint mir dies wegen der Mutter die beste Lösung des Knotens, wenn ich nicht dadurch um alle Wirksamkeit gebracht werde. Nur dort scheint es mir auch möglich meine volle Freiheit wieder zu erlangen, die doch die erste Grundbedingung eignen Glückes ist.“Franz an Lujo, 28. April 1873. Nachlass Brentano, FBAG/HL.

 Emilie Brentano hatte in Briefen schon mehrfach den Wunsch geäußert, Franz möge nach Paris gehen,„wo er mehr verschwindet“(zit. n. Mayer-Hillebrand,Lebensbild, IV, 69).„Die Mutter […] wünscht, dass ich nach Paris gehe. Eine sofortige Habilitation wäre allerdings das was am Meisten auffallen und Sensation machen würde, das nach Paris gehen das, was mich am Meisten den Blicken entzöge. Auch hätte ich dort eine herrliche Bibliothek zur Benutzung: so kann ich vielleicht ihrem Wunsch folgen.“Franz an Lujo, 3. Februar 1873. a.a.O.

 An Stumpf schrieb er aus Paris:„Ich bin nun 14 Tage hier und kann nicht anders sagen, als dass Paris mir sehr gefällt. […] Der Fehler, der bei uns als der Hauptfehler der Franzosen gilt, ihre National-Eitelkeit, ist mir auch wenig fühlbar geworden, sei es dass die impertinente Deutsch-tümelei bei uns ihn neben sich verschwinden lässt, sei es dass das Unglück der letzten Jahre ihn wirklich bedeutend gemildert hat […]. Die Sammlungen sind großartig, sowohl die der Kunst als die der Wissenschaft, und mit größter Liberalität steht alles dem Publikum offen. Auch höre ich, dass die Gelehrten angenehme, zugängliche Leute seien, deren jeder auf seinem Gebiet gern mit Rat behilflich sei. Ich selbst kann hierüber noch nicht sehr viel sagen, da ich noch nicht recht ins französische Sprechen eingeschossen bin […]. Brentano an Stumpf, 9. Mai 1873. Brentano/Stumpf 2014, 94f.

burger Erfahrungen zum Ekel geworden. Man findet sich in einer ausgesucht schlechten Gesellschaft. Hochmut, Verlogenheit, Verfolgungssucht und jegliche Niederträchtigkeit herrscht darin. Jemand, der unter treuer Erfüllung seiner Pflicht im Übrigen frei seiner Überzeugung folgend das Gute fördern will, wird alsbald ziemlich allgemein der Gegenstand der Misshandlungen. Das Alles ist besonders schlimm im gegenwärtigen Moment. Ich sehe deutlich wie man von oben herab mit aller Macht auf die Corruption des deutschen Volkes hinarbeitet. Der Verfall, der schon lange begonnen hat, wird mit allen denkbaren Mitteln beschleunigt. Jeder Schritt weiter auf diesem Wege, und wenn er selbst mit der größten Brutalität durchgesetzt worden ist, wird von kurzsichtigen Halbwissern, zu welchen, wo es sich um philosophisch-ethische Fragen handelt, vor allem auch die Masse der Universi-tätsprofessoren gehört, als Fortschritt gepriesen. Wer nicht mit den Wölfen heult, muss fürchten, von ihnen zerrissen zu werden. Dies vor Andern ein wehrloser Privatdozent. Bei solchen Aussichten also würde ich mich wohl entschließen können, insoweit dem Wunsche der Mutter nachzugeben. Allein auch in diesem Fall bliebe es geboten, den völligen Bruch mit der Kirche zu vollziehen. Der ganze Kreis meiner früheren Freunde, einige wenige aus-genommen, ist mir verloren. Mögen Etliche, die die Redlichkeit meiner Absichten kennen, mir ihre Liebe bewahren. Ein erquickliches Zusammensein ist nicht mehr möglich. So bin ich, wenn Irgendwer, verwaist. Und wenn ich es bleibe, so kann es nicht anders sein als dass ich geistig und körperlich dahinwelke. Wie ich denn schon jetzt die Folgen einer so unna-türlichen Lage in hohem Maße empfinde. Schlaff, ohne Mut und Freude, am Liebsten im Schlaf oder in tändelnder Zerstreuung ein nutzloses und leeres Dasein vergessen.²⁰⁸

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Als Brentano kurz vor seiner ge-planten Abreise aus Paris überraschend Briefe erreichten, die von einem bedeu-tenden Fortschritt in der Wiener Berufungsangelegenheit berichteten, fasste er neuen Mut. Die Mutter hatte nämlich, noch immer den Übertritt des Sohnes zum Protestantismus befürchtend, die Initiative ergriffen. Da ihr das in angemessener Entfernung von Würzburg und Aschaffenburg liegende Wien mit seiner auch Katholiken offenstehenden Universität²⁰⁹ als vielversprechende Lösung der fa-miliären Probleme erschien, hatte sie begonnen, ihr katholisches Netzwerk zu aktivieren. Mit Unterstützung des Dominikanerpaters Adler (jener schon erwähnte jüdische Mitschüler, der durch Brentanos Engagement zum Katholizismus kon-vertiert war) bat sie Maximilian von Gagern²¹⁰, einen leitenden Beamten im k.k.

 Franz an Lujo, 16. Mai 1873. Nachlass Brentano, FBAG/HL. Die letzten Zeilen des Zitats er-innern an das, was Clemens über seinen Bruder Christian sagte:„[E]s dauert mich ungemein, wenn ich ihn stumm von innerem Verdruß auf dem Sofa halbe Tage lang liegen sehe“. Vgl. auch oben, 30, Fn. 23.

 In den 1850er Jahren hatten Emil Jarcke und George Philips unter Minister Leopold Graf Thun Hohenstein geradezu versucht, die deutschsprachigen Universitäten der Habsburgermonarchie zu Hochschulen einer zweiten politisch ausgerichteten Gegenreformation zu machen, die gegen die protestantischen Hohenzollern gerichtet war. Vgl. Andics 1980, 133 und Lhotsky 1962, 541.

 Gagern (1810–1889) war ein zunächst liberaler deutsch-österreichischer Diplomat und Po-litiker. 1848/49 Mitglied der Frankfurter Paulskirche trat er 1855 in den österreichischen