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Im Mai 1914 logierte Brentano auf seiner üblichen Reiseroute von Florenz nach Schönbühel im Grauen Bären (einem Innsbrucker Hotel, das auch heute

noch existiert), um sich mit Hillebrand und Kastil, den Innsbrucker Statthaltern seiner Schule, zu treffen. Von dort schrieb er an Marty:

Vieles scheint dahin zu deuten, dass die Zeit, die [Gott] dem Habsburger Staate zugemessen, zu Ende geht. Draußen lauern die Feinde, zu welchen vor allem auch seine Verbündeten zählen, drinnen herrscht der Unverstand auf allen Gebieten.Von Patriotismus ist schon lange nicht mehr viel übrig und jetzt kaum mehr die Rede, in dem statt seiner in törichter Weise der Nationalismus durch die Regierung selbst genährt und ausgebildet worden ist.³⁸¹

Zwei Monate später erklärte Österreich Serbien den Krieg und machte damit den ersten verhängnisvollen Schritt zur Erfüllung von Brentanos Befürchtung.

 Die von Mario Puglisi besorgte italienische Übersetzung derKlassifikationwar dann der Anlass, auch eine deutsche Fassung zu publizieren, die schließlich zwei Jahrevorder früher geplanten italienischen erschien. Vgl. dazu Brentano 2008b, 293f. [1911d, IIIf.].

 Der Moralphilosoph, Journalist und Politiker Amendola (1882–1926) leitete die Biblioteca, die ein Treffpunkt herausragender Intellektueller aller Schattierungen war,von 1910 bis 1912. Sein Versuch,„die Eigenart der Religion durch eine Art Phänomenologie des religiösen Aktes unter Absehung von dessen Inhalt zu bestimmen, reizte den über siebzigjährigen Brentano zu einer längeren Einlassung, in der er seine religionsphilosophischen Thesen exponierte […]“Tiefensee 1998, 27f. Eine etwas abweichende Darstellung der Konferenz findet sich in Albertazzi 2006, 30f.

 Das reichhaltige Nachlassmaterial zu diesem Thema wurde von Kastil vorbereitet und schließlich von Mayer-Hillebrand in Brentano 1954 veröffentlicht.

 Brentano an Marty, 24. Mai 1914. Nachlass Brentano, FBAG/HL.

Kriegsbegeisterung war seine Sache nicht. Stumpfs patriotisch inspirierte Auf-forderung an ihn, aus Protest gegen die

„verbrecherische Politik“

Englands die Ehrenmitgliedschaft in der

British Psychological Society

niederzulegen,³⁸² blieb unbeantwortet. Im September forderte Lujo, der auch eine Kriegserklärung von Seiten Italiens fürchtete, seinen Bruder auf, sogleich nach Florenz zurückzu-kehren, um der drohenden Ausweisung zu entgehen. An Marty schrieb Brentano daraufhin:

„Jedenfalls wird es geboten sein, sich für die Abreise zu rüsten.“³⁸³ Die

Reise führte ihn allerdings nicht sogleich nach Florenz, sondern ein letztes Mal nach Prag, wo Freund Marty am 1. Oktober 1914 verstorben war.

2.9 Zürich: Die letzten Jahre

Lujos Befürchtung bewahrheitete sich nicht sofort. Erst am 3. Mai 1915 kündigte Italien den Dreibund mit Deutschland und Österreich auf; am 23. Mai schließlich erklärte man Österreich-Ungarn offiziell den Krieg. Damit war für Brentano als italienischem Staatsbürger der Weg nach Österreich und Deutschland ver-schlossen, der Aufenthalt in Italien aber war ihm wegen der politischen Stimmung im Lande verleidet. Als vom Krieg verschonter sicherer Hafen blieb also nur die Schweiz, in die sich die Brentanos nur wenige Tage nach Kriegsbeginn auf-machten. Im Juni schrieb Brentano über seine Lage an Kraus, der von Marty die Rolle des Prager Statthalters übernommen hatte:

Unsere Reise verlief unbehindert und hier wohnen wir recht hübsch auf dem Zürichberg, froh, wieder atmen zu können. Die italienische Regierung, welche gegen den Willen des Volkes den Krieg unternommen hat, unterdrückt tyrannisch ängstlich jede unliebsame Meinungsäußerung. Käme es zu einer Niederlage, so bliebe,wie man allgemein erwartet, die Revolution nicht aus; allein bei einem Defensivkrieg, wie Österreich ihn führen muss, ist ein imponierender Sieg für die nächste Zeit nicht leicht denkbar. Nach Schönbühel und nach München können wir wohl nicht gehen. Niemand kann dafür bürgen, dass der Krieg im Herbst abgeschlossen ist, andernfalls aber wäre uns die Rückkehr abgeschnitten.³⁸⁴

In Zürich trafen die Brentanos auf Gio, der schon vor ihnen aus Deutschland angekommen war. Gio hatte in Florenz zunächst keine Schule besucht, sondern war von seinem Vater sowie von diversen Hauslehrern (darunter Kastil und Ei-senmeier) unterrichtet worden. Auf seinen eigenen ausdrücklichen Wunsch hin hatte Gio dann das

Liceo Dante

in Florenz besucht, das er mit einem

hervorra- Stumpf an Brentano, 3. September 1914. Brentano/Stumpf, 435.

 Brentano an Marty, 22. September 1914. Nachlass Brentano, FBAG/HL.

 Brentano an Kraus, 15. Juni 1915. a.a.O.

genden Abschluss beendete. Das

Liceo

war nicht nur eine Eliteschule, die zahl-reiche italienische Intellektuelle hervorbrachte, sondern verfügte auch über ein hervorragend ausgestattetes physikalisches Laboratorium, was Gios Interessen sehr entgegenkam. 1910 begann er dann in München ein Physikstudium bei Wilhelm Conrad Röntgen (1845

1923), in dessen Verlauf er auch Vorlesungen bei dem Mathematiker und theoretischen Physiker Arnold Sommerfeld (1868

1951) hörte.³⁸⁵ Brentano hatte schon früh erkannt, dass sein Sohn nicht für die Philo-sophie bestimmt war; in der Physik wiederum lagen seine Interessen weniger auf der rein theoretischen als vielmehr auf der anwendungsorientierten Seite, wes-halb er sich später zu einem anerkannten Spezialisten für Röntgenphotographie entwickeln sollte.³⁸⁶ Nach seiner Promotion wurde Gio im September 1914 As-sistent bei Max von Laue (1879

1960), der im selben Jahr den Physiknobelpreis für seine Arbeit über die Beugung von Röntgenstrahlen an Kristallen erhalten hatte und im Begriff war, den Lehrstuhl für theoretische Physik an der neuge-gründeten Universität Frankfurt zu übernehmen.³⁸⁷ Da für Gio als italienischen Staatsbürger die Arbeitsbedingungen im Deutschen Reich sich aber rapide ver-schlechterten, übersiedelte er schließlich im März 1915 nach Zürich, wo er an der Polytechnischen Hochschule zunächst für den Stratosphärenforscher Auguste Picard (1884– 1962) arbeitete und dann für zwei Jahre die Vertretung des zweiten Lehrstuhls für Physik übernahm. Nebenbei hörte er auch Vorlesungen bei Albert Einstein.Von Gio stammt auch eine kurze Schilderung des Zürcher Lebens seines Vaters:

Er lebte hier ganz mit dem Überprüfen und Diktieren seiner letzten Arbeiten beschäftigt;

auch eine kleine Schar von Freunden hatte sich gefunden, die ganz verschiedenen Kreisen angehörten: einige Professoren von der Universität, ein früherer Schüler, einige schlichte

 „Von Giovanni kommen gute Nachrichten. Mit seinen Arbeiten im Institut von Röntgen hat er unerwarteten Erfolg, bei welchen es nicht nur ganz angenehm ist, dass gewisse von Röntgen früher selbst vertretenen Meinungen widerlegt werden. Aber von Röntgen hat ihn zu den Arbeiten angeregt und es muss ihm doch relativ lieb sein, wenn die widerlegenden Experimente in seinem eigenen Institut ausgeführt worden sind. Auch an den Vorlesungen von Sommerfeld, die er einst unverständlich gefunden, hat er jetzt Freude, indem er alles versteht und höchst interessant findet.“Brentano an Marty, 7. Februar 1911. a.a.O. Vgl. dazu auch J.C.M. Brentano 1962.

 „Für jeden ist es das Beste, dass er sich mit dem beschäftigt, was ihm am meisten Freude macht, und was Gio betrifft, so zeigt eine langjährige, man kann sagen ausnahmslose Erfahrung, dass er sich wie nicht zu philosophischen Forschungen, auch nicht zu solchen, welche auf eine Erweiterung unserer Kenntnis der Naturgesetze abzielt, hingezogen fühlt. Was ihn freut, sind Konstruktionen von Apparaten, Erfindungen von Instrumenten, kurzum technische Verwertun-gen der schon festgestellten gesetzlichen Wahrheiten.“Brentano an Marty, 18. März 1912. Nach-lass Brentano, FBAG/HL.

 Gio hatte auch private Kontakte zu Laue, der ihm bei wiederholten Besuchen am Starnberger See das Segeln beibrachte.

Schweizer, die auch wie Papa in Italien gelebt hatten und nun aus ähnlichen Gründen hierher gezogen sind. Sie waren ganz verschieden und doch war es schön zu sehen wie sie doch alle meinen Vater verehrten und ihn wegen seiner Güte und seinem steten Verlangen des Guten liebten.³⁸⁸

Zu den Bekanntschaften, mit denen Brentano in Zürich verkehrte, gehörte etwa