• Keine Ergebnisse gefunden

DAS VERTRAUEN ZWISCHEN DEN MITGLIEDSTAATEN Eine starke Europäische Union braucht starke Mitgliedstaaten

Im Dokument FÜR EIN EUROPA MIT ZUKUNFT (Seite 177-200)

EUROPA NACH DEN WAHLEN

3. DAS VERTRAUEN ZWISCHEN DEN MITGLIEDSTAATEN Eine starke Europäische Union braucht starke Mitgliedstaaten

Europa wurde geboren aus einem freiwilligen Zusammen-schluss souveräner Staaten, die in einem vereinten Europa ihre nationalen Identitäten und ihre politischen und verfassungs-mäßigen Strukturen wahren, die aber durch die engere Zusam-menarbeit Souveränität dazugewinnen. Über den Europäischen Rat und den Ministerrat kommt den Mitgliedstaaten in der Europäischen Union eine Schlüsselfunktion bei der Festlegung und Ausgestaltung der Europapolitik zu. Deshalb sind Vertrauen und loyale Zusammenarbeit zwischen den Mitglied-staaten für die Zukunft der Europäischen Union unverzichtbar.

In den letzten Jahren ist diese Vertrauensgrundlage auf harte Proben gestellt worden. Insbesondere die Finanzkrise und Uneinigkeit in der Migrationspolitik haben Risse zwischen dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen der Euro-päischen Union sichtbar werden lassen. Längst überwunden

geglaubte Klischees und Stereotype waren auf einmal wieder salonfähig.

Es ist deshalb Aufgabe für uns alle, zwischen den Mitglied-staaten neues Vertrauen aufzubauen. Am 22. Januar 2019 haben wir mit dem unterzeichneten Vertrag von Aachen zwischen Deutschland und Frankreich die Beziehung zu unserem engsten Partner in Europa auf eine neue Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag wurde die bilaterale Zusammenar-beit auf die nächste Stufe gehoben. Während der Elysée-Vertrag von 1963 die Aussöhnung und Begegnung zwischen Deutschland und Frankreich nach zwei Weltkriegen zum Ziel hatte, stellen sich Deutschland und Frankreich nunmehr gemeinsam auf die europa-, außen-, sicherheits-, gesellschafts-und wirtschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit ein. So werden Deutschland und Frankreich mit dem Vertrag Begegnungen und Austausch der Zivilgesellschaft stärker fördern, die Zusammenarbeit in den Grenzregionen zu gemeinsamen zukunftsweisenden Lösungen stärken, neue gemeinsame Strategien entwickeln, um auf ein sich verän-derndes außen- und sicherheitspolitisches Umfeld zu reagie-ren, und vor allem weiterhin gemeinsam für ein starkes Europa eintreten.

Auch in den Osten der Europäischen Union schlagen wir Brücken. 2018 nahm ich das erste Mal am Gipfel der soge-nannten Drei-Meere-Initiative teil. Dieses gemeinsame hoch-rangige Forum von zwölf ost- und südosteuropäischen Ländern zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer dient dazu, Konnektivität, Konvergenz und Zusammenhalt in diesem Teil der Europäischen Union zu fördern. Nicht nur als Ostseean-rainer ist Deutschland ein natürlicher Teil dieser Region. Wir

möchten dieses Format nutzen, um unseren Beitrag zum Zusammenwachsen Mitteleuropas beizusteuern.

EINE VISION FÜR EUROPA: EIN MODERNER EUROPÄISCHER PATRIOTISMUS

Unsere Erwartungen an die Europäische Union sind hoch – zu Recht. Die friedliche Einigung Europas nach der Katastrophe zweier Weltkriege ist eine historisch einzigartige Errungen-schaft. Den Stolz Paul-Henri Spaaks auf diese Leistung kann ich heute noch gut nachvollziehen.

Europa kann aber nicht immer nur die Geschichte von klugen Gründervätern sein, die wir über Generationen nacherzählen.

Wir brauchen heute in Europa neue Geschichten von mutigen Europäerinnen und Europäern. Auf dieses Europa, das für unsere gemeinsamen Werte eintritt, das sozial und solidarisch ist und das Frieden und vertrauensvolle Beziehungen zwischen seinen Mitgliedstaaten garantiert, können wir zu Recht stolz sein.

Ich glaube, dass dieser Stolz der Kern eines neuen europäi-schen Patriotismus sein kann: eines Patriotismus, der sich abgrenzt von der historischen Vergesslichkeit von Populisten und Nationalisten. Ein Patriotismus, der unsere gemeinsamen Werte und Überzeugungen in den Vordergrund stellt und der sich speist aus dem Stolz darauf, dass wir Europäer „die Nutzung von Gewalt, Zwang und Drohungen von [uns]

gewiesen haben.“

Wir können stolz sein auf unser europäisches Modell. Der amerikanische Traum stand traditionell für Freiheit. Der

chine-sische Traum steht heute für Wohlstand. Unser europäisches Modell hingegen verbindet diese Elemente: Europa steht heute in gleicher Weise für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlich-keit, wie es für Wohlstand, Sicherheit und soziale Gerechtigkeit steht.

Die Zukunft Europas liegt auch in den Händen jedes und jeder Einzelnen. Wir alle haben die Möglichkeit, als stolze Europäer und Europäerinnen unseren Beitrag zu leisten, unser gemein-sames Europa stark und souverän zu machen, sodass es für die künftigen Aufgaben gut gewappnet ist. Nutzen wir sie!

E

AUF DEM WEG ZU EINEM SOZIALEN EUROPA: DIE SOLIDARISCHE

ERNEUERUNG EUROPAS

WOLFGANG LEMB

EINLEITUNG

uropa hat gewählt. Ob es in den nächsten Jahren auf dem Weg zu einem solidarischen Europa vorangeht, wird zum einen maßgeblich von der politischen Führung und den Initia-tiven der neuen Europäischen Kommission abhängen. Sie allein hat das Initiativrecht für die Rechtsetzung auf europäi-scher Ebene. Zwar bedeutet das nicht, dass sie im luftleeren Raum ohne Schranken schalten und walten kann. Ihre Gestal-tungsmacht steht aber außer Zweifel. Zum Zweiten wird viel davon abhängen, ob und inwieweit der Rat zu substanziellen Veränderungen seiner bisherigen Politik willens und in der Lage ist. Und nicht zuletzt wird es im Verhältnis der Institu-tionen auch darum gehen, welche Rolle das neu gewählte Parla-ment für sich in Anspruch nimmt und ob sich eine (neue) stabile proeuropäische Koalition findet, die die gestärkte Rechte in die Schranken weisen kann.

EUROPA UNTER BESCHUSS – DEMOKRATISIERUNG ALS ANTWORT

Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, prägte eine Viel-zahl von Krisen die Zeit der Juncker-Kommission. Bei seinem Amtsantritt 2014 befanden sich große Teile der EU in der größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Jahrzehnten. Es folgten Flüchtlingskrise, Brexit und der Handelskonflikt mit den USA. Gegen Ende der Präsidentschaft Junckers glaubte man zumindest die fundamentale, existenzielle Krise der EU – den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU – abge-räumt zu haben. Doch der geordnete Vollzug des Brexit gelang unter Juncker nicht mehr. Das Schauspiel, das sich um die Rati-fizierung des Austrittsabkommens im Parlament des Verei-nigten Königreichs entfaltete, spottet jeder Beschreibung.

Immerhin weiß man nun, was es heißt, eine EU-Mitgliedschaft rückabwickeln zu müssen. Selbst bei EU-Gegnern und Befür-wortern eines Dexit, Frexit, Öxit oder Ixit löste das Chaos bezie-hungsweise die ablehnende Reaktion weiter Teile der europäischen Bevölkerung ein – zumindest strategisches – Umdenken aus. Aus dem Leave-Votum lassen sich allgemeine Lehren für die Zukunft der EU beziehungsweise die Aufgaben der zukünftigen Kommission ziehen. Die Brexit-Entscheidung legt Fehler und Unzulänglichkeiten der „proeuropäischen Kräfte“ in den letzten Jahren insgesamt offen. Statt einer „posi-tiven Erzählung“ setzten die Brexit-Gegner auf eine Negativ-kampagne für den Verbleib in der EU. Das Hauptargument der Befürworter eines Verbleibs – „ohne die EU wird alles viel schlimmer“ – hat nicht vermocht, die Entscheidung maßgeblich zu beeinflussen, also die Befürworter eines Austritts umzu-stimmen oder das Potenzial für einen Verbleib zu mobilisieren.

Deutlich zeigt sich: Es braucht mehr als die Vorteile des Binnenmarktes, um der EU – nicht nur in Krisenzeiten – Legiti-mität zu verleihen. Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors zitierte am 17. Januar 1989 vor dem Europäischen Parlament den Historiker Fernand Braudel:

Es hieße die Menschen schlecht kennen, wollte man ihnen nur diese nüchternen Zahlen vorsetzen, die sich neben dem Enthusiasmus, den keineswegs unvernünftigen Leidenschaften, die das Europa von einst oder gestern mitgerissen haben, so blaß ausnehmen. Kann sich ein europäisches Bewußtsein nur auf Zahlen gründen? Kann es sich ihnen nicht vielmehr entziehen, auf unvorhersehbare Weise über sie hinauswachsen?

Dass man sich nicht in einen „großen Binnenmarkt“ verliebt, wie Delors an gleicher Stelle formulierte, gilt umso mehr, als die Europäische Union bei vielen Menschen heute als Chiffre für die Schatten der Globalisierung steht. In der Lebensrealität steht die EU für zu viele Menschen für Konkurrenzdruck, Standortverlagerungen, Verteilungskonflikte, Lohndumping und entfesselte Marktkräfte zulasten der Beschäftigten. Indivi-duelle Vorteile des Binnenmarktes, dort zu leben und zu arbei-ten, wo man möchte, spielen in der Lebensrealität der meisten Menschen keine so große Rolle, als dass dies entscheidende Argumente für eine aktive Bejahung der europäischen Einigung wären. Es muss nachdenklich stimmen, wenn knapp die Hälfte der Europäerinnen und Europäer dem Eurobarometer zufolge das Gefühl hat, dass ihre Stimme „in Europa“ nicht gehört wird.

Will Europa eine Zukunft haben, muss es den Menschen eine Stimme geben.

Die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger blieben Antworten schuldig in bewegten Zeiten, in denen euro-paweit – aus unterschiedlichsten Gründen – allgemeine soziale Verunsicherung quer durch alle Gesellschaftsschichten herrscht. Die Botschaft, die nicht zuletzt nach den Europa-wahlen aus Brüssel gesendet werden muss, muss lauten: „Wir haben verstanden“. Was Europa braucht, ist mehr Partizipation, mehr Transparenz und mehr Mitsprachemöglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger.

Die Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene müssen durch die Stärkung des Europäischen Parlaments demokrati-siert werden, insbesondere durch das Initiativrecht im Gesetz-gebungsprozess und die Wahl der Kommissare. Aber auch Entscheidungsprozesse im Europäischen Parlament selbst müssen transparenter werden. Die Entscheidungsfindung muss vom Hinterzimmer zurück in die Prozesse des parlamentari-schen Verfahrens zurückkehren.

Die Kommission ist nicht nur Hüterin der Verträge. Schon weil sie bislang das alleinige Initiativrecht für Gesetzgebung auf europäischer Ebene hat, ist sie kein neutraler Akteur. Sie allein setzt in den zentralen Bereichen mit Gesetzgebungsinitiativen die entscheidenden politischen Impulse. Solange sich dies nicht ändert, muss es zur Pflicht der Kommission werden, responsiver auf Initiativen des Parlaments, sprich der von Millionen Europäerinnen und Europäern gewählten Abgeord-neten, zu reagieren. Hierzu braucht es keine Vertragsänderun-gen. Alles, was fehlt, ist der politische Wille.

DEN KLIMAWANDEL GESTALTEN: NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN – INNOVATIONSPOTENZIAL DER INDUSTRIE

Und politischen Willen braucht es. Ob die EU ein Zukunftsmo-dell ist, hängt nämlich insbesondere davon ab, ob es ihr gelingt, die dringenden Zukunftsfragen einer nachhaltigen wirtschaftli-chen Entwicklung zu lösen. Das drängendste Problem der nächsten Jahre und Jahrzehnte, der Klimawandel, ist nicht verhandelbar, aber gestaltbar. Dies löst Transformationspro-zesse aus, die Ängste bei den Menschen hervorrufen. Die Gestaltung der Transformation muss deshalb sozial, ökologisch und demokratisch erfolgen. Voraussetzungen hierfür sind rasche Investitionen in neue Technologien, in eine europäische Infrastruktur und die Verbindung mit guter Industriepolitik.

Von zentraler Bedeutung sind Maßnahmen, die unter starken Nachhaltigkeitskriterien auf höhere öffentliche Investitionen abzielen, die zur Finanzierung der für die Energie-, Verkehrs-und Wärmewende erforderlichen Förderprogramme Verkehrs-und Infra-struktur dringend gebraucht werden. In erster Linie stehen dabei die fiskalpolitischen Regelungen auf europäischer Ebene im Fokus. Der Fiskalpakt gehört grundsätzlich abgeschafft. Die europäischen Regeln zur Haushaltsüberwachung sind sehr viel stärker auf eine Goldene (oder in dem Fall Grüne) Verschul-dungsregel auszurichten, die Haushaltsdefizite zugunsten von Investitionen in nachhaltige Infrastruktur und klimapolitische Förderprogramme zulässt. Ein weiterer Schwerpunkt für einen sozial-ökologischen Politikansatz der EU muss auf der Siche-rung und dem Ausbau guter Industriearbeit hinsichtlich der zu

erwartenden Strukturbrüche in den von der Dekarbonisierung besonders betroffenen Industrien liegen.

Eine zentrale Aufgabe ist deshalb, neben der Gestaltung des anstehenden Wandels die Beschäftigten mitzunehmen. Nach Angaben von Eurostat betrug 2018 der Anteil der Industrie (hier: Verarbeitendes Gewerbe) an der Wertschöpfung in der EU 16,3%. Von 35 Millionen Arbeitsplätzen hängen alleine 15 Millionen direkt und indirekt von der Automobilindustrie ab, 2,5 Millionen von der Stahlindustrie. Also von zwei Branchen, die in besonderem Maße von der europäischen Klima- und Umweltpolitik und der daraus folgenden Transformation betroffen sind. Hierbei ging es in den letzten Jahren allzu oft um hehre Ansprüche und ambitionierte Ziele, viel zu selten aber darum, mit welchen auf der europäischen Ebene gemeinsam abgestimmten Maßnahmen diese Ziele unter Berücksichtigung unterschiedlicher nationalstaatlicher Ausgangssituationen erreicht werden können. Hier besteht dringender Hand-lungsbedarf.

Nur ein sozial-ökologischer Umbau der Industrie eröffnet neue Wachstumspotenziale und sichert die langfristige Zukunftsfä-higkeit von Beschäftigung. Dementsprechend muss eine euro-päische Industriestrategie eine ökologische Modernisierungsstrategie sein, die sich an den Leitlinien Ener-gieeffizienz, Verringerung des Ressourcenverbrauchs und nach-haltiger Mobilität orientiert. Europaweit braucht es eine Kraftanstrengung für den Ausbau erneuerbarer Energien und für innovative Umwelttechnologien. Vor allem Ressourceneffi-zienz und ökologische Nachhaltigkeit bei Material und Energie bergen Produktivitätspotenziale. Dazu muss die Investitionstä-tigkeit des privaten Sektors stärker in die Richtung von

Investi-tionen in den ökologischen Um- und Aufbau gelenkt werden.

Weitere Schwerpunkte müssen Bildung, Qualifikation, Forschung und Entwicklung sowie Infrastruktur sein.

Dringend erforderlich sind eine finanzielle Stärkung der euro-päischen Förderprogramme und Förderbanken und eine Neuausrichtung der Vergabe von Fördermitteln, die sehr viel transparenter und auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet sein muss. Zur Finanzierung müssen der Finanz-rahmen der EU entsprechend umgeschichtet und zusätzliche Eigenmittel generiert werden, beispielsweise über eine europäi-sche Finanztransaktionssteuer oder die europaweite Besteue-rung von Digitalkonzernen. Zu einer entsprechenden Industriestrategie gehört zum anderen aber auch der Schutz von Industriearbeitsplätzen vor einem zunehmend auf Kosten von Arbeit und Umwelt geführten Dumpingwettbewerb um Industriestandorte.

Aber auch aufgrund der handelspolitischen Verwerfungen mit den USA und der zunehmend wichtigen Rolle Chinas im globalen Wettbewerb ist die Industriepolitik auf bundespoliti-scher Ebene mit der sogenannten „Nationalen Industriestrate-gie“ Peter Altmaiers und dem daraus resultierenden deutsch-französischen Manifest wieder stärker in den Fokus gerückt.

Auch der Rat hat die alte sowie die neue Kommission aufgefor-dert, eine Industriestrategie zu entwickeln. Dies ist zu begrüßen und entspricht langjährigen Forderungen der IG Metall. Die Kommission muss sich in ihrer strategischen Ausrichtung darauf konzentrieren, soziale und ökologisch nachhaltige Konsistenz zwischen Industrie-, Wettbewerbs- und Handelspo-litik herzustellen. Ideologisch motivierte WettbewerbspoHandelspo-litik, die lediglich das „Konsumenteninteresse“ des niedrigen Preises

im Blick hat, darf industriepolitische Impulse zum Erhalt strate-gisch wichtiger Wertschöpfungsketten nicht konterkarieren.

VORRANG FÜR SOZIALE RECHTE

Wettbewerbs- und Marktideologie waren es auch, die zu lange das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft, als die die EU seit dem Vertrag von Lissabon auf dem Papier verfasst ist, in den Hintergrund gedrängt haben. Zwar verfügt die EU bereits heute über einen beachtlichen Bestand an sozialen Grundrechten.

Dies, verbunden mit den völkerrechtlich eingegangenen Verpflichtungen, an deren Stelle nur die seit dem 1. Dezember 2009 verbindlich geltende Grundrechtecharta genannt sein soll, reicht jedoch nicht aus, diesen Grundrechten in angemessenem Maße Geltung zu verleihen. Ursache dafür ist neben dem sozialen Gründungsdefizit der EU die „Krisenpolitik“ der letzten Jahre und die damit verbundene Deregulierung mitgliedstaatlicher Sozialordnungen mit Rückgriff auf die EU-Grundfreiheiten. Gerade der Europäische Gerichtshof hat sich immer wieder als Treiber einer Deregulierung zugunsten der freien Marktkräfte auf Kosten der elementaren Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihrer Gewerk-schaften gezeigt. Aber auch die Kommission hat eine unrühm-liche Rolle gespielt.

Immerhin ist eine Hinterlassenschaft Jean-Claude Junckers, dass nach vielen verlorenen Jahren die Sozialpolitik zumindest zurück auf der europäischen Agenda ist. Von einem „Revival des sozialen Europas“ zu sprechen wäre jedoch zu viel des Guten. Wenn man sich die soziale Lage in vielen Mitglied-staaten heute ansieht, so wird deutlich, dass es zu einem

sozialen Europa noch ein langer Weg ist. Umso mehr gilt es, die Etappen zu einem sozialen Europa unter Bündelung aller Kräfte in Angriff zu nehmen. Bei einer zu schaffenden Sozial-union muss es darum gehen, den sozialen Grundrechten Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten zu garantieren.

Nicht zuletzt heißt das, sich von Politiken beziehungsweise Poli-tikvorgaben zu verabschieden, die solidarischen Systemen sozialer Sicherung den Boden entziehen. In einem ersten Schritt könnte als Äquivalent zum Defizitverfahren des Stabili-täts- und Wachstumspaktes und zum makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahren ein Verfahren gegen soziale Ungleichgewichte etabliert werden. Der Verweis darauf, dass Sozialpolitik in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, gilt nur oft genug Gegnern eines sozialen Europas als Alibi-Argu-ment. Dort, wo zum Wohle der Beschäftigten grenzüberschrei-tend gehandelt werden muss, muss auch grenzüberschreigrenzüberschrei-tend gehandelt werden.

Die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) bietet trotz berechtigter Kritik Ansatzpunkte für die Gestaltung einer gesamteuropäischen Sozialpolitik. Die Gewerkschaften hatten sich von der Europäischen Säule sozialer Rechte viel erhofft.

Das betrifft nicht zuletzt die Verrechtlichung sozialer Grund-sätze. Zwar hatte die ESSR die konstitutionelle Asymmetrie zugunsten der auf Primärrecht basierenden Binnenmarktfrei-heiten gegenüber sozialen Grundrechten seit Anbeginn nicht beseitigen können. Dazu hätte es einer Vertragsänderung bedurft. Dennoch ging von ihr vor dem Hintergrund sozialpoli-tischer Verwerfungen ein polisozialpoli-tischer Impuls aus. Ankerpunkte sind nun zum einen sekundärrechtliche Initiativen und zum anderen die Nutzung der 20 Grundsätze im Europäischen

Semester. Das betrifft in erster Linie die Themenkomplexe Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbe-dingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Die Anwendung beziehungsweise Umsetzung dieser Grundsätze in konkrete(r) Politik – das ist Aufgabe der zukünftigen Kommission.

Ein inklusives Wachstums- und Wohlstandsmodell wird die Europäische Union nur mit starken Tarifvertragssystemen sein können. In den letzten Jahren kam es jedoch immer wieder zu einer Politik der staatlichen Eingriffe in die Tarifpolitik unter Missachtung der Tarifautonomie und zu einer Destabilisierung ganzer Tarifvertragssysteme. Entscheidenden Anteil daran hatte die europäische Ebene, in erster Linie über das Instru-ment der „wirtschaftspolitischen Steuerung“ (Economic Gover-nance). Soziale Rechte zur Richtschnur des politischen Handelns zu machen heißt nicht zuletzt, nationale Tarifver-tragssysteme und Lohnfindungsmechanismen zu respektieren.

Hierzu muss sich die neue Kommission verpflichten.

MITBESTIMMUNG IN EUROPA – EUROPA ALS WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE

Kollektive und individuelle Grundrechte der Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer zu respektieren manifestiert sich auch in der Demokratisierung der Wirtschaft. Es ist gelebte Demokratie, in der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen willens und in der Lage sind, Mitwirkungsrechte und Beteili-gungsmöglichkeiten wahrzunehmen, die bestehen oder zu schaffen sind. Die Sozialpartner in der EU haben große Einflussmöglichkeiten auf die rechtliche Rahmensetzung und

die Gestaltung des Arbeitslebens in der EU. Sie können durch Abkommen den Gesetzgebungsprozess gestalten – beziehungs-weise Sozialpartnerabkommen können unter bestimmten Voraussetzungen als Richtlinie Rechtskraft erlangen. In der Vergangenheit sind auf diese Weise wichtige Verordnungen zustande gekommen. In dieses Recht darf nicht eingegriffen werden und die Kommission darf nicht für sich in Anspruch nehmen, über ein materielles Prüfungsrecht zu verfügen (soge-nanntes „Friseurabkommen“).

Wenn es um eine umfassende Europäisierung der Mitbestim-mung als Interessenvertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf allen Ebenen, an allen Standorten und zu Themen, die von grenzüberschreitender Relevanz sind, geht – dann muss sichergestellt werden, dass die nationalen und euro-päischen Rechte auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestim-mung gesichert und gestärkt werden.

Von Initiativen, zum Beispiel im Bereich des Gesellschafts-rechts, die die Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern rechtlich und/oder praktisch im Unternehmen schwächen und einseitig die Kapitalseite bevorteilen, muss die Kommission Abstand nehmen. Vielmehr braucht es im Gegen-teil Impulse, Mitwirkungsrechten Raum und Geltung zu verschaffen. Rechtlich verbindliche Verbesserungen sind zum Beispiel bei der EBR-Richtlinie durch die Verhinderung eines Umgehungsverbotes geboten. Konkrete Pläne hierzu liegen auf dem Tisch. Außerdem bedarf es einer europäischen Rahmen-richtlinie, die hohe Standards zu Unterrichtung und Anhörung sowie ehrgeizige Mindeststandards zur

Von Initiativen, zum Beispiel im Bereich des Gesellschafts-rechts, die die Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern rechtlich und/oder praktisch im Unternehmen schwächen und einseitig die Kapitalseite bevorteilen, muss die Kommission Abstand nehmen. Vielmehr braucht es im Gegen-teil Impulse, Mitwirkungsrechten Raum und Geltung zu verschaffen. Rechtlich verbindliche Verbesserungen sind zum Beispiel bei der EBR-Richtlinie durch die Verhinderung eines Umgehungsverbotes geboten. Konkrete Pläne hierzu liegen auf dem Tisch. Außerdem bedarf es einer europäischen Rahmen-richtlinie, die hohe Standards zu Unterrichtung und Anhörung sowie ehrgeizige Mindeststandards zur

Im Dokument FÜR EIN EUROPA MIT ZUKUNFT (Seite 177-200)