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3 Konzepte und Messung von Armut und sozialer Ungleichheit

3.6 Vorschläge zur Umsetzung des Lebenslagenansatzes in der Armuts- und

Armuts- und Ungleichheitskonzepte

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und Teilhabechancen der Heranwachsenden in den Bereichen materielle Situation des Haushaltes, materielle Versorgung des Kindes, Versorgung im kulturellen Bereich, Situation im sozialen Bereich sowie psychische und physische Lage eingeschätzt. Das entscheidende Kriterium, um Armut abzugrenzen, ist ein Haushaltsnettoeinkommen, das weniger als die Hälfte des gesellschaftlichen Durchschnitts beträgt. Unterversorgung in den anderen Berei-chen wird als soziale Benachteiligung bzw. Deprivation bezeichnet. Als besonders problema-tische Gruppe werden Kinder erachtet, die von familiärer Armut betroffen sind und gleichzei-tig weitreichende Defizite in den anderen Bereichen aufweisen (Arbeiterwohlfahrt 2000).

Die bisherigen Versuche einer empirischen Umsetzung des Lebenslagenansatzes machen die damit verbundenen Schwierigkeiten überdeutlich. Unklar ist nach wie vor, welche Dimensio-nen der Lebenslage zu betrachten sind und wie sich Armut und soziale Ungleichheit sinnvoll erfassen lassen. Die für die Berichte herangezogenen Indikatoren sind weder theoretisch noch empirisch abgeleitet, sondern in erster Linie eine Funktion der zur Verfügung stehenden Daten. Weitgehend unbeantwortet bleibt die Frage nach der Interdependenz der einzelnen Dimensionen und der Möglichkeit der Kompensation von Nachteilen in einem Bereich durch Vorteile in anderen Bereichen. Aufgrund dessen lässt sich mit Blick auf die bisherigen Untersuchungen kaum von einer empirischen Einlösung des Lebenslagenansatzes sprechen, sondern allenfalls von einer nichtsdestotrotz sinnvollen und notwendigen Erweiterung der Ressourcenperspektive in Richtung auf einen mehrdimensionalen Zugang zu Armut und sozialer Ungleichheit.

3.6 Vorschläge zur Umsetzung des Lebenslagenansatzes in der Armuts- und

auch an den verfügbaren Datengrundlagen und damit am empirisch Machbaren. Der Endbe-richt beinhaltet eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen, die weit über die bisher unternommenen empirischen Umsetzungsversuche hinausgehen (Voges et al. 2005). Unter anderem wird mit Verweis auf die Relationalität des Armutsbegriffs dazu geraten, die Analyse der Lebenslagen in Deutschland nicht auf die von Armut betroffene oder gefährdete Bevölkerung zu begrenzen, sondern vielmehr die Gesamtheit der Lebensbedingungen zu betrachten, weil erst vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse verständ-lich wird, wie defizitäre Lebenslagen entstehen und reproduziert werden.

Die Konzeptspezifikation orientiert sich am Vorgehen in der Studie „Armut in Deutschland“

und läuft damit auf die Abgrenzung der Dimensionen Einkommen, Erwerbsarbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit hinaus (vgl. Hanesch et al. 1994). Unter Bezugnahme auf den Datenreport 1999 wird gefordert, auch die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der objektiven Lebensbedingungen zu integrieren. Wohlfahrtsforscher weisen schon seit längerem darauf hin, dass sich objektive und subjektive Lebenslagen nicht zwangsläufig decken. Einige Menschen gelangen trotz einer guten Wohlfahrtsposition zu einer negativen Einschätzung ihre Lebenssituation, während andere auch bei nachteiligen Lebensumständen eine subjektive Zufriedenheit zum Ausdruck bringen (Zapf 1984). Die Dissonanz zwischen objektiver und subjektiver Lebenslage kann sich auf den Einsatz der vorhandenen Ressourcen auswirken, so dass eine eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe bisweilen auch bei Personen im mittleren oder sogar höheren Einkommensbereich auftritt. Für die Armuts- und Reichtumsberichterstat-tung wird deshalb empfohlen, derartige Zusammenhänge kenntlich zu machen und die Lebenslage als Konstellation objektiver und subjektiver Bedingungen zu beschreiben (Voges et al. 2005).

Zur Ausschöpfung des analytischen Potenzials wird durch das Projekt eine Mehrebenenbe-trachtung von Lebenslagen als Ergebnis des Zusammenspiels von sozialstaatlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen (Makroebene) sowie individuellen Anreizstrukturen zur Nutzung von Ressourcen (Mikroebene) nahe gelegt. Durch eine handlungstheoretische Fundierung des vorgeschlagenen Modells wird der bereits von Weiser vorgebrachten Forderung nach Berücksichtigung der sozialen Strukturierung individueller Handlungsspiel-räume entsprochen und eine soziologische Erklärung der Konstitution und Reproduktion von Lebenslagen angestrebt. Gleichzeitig werden die Voraussetzungen geschaffen, um den Wandel von Lebenslagen nachzeichnen zu können: „Zunächst konstituieren sozialstaatliche und sozioökonomische Rahmenbedingungen eine Situation t1. Diese Rahmenbedingungen auf

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der Makroebene wirken auf Lebensbedingungen und Lebenschancen sowie die Mentalität individueller Akteure. Die Aussagensysteme und Aktivitäten der staatlichen Agenturen und korporativen Akteure beeinflussen deren Anreizcharakter für individuelles Handeln. Sie können die subjektive Wahrnehmung von Opportunitätsstrukturen verstärken oder abschwä-chen. Die Abfolge dieser drei Schritte lässt sich wiederholt betrachten und als dynamisches Modell der Wechselwirkungen zwischen strukturellen Bedingungen und individuellem Handeln verstehen“ (Voges 2005: 53). Entscheidend dabei ist, dass die Lebenslage nicht nur als Explanandum, sondern auch als Explanans begründet wird. Einerseits konstituiert sich die Lebenslage als Folge der Versorgungslage und der gesellschaftlichen Teilhabe und ist somit ein zu erklärender soziologischer Tatbestand. Andererseits übt die Lebenslage einen Einfluss auf die Versorgung und Teilhabe aus und lässt sich so gesehen als erklärender Sachverhalt begreifen (vgl. Esser 1993; Colemann 1995).

Operationalisiert wird das vorgeschlagene Konzept über Indikatoren entlang der objektiven und subjektiven Dimensionen der Lebenslage. Zur Erfassung der objektiven Lebensbedin-gungen und Handlungsspielräume werden Indikatoren wie Schulabschluss, berufliche Qualifikation, äquivalenzbilanziertes Haushaltsnettoeinkommen, Wohnkosten, Erwerbsbetei-ligung, Krankheit, Wohnungs- und Haushaltsausstattung herangezogen (Tabelle 3.3). Die Festlegung der Schwellenwerte für Unterversorgung erfolgte mit Bezug auf relevante Zielkonzepte bzw. Referenzgrößen und orientierte sich damit weitgehend an normativen Vorgaben. Während einige Schwellenwerte bereits in der Armutsforschung und Armutsbe-richterstattung eingeführt sind, wie z.B. kein Schul- bzw. berufsbildender Abschluss, Er-werbslosigkeit oder ein Äquivalenzeinkommen unter 60% des gesellschaftlichen Medians, werden andere aller Voraussicht nach kontroverse Diskussionen auslösen und Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse sein, z.B. unfreiwillige Teilzeitarbeit oder krankheitsbe-dingte Einschränkungen bei der alltäglichen Arbeit.

Tabelle 3.3

Für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung vorgeschlagene objektive Dimensionen der Lebens-lage (Voges et al. 2005: 9-10)

Dimensionen Indikatoren Schwellenwerte

Bildung Schulabschluss Kein Schulabschluss

Berufsbildender Abschluss Kein berufsbildender Abschluss Einkommen Netto-Äquivalenzeinkommen pro

Kopf

60% des Median, alte und neue OECD-Skala

Mietaufwand bzw. laufende Kosten für Wohneigentum (bei Selbstnut-zung)

Mietaufwand > 30% vom Haushalts-nettoeinkommen

Aufwand für Gesunderhaltung Aufwand > 5% vom Haushalts-nettoeinkommen

Erwerbstätigkeit Erwerbsbeteiligung Erwerbslos, unfreiwillige Teilzeitar-beit, Entmutigte

Inadäquate Beschäftigung Anteil an inadäquat Beschäftigten (berufliche Stellung ≠ Ausbildungsni-veau)

Gesundheit Erkrankung Starke/sehr starke Einschränkung der alltäglichen Arbeit durch Krankheit

Wohnen Haushaltsausstattung 60% des Medians des modifizierten Halleröd-Index

Wohnungsausstattung 60% des Medians des modifizierten Halleröd-Index

Wohndichte Anzahl Personen/Zimmer > 1 Wohnfläche < 50% der mittleren Wohnfläche

Noch schwieriger stellt sich die Abgrenzung von Unterversorgung in den subjektiven Dimensionen der Lebenslage dar, da die eigene Versorgungslage und Teilhabe in Relation zum Lebensstandard der Allgemeinheit oder relevanter Bezugsgruppen beurteilt wird.

Außerdem hängt die subjektive Einschätzung von eigenen Ansprüchen, Interessen und Emotionen ab, die sich relativ schnell ändern können. Bei der Festlegung von Schwellenwer-ten zur Bestimmung subjektiv wahrgenommener Unterversorgungslagen wurden deshalb im Projekt „Methoden und Grundlagen des Lebenslagenansatzes“ zwei Strategien verfolgt (Tabelle 3.4): Einerseits wurde die Zufriedenheit in den Bereichen Bildung, Einkommen, Erwerbstätigkeit, Gesundheit und Wohnen betrachtet, die in zentralen Datenquellen der

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Armuts- und Reichtumsberichterstattung wie dem Sozio-oeknomischen Panel oder dem Wohlfahrtssurvey anhand von Ordinalskalen erhoben wird. Um die unterschiedlich stark ausgeprägte Heterogenität kontrollieren zu können, wurde andererseits die Zufriedenheit mit den jeweiligen Dimensionen z-standardisiert, d.h. in eine Verteilung mit dem Mittelwert 0 und der Streuung 1 überführt. Bei einem z-transformierten Zufriedenheitswert mit einer Differenz von 1 bzw. 0,5 Standardabweichung zur Referenzpopulation ist gemäß der Empfeh-lung der Projektgruppe von einer subjektiven Unterversorgung auszugehen (Voges et al.

2005).

Tabelle 3.4

Für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung vorgeschlagene subjektive Dimensionen der Lebens-lage (Voges et al. 2005: 11-12)

Dimensionen Indikatoren Schwellenwerte

Bildung Bewertung der Berufsausbildung „sehr unzufrieden“ + „eher unzufrie-den“

Bewertung z-standardisiert Differenz von 1 bzw. 0,5 Standard-abweichungen zur Referenzgruppe Einkommen Bewertung der finanziellen Situation „sehr unzufrieden“ + „eher

unzufrie-den“

Bewertung z-standardisiert Differenz von 1 bzw. 0,5 Standard-abweichungen zur Referenzgruppe Erwerbstätigkeit Bewertung der täglichen Arbeit „sehr unzufrieden“ + „eher

unzufrie-den“

Bewertung z-standardisiert Differenz von 1 bzw. 0,5 Standard-abweichungen zur Referenzgruppe Gesundheit Einschätzung des

Gesundheits-zustandes „schlecht“ + „sehr schlecht“

Einschätzung z-standardisiert Differenz von 1 bzw. 0,5 Standard-abweichungen zur Referenzgruppe Wohnen Bewertung der Wohnsituation „sehr unzufrieden“ + „eher

unzufrie-den“

Bewertung z-standardisiert Differenz von 1 bzw. 0,5 Standard-abweichungen zur Referenzgruppe

Darüber hinaus werden Anforderungen an eine dynamische Betrachtung von Armut und Ungleichheit formuliert, die auf eine angemessene Erfassung des „dualen Charakters“ der Lebenslage als Explanandum und Explanans zielen. Um den Zeitaspekt berücksichtigen und Aussagen über die Kausalität treffen zu können, ist zwischen dem Eintritt in eine Lebenslage

und deren Aneignung und Auswirkungen zu differenzieren: „Misst man beispielsweise das Bildungsniveau von Personen über 35 Jahre und bestimmt die Korrelation mit der ökonomi-schen Dimension Einkommen, wird ein gefundener (und wahrscheinlich positiver) Zusam-menhang zeitlogisch plausibel. Die Lebenslagendimension Bildung bedingt die Chancen auf Arbeitsmärkten und ist damit erklärend für die Lebenslagendimension Einkommen. Betrach-tet man dagegen dieselbe Frage für ein Alter 16, so kehrt sich die Kausalität um. Das Famili-eneinkommen ist sicherlich auch heute ein wichtiger Faktor für das Erlangen von Bildungsab-schlüssen“ (Voges et al. 2005: 68). Derartige Kausalbeziehungen lassen sich einzig auf der Basis von Panel-Daten untersuchen. Besonders aufschlussreich sind individuelle Verlaufsda-ten, wenn sich diese im Zusammenhang mit retrospektiv erfassten Informationen zur Vorge-schichte der Studienteilnehmer betrachten lassen. Dass Analysen des mit dem Lebenslagenan-satz verbundenen Kausalitätsproblems prinzipiell möglich sind und einen relevanten Beitrag zur Armuts- und Reichtumsberichterstattung leisten könnten, wird auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels, des Niedrigeinkommenspanels und des European Household Panel demonstriert (Voges et al. 2005).

Die im Projekt „Methoden und Grundlagen des Lebenslagenansatzes“ erarbeiteten Vorschläge und Empfehlungen lassen sich als signifikante Weiterentwicklung und Qualifizierung des Lebenslagenansatzes auffassen. Inwieweit diese in die Armuts- und Reichtumsberichterstat-tung der Bundesregierung eingehen werden, ist allerdings noch unklar. Jedenfalls unterstrei-chen die Ergebnisse des Projektes das analytische Potenzial des Lebenlagenansatzes und liefern zahlreiche Hinweise darauf, wie diese auf Basis der in Deutschland vorhandenen Datenquellen genutzt werden könnten. Gleichzeitig werden aber auch die mit dem Lebensla-genansatz verbundenen Schwierigkeiten offenbar, die sich neben konzeptionellen und methodischen Fragen, auch an der Konsensfindung bezüglich der Indikatoren und Schwel-lenwerte festmachen lassen. So können und müssen die bei der Abgrenzung von Unterversor-gungslagen hergestellten normativen Bezüge kritisch hinterfragt werden, wenngleich zu berücksichtigen ist, dass jede konkrete Bestimmung von Armut und Unterversorgung an normative Vorgaben gebunden ist und einem unmittelbaren Wertbezug, z.B. zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, unterliegt. Kritik kann insbesondere an der Konzeptualisierung und Operationalisierung der Gesundheit geübt werden. Zwar wird die Gesundheit unter Berück-sichtigung ihres objektiven wie subjektiven Charakters als eigenständige Dimension der Lebenslage beschrieben, bei der Darstellung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Lebenslagendimensionen, der Begründung einer analytischen

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Trennung von Explanandum und Explanans sowie der Forderung nach Analysen der dynami-schen Aspekte von Lebenslagen spielt die Gesundheit aber so gut wie keine Rolle. Entspre-chend unbefriedigend ist die Entscheidung, die Gesundheit einzig über Erkrankungen als objektiven Indikator und über die Zufriedenheit mit der Gesundheit als subjektiven Indikator abzubilden. Die Bedeutung der Gesundheit für die Lebenslage lässt sich auf diese Weise nicht angemessen erfassen, weder unter dem Gesichtspunkt der individuellen Lebensqualität noch mit Blick auf die Beeinflussung von Handlungsspielräumen und Teilhabechancen. Die vorgenommene Operationalisierung offenbart die generell geringe Beachtung gesundheitsbe-zogener Frage- und Problemstellungen in der Armutsforschung und Armutsberichterstattung sowie die ausbleibende Rezeption der theoretischen Konzepte und empirischen Befunde der Gesundheitswissenschaften. Gleichzeitig unterstreicht sie die Notwendigkeit einer angemes-senen Konzeptualisierung und Operationalisierung der Gesundheit als Dimension der Lebenslage, wie sie in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird. Welche Erkenntnismöglich-keiten mit einem weiter gefassten analytischen und operationalen Gesundheitsbegriff verbunden sind, wird im folgenden Kapitel anhand des sozialepidemiologischen Forschungs-standes zum Zusammenhang von Armut, sozialer Ungleichheit und Gesundheit verdeutlicht.

4 Theoretischer und empirischer Forschungsstand zum Zusammen-