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5. Ergebnisse

5.1 Wer wählt das Treatment?

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5. Ergebnisse

Die Ergebnisse werden in drei inhaltlichen Schwerpunkten berichtet.

Zunächst werden mögliche Selbstselektionen überprüft („Wer wählt das Treatment?“), da Selbstselektionen die Interpretierbarkeit von Vergleichsanalysen zwischen Treatment- und Kontrollgruppe einschränken können. Der zweite Schwerpunkt geht der Frage nach, was das Treatment bewirkt, während im dritten Schwerpunkt über einen Vergleich mit der Kontrollgruppe auf der Basis der Veränderungen zwischen Aufnahme-Entlassung und Aufnahme-Katamnese der Frage nachgegangen wird, ob bzw. was die hier untersuchten Eltern-Kind-Therapiewochen besser leisten als die bisher gewöhnlich vorgenommene Behandlung.

Bei allen statistischen Analysen wird das Signifikanzniveau (Fehler erster Art) auf 5% festgesetzt und zweiseitig getestet.

5.1 Wer wählt das Treatment?

Der Frage, wer das Treatment wählt, wurde zunächst nachgegangen, um zu untersuchen, ob sich durch die in Kapitel 2.2 und 4.1 bereits diskutierte Selbstselektion Konfundierungen ergeben, die die Ergebnisse zu Fragen der Wirksamkeit der Eltern-Kind-Therapiewochen beeinflussen können (F1).

Um der Frage nachzugehen, wer sich für das Treatment entscheidet, wurden multinomial logistische Regressionen gerechnet. Unter dem vorwärts-schrittweisen Einbeziehen der vorliegenden Prädiktoren konnten verschiedene mögliche Einflussfaktoren auf die abhängige Variable Gruppe (Treatment vs. Kontrolle) überprüft werden. Die möglichen Prädiktoren wurden vorher in vier Bereiche zusammengefasst: Bindung an die Familie, die gegeben ist durch das Alter der Patientinnen (Jüngere sind stärker in der Familie in das Familienleben eingebunden als ältere), und die Essstörungsdiagnose (anorektische Patientinnen neigen dazu das Familienleben zu beschönigen (Reich & Cierpka, 2010a), bulimische Patientinnen bewerten ihre Familie häufig als negativer (Stasch & Reich, 2000)), sowie die aktuelle Wohnsituation (bei den Eltern lebend oder nicht). Einen weiteren Bereich bildet die Stärke der Essstörung, welcher den objektiv gemessenen Body-Mass-Index, den Gesamtscore des Fragebogens zur psychischen und psychosomatischen

5.1 Wer wählt das Treatment?

69 Belastung (SCL-90-R), die Einschätzung des eigenen Gewichtes von „dünn“ bis

„dick“, die Erkrankungsdauer sowie die Länge des stationären Aufenthaltes, umfasst.

Des Weiteren könnte die Verfügbarkeit der Familie, gemessen an der Berufstätigkeit der Eltern und an der Anzahl im Haus lebender Geschwister, eine Rolle spielen. Als vierten Bereich wurde die Einstellung der Patienten/-innen und Eltern zur Familie festgelegt. Hierunter fallen das Kritisieren der Figur oder des Aussehens der Patienten/-in durch die Familie in der Kindheit oder Jugend, das Zuschreiben der Krankheitsursache zu der Familie (Krankheitsattributions-Fragebogen AFKA), aber auch, der Familie zu zutrauen, Einfluss auf eine Besserung zu nehmen (AFKA), sowie die Familienfunktionalität insgesamt (Summen-Score der Familienbögen) und dem Autonomie- und Verbundenheitsgefühl in der Familie (Fragebogen Subjektives Familienbild, SFB) eingeschätzt durch die Patientinnen und Patienten. Aus den SFB-Daten wurden für diese Analyse vier Variablen gebildet. Das Verbundenheitsgefühl in der Familie wurde aus den vier Einschätzungen Kind↔Eltern, Eltern↔Kind gemittelt. Das Autonomie-Erleben in der Familie kann nicht auf diese Weise zusammengefasst werden, weil die Einschätzung der Eltern und Kinder komplementär verläuft, also hohes Autonomie-Erleben der Eltern ein geringes für die Patientinnen bedeutet. Daher wurden hier drei Variablen gebildet: Mittelwert aus der erlebten Autonomie vom Kind zur Mutter und zum Vater, Mittelwert aus dem, von den Patienten/-innen eingeschätzte Autonomieerleben der Eltern zum Kind und beide zusammengefasst, indem die Werte der Patienten/-innen von denen der Eltern subtrahiert wurden.

Zunächst wurden für jeden Prädiktor einfaktorielle logistische Regressionen gerechnet (Tabelle 5.1). Dazu wurden ordinal-skalierte Variablen entweder, soweit es möglich war, zu intervall-skalierten umgewandelt oder binär effektcodiert zusammengefasst. Die metrischen Prädiktoren wurden, um die einzelnen Stichprobenwerte vergleichen zu können, durch z-Transformierung standardisiert.

Außerdem wurden die beiden Variablen „Aufenthaltslänge“ und „Erkrankungsdauer“

zusätzlich vor der Standardisierung wurzel-transformiert, um die linkssteile Verteilung zu symmetrisieren.

Bei sechs der gewählten möglichen Prädiktoren zeigte sich ein signifikanter Einfluss im Sinne möglicher Selbstselektionen (Tabelle 5.1). Das sind zum einen alle drei Prädiktoren, die die objektive Bindung an die Familie beschreiben, aber auch die

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70 Stärke der Essstörung und die Verfügbarkeit der Familie spielen eine Rolle. Aus dem Bereich „Einstellung zur Familie“ zeigten sich keine statistisch bedeutsamen Einflüsse. Das Treatment wurde eher von jüngeren Patientinnen, wenn sie an Anorexia statt Bulimia nervosa erkrankt sind und wenn sie noch bei ihren Eltern leben (s.a. Abbildung 5.1). Außerdem führen ein geringerer Body-Mass-Index (objektives Maß aus der Klinikakte) bei Aufnahme und eine längere Klinik-Aufenthaltsdauer zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, an dem Treatment teilzunehmen. Diese fünf signifikanten Einflussgrößen sind alle erwartungskonform.

Je jünger die Patienten/-innen sind, desto mehr sind sie noch in die Familie, das Familienleben eingebunden bzw. wohnen noch bei den Eltern und eine umso größere Rolle spielen die Eltern und Konflikte mit der Ursprungsfamilie. Auch dass die Wahrscheinlichkeit teilzunehmen bei an Anorexie Erkrankten höher ist, ist zu erwarten, weil diese meist ein größeres Interesse an der Familie und am Klären von im Laufe der Behandlung klar gewordenen familiären Konflikten haben, als Bulimie-Erkrankte, die vielleicht eher Abstand zur Familie suchen, weil die Konflikte hier meist sehr exzessiv ausgetragen werden. Dadurch ist auch zu erwarten, dass ein geringes Gewicht, also ein geringer BMI, die Teilnahme-Wahrscheinlichkeit erhöht.

Ebenso ist zu erwarten, dass die Länge des Aufenthaltes eine Teilnahme an der Therapiewoche wahrscheinlicher macht.

Der sechste Prädiktor, dessen Einfluss statistisch nachweisbar war, ist die Tatsache, ob Geschwister im Elternhaus leben. Trifft dies zu, nehmen die Familien eher teil.

Hier ist da Ergebnis diskonform mit den Erwartungen. Erwartet wird, dass weitere Kinder im Elternhaus zu einem Versorgungs- und Organisationsengpass während der Therapiewoche führen würden und dass viele Familien daher nicht teilnehmen könnten.

Der Anteil an Varianzerklärung der abhängigen Variable Gruppe (Tabelle 5.1) Treatment vs. kein Treatment) durch den jeweiligen Prädiktor, wurde in (als Nagelkerke pseudo-R2 angegeben, um den gewohnten R2-Wertebereich von 0 bis 1 zu erhalten. Die höchste Varianzaufklärung wird in dieser einfaktoriellen Regressionsanalyse mit knapp 17% durch die Länge des Aufenthaltes erreicht.

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Tabelle 5.1: Einfaktorielle logistische Regressionen für die AV Gruppe.

Prädiktoren N p b pseudo

R2

Nagel-kerke (dis) kon-form

"Obj. Bindung" Alter 273 .001 - .154 konf.

an die Familie Essstörungs-Diagnose 273 .005 + .039 konf.

bei den Eltern lebend 263 .001 + .138 konf.

Stärke der Aufnahme-BMI (objektiv) 270 .001 - .074 konf.

Essstörung Gesamtbeschwerdescore GSI* 229 --

Körperschema-Störung** 263 --

Erkrankungsdauer (in Monaten) 252 --

Aufenthaltsdauer (in Tagen) 269 .001 + .169 konf.

Verfügbarkeit der Eltern berufstätig (Ja/nein) 254 -- Familie Geschwister im Elternhaus (ja/nein) 218 .030 + .030 diskonf.

Einstellung der Pat u. Eltern zur

Kritik gegenüber Pat. (Kritik an Figur u.

Aussehen, ja/nein) 266 --

Familie Kranheitsursachen-Zuschreibung der

Familie 144 --

Einfluss auf Besserung: durch Familie 144 --

Summe der Familienbögen 144 --

SFB*** Verbundenheitsgefühl in der

Familie 141 --

SFB Autonomie Kind 143 --

SFB Autonomie Eltern 141 --

SFB Autonomiegefühl in der Familie 141 --

*Gesamtschwere-Score des Fragebogens zur psychischen und psychosomatischen Belastung SCL-90-R

**Item: „Wie empfinden Sie sich zur Zeit?“; 5 stellige Liket-Skala von viel zu dünn bis viel zu dick

***Subjektives Familienbild, Einschätzung durch die Pat. MW aus Beziehungseinschätzung: Verbundenheits-gefühl Kind->Eltern und Eltern->Kind; Autonomie Kind->Mutter und Kind->Vater; MW aus Mutter->Kind und Vater->Kind und Eltern->Kind minus Kind->Eltern.

5.1 Wer wählt das Treatment?

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Abbildung 5.1: Graphische Darstellung der sechs signifikanten Prädiktoren aus der einfaktoriellen Regressionsanalyse. Metrische Variablen als Punkte-Diagramm, binäre Variablen als Linien-Diagramm.

Die Ergebnisse der einfaktoriellen logistischen Regressionsanalyse wurden, um Redundanz zu überprüfen bzw. mögliche Redundanz-Probleme zu umgehen, durch eine multifaktorielle Regressionsanalyse (schrittweise Vorwärtsauswahl)

5.1 Wer wählt das Treatment?

73 überprüft. In diese Analyse gingen nur die sechs signifikant gewordenen Prädiktoren ein, sowie deren Zweifach-Interaktionen5. Von diesen bleiben letztendlich noch drei und ein synergetischer Interaktionseffekt als bedeutsame Einflussgrößen übrig.

Tabelle 5.2 zeigt das Ergebnis der multifaktoriellen Regression. Immerhin 45,7% der Varianz können durch diese Variablen erklärt werden. Unter Berücksichtigung der Reihenfolge, in der die Prädiktoren in das Modell aufgenommen wurden, bewirkt ein jüngeres Alter, selbst wenn die Wohnsituation (mit oder ohne Eltern), und längere Aufenthaltsdauer, schon aufgenommen wurden, noch eine zusätzliche Motivation zur Teilnahme am Treatment. Außerdem beschreibt der Interaktionseffekt Alter*Aufenthaltsdauer, dass zur Varianzaufklärung bei jüngeren Patientinnen die Länge des Aufenthaltes wichtiger ist. Dies ist damit ein synergetischer Effekt (Abbildung 5.2). Um dieses Ergebnis besser bewerten zu können, werden die Effektkoeffizienten Exp(b) hinzugezogen. Für die Berechnung dieser wurde das Alter invertiert, so dass der Wert des Effektkoeffizienten >1 ist und mit den anderen verglichen werden kann. Die höchste Bedeutung haben demnach die Aufenthaltslänge und das Alter der Patientinnen und Patienten. Mit steigender Aufenthaltslänge ist die Wahrscheinlichkeit, in das Treatment zu gehen, um das 4,1-fache höher und mit zunehmendem Alter wird das Wahrscheinlichkeits-Verhältnis Treatments vs. kein Treatment um das 3,6-fache verringert.

Tabelle 5.2: Multifaktorielle logistische Regressionsanalyse für die abhängige Variable Gruppe (Treatment vs. Kontrolle) mit den sechs in der einfaktoriellen Regression bedeutsam gewordenen Prädiktoren.

an die Familie Essstörungs-Diagnose --

Wohnsituation mit/ohne Eltern .037 + 1 1,6 konf.

Stärke der BMI_objektiv bei Aufnahme --

Essstörung Aufenthaltsdauer (in Tagen) .001 + 2 4,1 konf.

Verfügbarkeit der

Familie Geschwister im Elternhaus (Ja/nein) --

Interaktionen Alter*Aufenthaltslänge .009 - 4 2,3 konf.

5 Die in der Tabelle 4.2 nicht dargestellten, in die multifaktorielle logistische Regressionsanalyse eingegangenen, Zweifach-Interaktionen sind: Alter*Diagnose, Alter*Wohnsituation, Alter*BMI_objektiv, Alter*Geschwister, Diagnose*Wohnsituation, Diagnose*BMI_objektiv, Diagnose*Aufenthaltslänge, Wohnsituation*Geschwister, BMI_objektiv*Aufenthaltslänge, BMI_objektiv*Geschwister, Aufenthaltslänge*Geschwister.