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3 Konzepte und Messung von Armut und sozialer Ungleichheit

3.5 Lebenslagenansatz

Mit der Armutsdefinition der Europäischen Union ist der Lebenslagenansatz zunehmend ins Zentrum der Armutsforschung und Armutsberichterstattung gerückt. Das Grundanliegen des Lebenslagenansatzes ist eine differenzierte, auch sozialpolitisch angemessene Betrachtung

von Armut und sozialer Ungleichheit, mit dem Ziel „[...] inferiore Lebenslagen und ihren Abstand zum Wohlstand der übrigen Gesellschaft aufzuzeigen, ihre Entwicklung zu beobach-ten sowie Öffentlichkeit und Politik darüber aufzuklären“ (Glatzer, Hübinger 1990: 50). Im Mittelpunkt stehen die für die soziokulturelle Teilhabe als zentral angesehenen Lebensberei-che sowie die sich in diesen abzeichnenden spezifisLebensberei-chen Kombinationen von sozialen Vor- und Nachteilen. Vor allem die Kumulation sozialer Nachteile in Form von Versorgungsdefizi-ten und verminderVersorgungsdefizi-ten Teilhabechancen wird als Ausdruck einer Armutslage angesehen (Döring et al. 1990; Hübinger 1996). Anders als beim Lebensstandardansatz geht es dabei nicht allein um die Versorgung mit Konsumgütern, sondern auch um die subjektive Lebens-weise, wie sie in individuellen Entscheidungen, Bewertungen und Handlungen zum Ausdruck kommt. Damit wird die Bedeutung von Handlungsspielräumen und deren lebenslagenspezifi-schen Grenzen hervorgehoben.

Zurück geht der Lebenslagenansatz auf den österreichischen Nationalökonom und Philoso-phen Otto Neurath, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einseitige Ausrichtung der Sozialforschung an der Einkommensverteilung, wie sie damals z.B. für die Arbeiten des Vereins für Sozialpolitik charakteristisch war, kritisierte und eine multidimensionale Betrach-tung der Lebensbedingungen unter Berücksichtigung nicht-ökonomischer Aspekte forderte.

Neben dem Einkommen sind aus seiner Sicht in erster Linie die Versorgung mit Wohnraum, Nahrung, Kleidung und Arbeit zu beachten, die in ihrer Gesamtheit eine soziale Situation konstituieren, die er als „Lebenslage“ bezeichnet (Neurath 1925). Nach dem zweiten Welt-krieg wurde der Lebenslagenansatz von dem Gesellschaftswissenschaftler und Politiker Gerhard Weisser aufgegriffen und unter sozialpolitischer Perspektive weiterentwickelt.

Stärker als Neurath konzentriert er sich auf die Vielfalt der individuellen Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen. Den Wert einer Lebenslage bemisst er an dem „Spielraum“, den die äußeren Umstände dem Einzelnen zur Bedürfnisbefriedigung und Selbstverwirklichung lassen (Weisser 1956). Neben Neuraths Forderung nach Multidimensionalität lässt sich die von Weiser explizierte Vorstellung eines strukturell geprägten individuellen Handlungsspiel-raums bis heute als einer der nachhaltigsten konzeptionellen Weiterentwicklungen des Lebenslagensatzes verstehen. Großen Anteil an der Ausgestaltung dieses individual-strukturalistischen Zugangs hatte die Sozialwissenschaftlerin Ingeborg Nahnsen, der es insbesondere um die Ermittlung der strukturellen Bedingungen ging, die den individuellen Handlungsspielraum abstecken und die individuellen Handlungschancen prägen. Um eine empirische Bestimmung dieser Bedingungen zu ermöglichen, geht sie von fünf die

Lebensla-Armuts- und Ungleichheitskonzepte

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ge konstituierenden „Einzelspielräumen“ aus: Versorgungs- und Einkommensspielraum, Lern- und Erfahrungsspielraum, Kontakt- und Kooperationsspielraum, Muße- und Regenera-tionsspielraum sowie Dispositions- und PartizipaRegenera-tionsspielraum (Nahnsen 1975).

Trotz zunehmender Rezeption in der Armutsforschung und Armutsberichterstattung ist der Lebenslagenansatz in den letzten Jahren nicht systematisch weiterentwickelt worden. An Diskussionsbeiträgen, die sich neben Fragen der Konzeptualisierung und Operationalisierung auch mit dem analytischen Potenzial des Lebenslagenansatzes befassen, mangelt es hingegen nicht. Aus Sicht der Armuts- und Reichtumsberichterstattung erscheint insbesondere die Überlegung interessant, den Lebenslagenansatz als Mehrebenenkonzept zu entwickeln, das einen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und individuellen Handlungen herstellt und auf die Erklärung der Lebenslage individueller Akteure zielt. Anknüpfungspunkte können hier die Mehrebenenmodelle von Hartmut Esser (1993) oder James Coleman (1995) liefern, die zwischen einer makro-, meso- und mikrosoziologischen Ebene der Erklärung soziologischer Tatbestände unterscheiden. Der Lebenslagenansatz kann dabei allerdings nur als Rahmenkon-zept dienen, das durch eine allgemeine Handlungstheorie und unter Hinzuziehung weiterer Theorieansätze, z.B. Lebensstil-, Milieu- oder Lebenslaufmodelle, auszugestalten ist (Cle-mens 1994).

Seit Anfang der 1990er Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, den Lebenslagenansatz für die empirische Ermittlung von Armut und sozialer Ungleichheit zu nutzen. Erwähnenswert ist der Bericht „Armut in Deutschland“ aus dem Jahr 1994, der gemeinsam vom Deutschen Gewerkschaftsbund und Paritätischen Wohlfahrtsverband herausgegeben wurde (Hanesch et al. 1994). Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung der beteiligten Akteursgruppen hat der Bericht und damit auch das zugrunde gelegte Lebenslagenkonzept große Aufmerksamkeit erfahren und die wissenschaftliche wie politische Armutsdebatte nachhaltig geprägt. Der Bericht basiert auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1984 bis 1990 und weist auf zunehmende Armutsprobleme und gesellschaftliche Schieflagen hin.

Beschrieben werden diese entlang der Dimensionen Einkommen, Erwerbsarbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit. Aus Tabelle 3.2 lässt sich außerdem ersehen, welche Indikatoren und Schwellenwerte zur Erfassung von Armut und sozialer Ungleichheit herangezogen wurden. Armut wird in dem Bericht als Unterversorgung in mindestens zwei Bereichen definiert (Hanesch et al. 1994).

Tabelle 3.2

Dimensionen, Indikatoren und Schwellenwerte für Unterversorgung im Lebenslagenkonzept zum Bericht „Armut in Deutschland“ (Hanesch et al. 1994: 128)

Dimension Indikator Unterversorgungsschwelle

Einkommen Gewichtetes verfügbares

Haushaltseinkommen 50% des durchschnittlichen gewichteten Haushaltseinkom-mens

Erwerbsarbeit Art und Umfang der

Erwerbstä-tigkeit Registrierte Arbeitslosigkeit, geringfügige Beschäftigung Bildung Berufliche Ausbildung Kein oder niedriger

Schulab-schluss, keinen Beruf erlernt

Wohnen Wohnungsgröße, -ausstattung

und -belegung Weniger als ein Wohnraum pro Person, kein Bad und/oder WC in der Wohnung

Gesundheit Erkrankungen und

Gesundheits-versorgung Andauernde Behinderung, psycho-somatische Beschwer-den, regelmäßige Einnahme von Medikamenten, regelmäßiger Arztbesuch

Ein ähnlicher Ansatz wird im Datenreport 1999, der vom Statistischen Bundesamt in Koope-ration mit dem Wissenschaftzentrum Berlin (WZB) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) erarbeitet wurde, verfolgt. Auf Basis von Daten des Wohlfahrtssurveys aus dem Jahr 1998 werden objektive und subjektive Problemlagen ermittelt und insbesondere deren Kumulation als Ausdruck einer benachteiligten Lebenslage gewertet. Objektive Problemlagen werden an Nachteilen in den Bereichen Einkommen, Wohnung, Bildung, Sozialbeziehungen und Gesundheit festgemacht. Außerdem werden Angaben zur Ausstattung mit Konsumgütern herangezogen und damit eine Verbindung zum Lebensstandardansatz hergestellt. Die subjektiven Problemlagen beziehen sich auf Einsam-keit, Niedergeschlagenheit sowie Ängste und Sorgen. Um die Kumulation von objektiven und subjektiven Problemlagen abbilden zu können, wurden Indizes gebildet und differenziert dargestellt. Auf diese Weise konnte gezeigt werden, dass die Problemlagen in einzelnen Bevölkerungsgruppen, z.B. bei den Arbeitslosen, allein Erziehenden und allein stehenden Rentnern, kumulieren (Statistisches Bundesamt 2000a).

Auch dem Sozialbericht 2000 der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der unter dem Titel „Gute Kindheit – Schlechte Kindheit“ veröffentlicht wurde, liegt der Lebenslagenansatz zugrunde.

Ausgehend von einem kindzentrierten Armutsbegriff werden die Entwicklungsmöglichkeiten

Armuts- und Ungleichheitskonzepte

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und Teilhabechancen der Heranwachsenden in den Bereichen materielle Situation des Haushaltes, materielle Versorgung des Kindes, Versorgung im kulturellen Bereich, Situation im sozialen Bereich sowie psychische und physische Lage eingeschätzt. Das entscheidende Kriterium, um Armut abzugrenzen, ist ein Haushaltsnettoeinkommen, das weniger als die Hälfte des gesellschaftlichen Durchschnitts beträgt. Unterversorgung in den anderen Berei-chen wird als soziale Benachteiligung bzw. Deprivation bezeichnet. Als besonders problema-tische Gruppe werden Kinder erachtet, die von familiärer Armut betroffen sind und gleichzei-tig weitreichende Defizite in den anderen Bereichen aufweisen (Arbeiterwohlfahrt 2000).

Die bisherigen Versuche einer empirischen Umsetzung des Lebenslagenansatzes machen die damit verbundenen Schwierigkeiten überdeutlich. Unklar ist nach wie vor, welche Dimensio-nen der Lebenslage zu betrachten sind und wie sich Armut und soziale Ungleichheit sinnvoll erfassen lassen. Die für die Berichte herangezogenen Indikatoren sind weder theoretisch noch empirisch abgeleitet, sondern in erster Linie eine Funktion der zur Verfügung stehenden Daten. Weitgehend unbeantwortet bleibt die Frage nach der Interdependenz der einzelnen Dimensionen und der Möglichkeit der Kompensation von Nachteilen in einem Bereich durch Vorteile in anderen Bereichen. Aufgrund dessen lässt sich mit Blick auf die bisherigen Untersuchungen kaum von einer empirischen Einlösung des Lebenslagenansatzes sprechen, sondern allenfalls von einer nichtsdestotrotz sinnvollen und notwendigen Erweiterung der Ressourcenperspektive in Richtung auf einen mehrdimensionalen Zugang zu Armut und sozialer Ungleichheit.

3.6 Vorschläge zur Umsetzung des Lebenslagenansatzes in der Armuts- und