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Von Weidenhäusern, Delphinkindern und Glück

Im Dokument Begabungsförderung – kein Tabu mehr (Seite 105-109)

Fachkundig führen drei Schüler die Journalistin und den Fotografen durch das Areal rund um das Schulhaus im luzernischen Gettnau, zeigen Weidenhäuser und Wasserspielplatz, Insektenhotels und Igelnester, Weiher und Magerwiese, Sonnenplätze für Eidechsen und Schattenplätze für Kinder. «Klassenweise ha-ben wir das alles geplant, gebaut und bepflanzt, und jetzt muss es natürlich ge-pflegt werden», sagt einer der Schüler und weist auf eine schiefe Weidenbank hin, die nächstens repariert werden soll. Einen verantwortungsvollen Umgang sowohl mit der Natur wie auch mit der Schulanlage nachhaltig zu fördern war eines der Ziele, das sich die Primarschule Gettnau mit dem Jahresthema 2006/07 «Der Natur auf der Spur» gesetzt hatte.

Es ist Freitagnachmittag und die drei Schüler gehen nach der Führung ins «Del-phinzimmer». Das Ressourcenzimmer mit Lern- und Strategiespielen, Lesestoff und Computern hat seinen Namen in einem Wettbewerb von den Schulkindern

erhalten – «weil Delphine so kluge Tiere sind». Rund 20 Prozent der Schülerin-nen und Schüler werden hier von Romi Bättig in einem «Pull out» gefördert. Die Lehrerin hat sich in Aus- und Weiterbildungen auf spezielle Förderung

konzen-triert und ist in Gettnau für Begabungsförderung und Prävention verantwort-lich.

Die «Delphinstunden» für die besonders Begabten finden alternierend in zwei Gruppen (1. bis 4. Klasse und 5./6. Klasse) statt, während jeweils zweier Stun-den am Freitagnachmittag. Bedingungen für die Aufnahme: Empfehlung der Klassenlehrperson, Leistungsreserven des Kindes, überdurchschnittliche Schul-leistungen (Notendurchschnitt), Wunsch und Wille des Kindes, die Delphin-stunden zu besuchen, und das schriftliche Einverständnis der Eltern. «Die No-ten sind der schwierigste Punkt im Kriterienkatalog», sagt Romi Bättig, «denn sie dürfen nicht zum Hauptkriterium werden.»

An diesem Freitagnachmittag sind für die Delphinstunden die Fünft- und Sechst-klässler an der Reihe. Die vier Buben und zwei Mädchen fassen Texte aus einer Zeitschrift zum Thema «Kommunikation» zusammen und tragen in eine Mind Map die Aspekte ein, die sich für die Publikation in der Schulhauszeitung eig-nen. Anschliessend erhalten sie von Romi Bättig Inputs zu den Dingen, an de-nen sie neu arbeiten könde-nen, sobald sie in einer Schulstunde – auch dank Com-pacting – mit der Arbeit fertig sind. Zur Auswahl stehen unter anderem Sprachkurse am PC und die Beteiligung am Schreibwettbewerb einer Zeitung.

Die Schülerinnen und Schüler überlegen, planen und tragen in ihr Lernheft ein, für was sie sich entschieden haben.

Mit Begabtenförderung angefangen hat man in Gettnau im Schuljahr 2000/2001.

Nicht ganz freiwillig. «Wir hatten einen Fünftklässler, der den Stoff der sechs-ten Klasse beherrschte, und eine vierte Klasse mit mehreren Top-Schulkindern – wir mussten uns etwas einfallen lassen», sagt Romi Bättig, «und weil das spe-zielle Programm der Begabten bei manchen Kindern den Wunsch weckte, ihre Stärken ebenfalls zu zeigen und zu erweitern, machten wir uns wenig später be-reits Gedanken zu einer breiten Begabungsförderung.»

Die Grundlagen für ein Konzept zur Begabungsförderung wurden in Gettnau 2003/04 mit dem Jahresthema «Stärken stärken» geschaffen. Alle Kinder vom Kindergarten bis zur 6. Klasse kamen auf verschiedene Arten in Kontakt mit Be-gabungsförderung. Schwerpunkte waren: Intelligenzen nach Gardner, Freiar-beit, Interessenateliers, Portfolio und Wochenausklang, ein Zeitgefäss, um eige-ne Stärken allen zu präsentieren. Einbezogen wurden auch Eltern und Schulpflege, und die Lehrpersonen bildeten sich in der Begabungsförderung weiter. Das Delphinzimmer wurde für alle Kinder geöffnet. Seither darf jedes Kind, das mit der Arbeit in der Klasse fertig ist oder in einem Fach eine Stoff-straffung hat, im Delphinzimmer Lesestoff und Spiele ausleihen oder am PC ar-beiten. Auf diese Weise werden auch die Lehrpersonen entlastet.

Die Evaluation des Themas «Stärken stärken» zeigte, dass alle – Lehrpersonen, Kinder und Eltern – auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen wollten. Freiar-beit, Compacting, Interessenateliers (stufenübergreifend alle zwei Jahre) und Portfolio wurden verbindlich eingeführt. Und beschlossen wurde auch, bei den Jahresthemen künftig die Intelligenzen nach Gardner zu berücksichtigen und die Themen intensiv mit Begabten- und Begabungsförderung zu verbinden. Ein Bei-spiel: Zum Thema «Der Natur auf der Spur» führten die Delphinkinder zusätz-lich eigene Projekte durch, indem sie unter anderem ein Naturtagebuch führten, einen Hummelkasten bauten und mit Sonnenenergie experimentier ten.

Bei der Wahl von Jahresthemen werden die Schulkinder über den Klassenrat und die Delegiertenversammlung einbezogen. Zweimal entschied man sich für die Kombination Computer und Sport: PC bewegt (2004/05) und PC bewegt weiter (2005/06). Unter ande-rem vermittelten die Schul-kinder untereinander im Schneeballsystem Software-Kenntnisse weiter. Fünf Di-plome konnten erworben wer-den: Textverarbeitung, In ter-net, Bildbearbeitung, Windows Explorer und Powerpoint.

Am Sportteil beteiligten sich Eltern und Profis mit Angebo-ten – von Jonglieren über Tanz und Orientierungslauf bis zu Badminton. Zwei besonders nachhaltige Resul-tate: Alle Sechstklässler in Gettnau können Einrad fahren; die schuleigenen Rä-der stehen nun beim Schulhauseingang, und wer Lust hat, kann damit üben. Im Rahmen der Begabtenförderung entstand eine professionelle OL-Karte für das Gebiet rund um das Schulhaus, die nun eifrig benutzt wird.

Gleich viel Wert wie auf die Förderung solcher «Spitzenleistungen» legt man aber in Gettnau auf die Prävention im Bereich Minderleistungen. Bereits im Kindergarten und in der Unterstufe führt Romi Bättig zusammen mit den Lehr-personen Reihenuntersuchungen durch – «um die Kinder mit ihren Begabungen möglichst früh ernst zu nehmen». Zum Beispiel ist ihr aufgefallen, dass ein Kna-be im Kindergarten nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts lesen konnte.

Gelernt und geübt hatte er dies mit den Namen der Kühe daheim im Stall. Der Knabe wird in diesem Schuljahr besonders auf die Rechnung kommen, denn beim Jahresthema dreht sich alles ums Lesen.

Die Primarschule im kleinen Dorf Gettnau (knapp 1000 Einwohner) hat sich mit der Begabungsförderung profiliert. Sie erhält Anerkennung von den Eltern und von den Schulbehörden sowohl in der Gemeinde wie auch im Kanton. Und auch eine Auszeichnung hat die Schule bereits erhalten: den LISSA-Anerken-nungspreis der Stiftung für hochbegabte Kinder. Das alles ist zu einem grossen Teil das Verdienst von Romi Bättig. Sie begleitet und fördert die Kinder in den Klassen und im Delphinzimmer. Sie berät Eltern und Lehrpersonen. Sie organi-siert Ateliers und Lernausflüge. Sie ist verantwortlich für die Evaluation von Freiarbeit und Compacting. Sie aktualisiert das Angebot im Delphinzimmer.

«Sie ist ein Glück für unsere Schule», sagt Schulleiter Eugen Wechsler.

Romi Bättig verweist ihrerseits auf die gute Unterstützung durch Schulleitung, Team und Behörden, auf die ideale, weil überblickbare Grösse der Schule und auf die Wichtigkeit von Netzwerken. Unter anderem ist die Schule eingebun-den in das Schweizerische Netzwerk gesundheitsfördernder Schulen. «Gesund-heitsförderung ist sozusagen das Dach, unter dem wir arbeiten», sagt Romi Bät-tig abschliessend. Das spürt man in Gettnau auf Schritt und Tritt – zum Beispiel wenn einem die Kinder auf der Führung durchs Schulareal erklären, wie wichtig Schattenplätze zum Ausruhen sind, und wenn sie einem auf dem Pausenplatz gekonnt auf dem Einrad um die Ohren sausen.

Schule Gettnau

Gemeinde Gettnau, Kanton Luzern Leitung: Eugen Wechsler

Lehrkräfte: 12 Personen

Kindergarten, Primarschule (3 Klassen: 1./2., 3./4. und 5./6.): ca. 80 Schülerinnen und Schüler

Weitere Informationen: www.gettnau.ch/de/bildung

5. Weiterbildungsangebote für Begabungsförderung

Silvia Grossenbacher und Urs Vögeli-Mantovani

Wenn Begabungs- und Begabtenförderung vorab im Regelunterricht und in der Schule erfolgen sollen, wie es die diesbezüglichen Konzepte der Kantone postu-lieren, spielen Lehrpersonen bei der Umsetzung die zentrale Rolle. Bereits im Entwicklungsplan von Margrit Stamm (1992) finden sich Vorschläge, die sich auf die Qualifizierung von Lehrpersonen für diese Rolle beziehen. Die ersten beiden Empfehlungen im Entwicklungsplan lauten:

– Befähigung der praktizierenden Lehrkräfte, durch konkrete Handlungs-möglichkeiten Begabungen zu wecken und zu pflegen.

– Vermittlung theoretischer und praktischer Kenntnisse für die Gestaltung optimaler Lernumwelten (Stamm 1992, 196).

Inhaltlich forderte die Autorin, dass Lehrpersonen Gelegenheit haben sollten, ihr Wissen über die Entwicklung begabter Kinder und ihre Erkennungsstrate-gien zu erweitern und ihre Unterrichts- und LernstrateErkennungsstrate-gien zu vertiefen. Mitt-lerweile haben die Kantone Weiterbildungsangebote eingerichtet, um Lehrper-sonen bei der Umsetzung der Begabungsförderung auf der Unterrichts- und der Schulebene zu unterstützen.

Im Dokument Begabungsförderung – kein Tabu mehr (Seite 105-109)