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AKTIVE INDUSTRIE- INDUSTRIE-UND INVESTITIONSPOLITIK

Im Dokument FÜR EIN EUROPA MIT ZUKUNFT (Seite 95-151)

ALS VORAUSSETZUNG

FÜR WIRTSCHAFTLICHE

ENTWICKLUNG, ARBEIT

UND WOHLSTAND

F

DIE WIEDERENTDECKUNG STAATLICHER INDUSTRIE- UND AKTIVER INVESTITIONSPOLITIK FÜR EINE NACHHALTIGE ZUKUNFT – WO

STEHT EUROPA IM GLOBALEN POLITIKWETTBEWERB?

KURT HÜBNER

AUSGANGSLAGE

ür lange Zeit war Industriepolitik ein Anathema.

Nachdem der Begriff „Industriepolitik“ im Laufe der 1980er-Jahre erst politisch und dann auch akademisch diskredi-tiert worden war, wurde es nahezu unmöglich, damit politisch zu werben. Unter dem Ansturm marktradikaler Strömungen war die Idee, wonach Märkte sowohl sozialer Einbettungen als auch politischer Signale und Eingriffe bedürfen, als Ausdruck überkommenen Denkens gebrandmarkt. Warum auch, so das Argument, sollten politische Akteure mehr wissen als Marktak-teure, wenn es um tragfähige und nachhaltige Produktions-strukturen geht? „Picking winners“ wurde zum Synonym für staatliche Interventionen, die zwangsläufig zu Marktstörungen und zur Fehlleitung von Ressourcen führen müssten. In den Worten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung:

Immer dann, wenn der Strukturwandel sichtbar wird und sich technologische Umbrüche abzeichnen, werden die Rufe nach industriepolitischen Eingriffen lauter […]. Oftmals sind die Rufe gepaart mit Hinweisen auf die vermeintlich erfolgreiche Industriepolitik anderer Staaten […]. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, sollte ein Innovationsstandort jedoch auf eine lenkende Industriepolitik verzichten, die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren […]. Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklung verfügt.

Ökonomietheoretisch lässt sich eine solche Aussage schwerlich begründen, ist doch das der Industriepolitik unterliegende Konzept des Marktversagens recht gut etabliert. Spätestens seit den informationstheoretischen Beiträgen in den 19070er-Jahren weiß man auch, dass sogenannte asymmetrische Informationen zu adverser Auswahl führen und als Resultat die berühmten

„markets for lemons“ dominieren können: Weniger „gute“

Produkte und Dienstleistungen machen keinen Platz für „bes-sere“ Angebote. Dies impliziert, dass Volkswirtschaften subopti-male Produktionsstrukturen aufweisen können, weil nicht alle potenziell machbaren Innovationen realisiert werden.

Richtig und empirisch wie theoretisch gut belegt ist freilich auch, dass Märkte und Marktakteure in kapitalistischen Systemen eine enorme Dynamik und rasanten technischen Fortschritt generieren. Marktgetriebener sektoraler Wandel ist fraglos das Merkmal kapitalistischer Regime. Diese Dynamik ist freilich weder Garantie für einen stabilen und nachhaltigen

Wachstumspfad noch für sozial verträglichen sektoralen Wandel. Auch garantiert diese Dynamik keineswegs automa-tisch, dass alle Marktwirtschaften in gleicher Weise von ihr profitieren. Aus analytischer Sicht spricht mithin vieles für industriepolitische Aktionen des Staates.

Nicht alle politischen Einwände gegen staatliche Industriepo-litik sind von der Hand zu weisen. Es ist wohlbekannt, dass staatliche Industriepolitik sektoralen Strukturwandel verhin-dern statt beförverhin-dern kann, insbesondere wenn sie in Gestalt von Erhaltungssubventionen auftritt. Ein gut bekanntes Beispiel sind die weit verbreiteten Subventionen für fossile Energieträ-ger, die den klimapolitischen Strukturwandel zugunsten emissi-onsneutraler Energieformen behindern. Wenn man Industriepolitik als alle staatlichen Eingriffe in sektoralen Strukturwandel definiert, dann lässt sich gut begründen, warum Industriepolitik erstens allenthalben als wirtschaftspoli-tisches Instrument genutzt wird und zweitens als politischer Markteingriff relevant ist. Dies gilt insbesondere auf dem Feld der Innovationspolitik, für das beispielsweise die italienisch-amerikanische Innovationsexpertin Mariana Mazzucato empi-risch gezeigt hat, dass staatliche Aktivitäten eine kritische Rolle für die Ausbildung von Produkt- und Prozessinnovationen spielten. Auch theoretisch gilt, dass spezifische Innovationsty-pen, deren soziale Nettoerträge positiv sind, marktseitig eher suboptimal hervorgebracht werden. Staatliche Eingriffe in das Kosten-Nutzen-Kalkül privater innovatorischer Prozesse können eine solche Unterproduktion vermeiden helfen.

Darüber hinaus kann staatliche Innovationspolitik die Rich-tung innovatorischer Prozesse steuern, was gerade unter

Bedin-gungen globaler technologischer Konkurrenz immer wichtiger wird.

Bereits in einem früheren Beitrag habe ich argumentiert, dass Industriepolitik zwar einen schlechten Ruf hat(te), praktisch-empirisch aber gilt, dass heute alle Volkswirtschaften den einen oder anderen Typus von Industriepolitik praktizieren. Im euro-päischen Kontext gilt dies auch für die Europäische Union (EU), der nach dem Vertrag von Maastricht eigenständige industrie-politische Kompetenzen zustehen. Genannt wird explizit die

„Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemein-schaft“, und in einer der vielen Kommunikationen der Europäi-schen Kommission zur Industriepolitik unter Bedingungen der Globalisierung und des technologischen Wandels heißt es:

It is essential to increase productivity in manufacturing industry and associated services to underpin the recovery of growth and jobs, restore health and sustainability to the EU economy and help sustain our social model. Industry is therefore at centre stage of the new growth model for the EU economy as outlined in the Europe 2020 Strategy.

Freilich ist die EU wie auch jede einzelne Mitgliedsökonomie heute weit von einem sozial und ökonomisch nachhaltigen Wachstumsmodell entfernt.

INNOVATIONSWETTLAUF

Industriepolitik mag in marktliberalen Kreisen ein Anathema sein. Empirisch steht aber außer Frage, dass dieses Instrument stark genutzt wird. Einmal in Form von defensiver

Industriepoli-tik, der es darum geht, technologiegetriebenen sektoralen Strukturwandel zu unterbinden oder jedenfalls zu verzögern.

Aktuelles Beispiel ist die Kohleförderungspolitik der Trump-Administration in den USA, und selbst das Zechenschließungs-programm in Deutschland ist diesem Typus zuzuordnen. Hier geht es vorrangig um den Schutz etablierter Industrien und die Bewahrung bestehender Arbeitsplätze, auch wenn ökonomi-sche Fundamentalentwicklungen solche Sektoren eigentlich obsolet machen.

Anders geartet ist der Typus offensiver Industriepolitik. Hier geht es darum, unter Bedingungen von Risiko und Unsicherheit neue technologische Felder zu eruieren, zu fördern und poten-ziell neue Sektoren und Beschäftigungsverhältnisse zu generie-ren. Dieser Politiktypus kann Marktversagen kompensieren, indem Technologien unterstützt werden, deren potenzielle gesellschaftliche Ertragsrate oberhalb der privaten Ertragsrate liegt. Darüber hinaus kann offensive Industriepolitik Technolo-gie- und Anwendungsfelder propagieren, die vom Privatsektor zu einem gegebenen Zeitpunkt als zu unsicher und zu riskant eingestuft werden. Und schließlich zählen zu Industriepolitik auch aktive Identifizierung und Förderung von Basisinnova-tionen und damit verbundenen potenziellen Produkt- und Prozessinnovationen.

Insbesondere in einer Situation tief greifender technologischer Umbrüche bedürfen Märkte spezifischer Anreize und Einbet-tungen, um alte Wachstumspfade zu verlassen und auf neue Pfade zu wechseln. Eine derartige Konstellation ist heute gege-ben. Getragen von sogenannten General Purpose Technologies (GPTs) und vorangetrieben von neuen Geschäftsmodellen wurden Prozesse in Gang gesetzt, die etablierte Branchen und

Produkte außer Wert setzen und neue Produktionsstandards wie auch neue Produkte und Dienstleistungen einführen. Der durch GPTs erzeugte enorme Anpassungs- und Wechseldruck verlangt vom Unternehmenssektor die Fähigkeit und Bereit-schaft, Marktchancen wahrzunehmen und den technologi-schen Wandel mit organisatoritechnologi-schen Umstellungen und vor allem mit Kreativität zu begleiten. GPTs haben definitions-gemäß ein großes Anwendungspotenzial, und es gilt, dieses Potenzial auszuschöpfen.

Defensive Industriepolitik kann einen solchen Wandel nicht unterstützen. Offensive Industriepolitik, auf der anderen Seite, muss sich stärker mit Formen der Innovationspolitik verbinden und auf diese Weise intelligente Spezialisierungsprofile beför-dern. Marktakteure allein, so die These, können solchen Wandel weder nachhaltig noch sozial und ökologisch verträg-lich gestalten. Nicht alle Varianten offensiver Industriepolitik sind allerdings auf Nachhaltigkeit sowie soziale und ökologi-sche Verträglichkeit ausgerichtet. Meist geht es in der wirt-schaftspolitischen Praxis um die Sicherung von Spitzenstellungen im globalen Innovationswettlauf und nicht um den Übergang zu nachhaltigen Wachstumspfaden.

Europas Position im globalen Innovationswettlauf lässt sich bestenfalls als gemischt beschreiben. Zieht man etwa den Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums heran, der verschiedene institutionelle und politisch-ökonomische Einflussfaktoren der Produktivitätsentwicklung gewichtet, dann finden sich unter den ersten 25 Ländern gleich elf EU-Ökono-mien; freilich rangieren zwölf EU-Mitglieder in der nächsten Abfolge von 26 bis 50, darunter auch eine so große Volkswirt-schaft wie Italien auf Platz 31. Das Innovation Scoreboard der EU

kommt im Report von 2018 zu dem Ergebnis, dass die EU als Block nach Südkorea, Kanada, Australien, Japan und den USA auf Rang 6 liegt. Dort wird auch festgestellt, dass die EU an rela-tiver Innovationsfähigkeit gegenüber China verliert – ausge-hend von einem niedrigen Niveau. Gemischt ist das Bild weiter dadurch, dass es innerhalb der EU große Differenzen in Bezug auf Innovationsfähigkeit gibt. Einer kleinen Gruppe von Innova-tion Leaders (Schweden, Dänemark, Finnland, Niederlande, Großbritannien und Luxemburg) folgt eine Gruppe von Strong Innovators (Deutschland, Belgien, Irland, Österreich und Frank-reich). Etwa die Hälfte der Mitgliedsländer wird demnach als Moderate Innovators eingestuft und Bulgarien zusammen mit Rumänien bilden das Schlusslicht. Diese Heterogenität scheint ein Strukturmerkmal des europäischen Wirtschaftsraums zu sein und verweist auf den exklusiven Charakter des Wirt-schaftsmodells: Eine kleine Zahl von Ökonomien ist ökono-misch-institutionell vorbereitet, Innovationschancen wahrzunehmen, während eine größere Zahl dem Innovati-onszug hinterherfährt.

Diese Diskrepanz reflektiert das Spezialisierungsprofil natio-naler Volkswirtschaften und damit den Charakter der Einbin-dung in die international-europäische Arbeitsteilung.

Europäische Innovationsnachzügler sind meist in supply chains eingebettet, die zwar Aufholprozesse begünstigen, aber eigen-ständige Innovationsanstrengungen nicht befördern. Insgesamt gilt aber auch, dass die EU-Volkswirtschaften sich vorrangig im mittleren Technologiebereich bewegen und dort auch die im internationalen Vergleich, nach Japan, höchsten Forschungs-und Entwicklungsausgaben (gemessen als Anteil am Bruttosozi-alprodukt (BSP)) aufweisen. In den Hightech-Sektoren ist die

EU bereits hinter China zurückgefallen, wie das EU R&D (rese-arch and development) Scoreboard von 2017 zeigt.

Die traditionelle Stärke im mittleren Technologiebereich reicht aber in Zeiten rasanten technologischen Wandels nicht länger aus, um im internationalen Technologiewettlauf mitzuhalten, wie die Europäische Kommission 2018 konstatierte:

[…] compared to their non-EU counterparts, EU companies outperform or perform comparably in size (of R&D and sales) and R&D intensity (ratio of R&D to net sales) for Aerospace & Defence, Automobiles and Pharmaceuticals. But in Biotechnology, Software and IT hardware the EU shows persistent weaknesses in most indicators. The EU gap in these three sectors has widened over the last 10 years.

Diese Befunde können etwas verfeinert werden, wenn man weiter disaggregiert und die Unternehmensebene betrachtet.

Hier zeigt sich seit Langem eine hochgradige Konzentration von Forschung und Entwicklung (F&E) auf eine kleine Zahl von Unternehmen, deren Führungsposition allerdings bestritten wird, und zwar überwiegend von neu entstehenden Technolo-gieführern aus den USA und China.

Wenig gut steht es auch mit den F&E-Ausgaben europäischer Volkswirtschaften. Die EU hat sich bekanntlich ein Ziel von 3 Prozent am BSP gesetzt, ist aber bis heute weit von dieser Marge entfernt. Dies ist besonders bedenklich, wenn man die Anstrengungen von Wettbewerbern betrachtet: Japan und die USA liegen weit oberhalb der EU, und auch China ist dabei, die EU zu überholen. Europa ist unter Innovationsdruck. Wie gut ist der europäische Wirtschaftsraum darauf vorbereitet, mit

technologischen Umbrüchen und verstärkter internationaler Konkurrenz umzugehen?

INDUSTRIEPOLITISCHE PROFILE

In Schumpeterianischer Sicht erfordert erfolgreicher technolo-giegetriebener sektoraler Strukturwandel private Investitionen und Desinvestitionen: schöpferische Zerstörung. Es ist Aufgabe staatlicher Industriepolitik, beide Prozesse zu stimulieren und zu begleiten, indem nicht länger wettbewerbsfähigen Sektoren die Förderung entzogen wird und neu entstehende Prozesse befördert werden. In erster Linie aber sind es marktinduzierte privatwirtschaftliche Investitionen, die die Kapitalakkumula-tion speisen und die Modernisierung der ProdukKapitalakkumula-tionsprozesse vorantreiben. Investitionsentscheidungen sind immer Entschei-dungen, deren Wirkung in die Zukunft reicht, und entspre-chend sind sie beeinflusst von heutigen Erwartungen. In

„normalen“ Zeiten sind Erwartungen meist nicht mehr als Fort-schreibungen der unmittelbaren Vergangenheit. Dies gilt nicht in Zeiten technologischer Umbrüche und ökonomisch-politi-scher Unsicherheiten. Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, dass im Zuge der globalen Finanzkrise die Investitionsquoten, gemessen als Bruttoanlageinvestitionen am Bruttoinlandspro-dukt (BIP), rückläufig waren. Für die EU-28 betrug die Investiti-onsquote im Durchschnitt der Periode 2000 bis 2009 21,4 Prozent; 2010 bis 2014 ging sie dann im Durchschnitt auf 19,7 Prozent zurück. Bis zum Jahr 2018 hat sie nicht wieder das Niveau der Vorkrisenperiode erreicht (20,5 Prozent).

Die Stagnation der privaten Investitionsquote ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht hilfreich für einen beschleunigten

sekto-ralen Strukturwandel. Politische Initiativen, wie etwa der European Fund for Strategic Investments („Juncker-Plan“), setzen an dieser Schwachstelle an, ohne allerdings Durchschlagskraft zu entwickeln, nicht zuletzt wegen einer mangelnden Fokussie-rung auf Kernsektoren. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wurde programmatisch nicht erst mit dem Juncker-Plan als wirtschaftspolitisches Leitbild ausge-rufen. Im Jahr 2010 etwa veröffentlichte die Europäische Kommission die Kommunikation „An Integrated Industrial Policy for the Globalisation Era Putting Competitiveness and Sustainability at Centre Stage“, die nicht weniger versprach als eine Wiederbe-lebung der auch dann als gefährdet angesehenen Wettbewerbs-fähigkeit. Das damit verknüpfte Programmpaket wurde, auch angesichts des geringen Erfolgs, dann 2017 als EU Industrial Policy Strategy erneuert:

[…] in a changing world with increasingly competitive global markets, our industry must adjust and adapt to remain ahead of the curve. This requires modernisation: embracing digitisation and technological change, integrated products and services, the development of less polluting and less energy-intensive technologies, the reduction of waste and investments in a workforce with the right skills.

Solche Ziele sind einfacher formuliert als eingelöst. Letztlich hängt ihre Realisierung von nationalen Sektorstrukturen, dem Tempo sektoralen Strukturwandels und faktischen Innovati-onskapazitäten ab. Nationale ökonomische Strukturen und nationale Politik sind dabei relevanter als EU-Programme, auch deshalb, weil staatliche Politik mehr Kompetenz hat und vor allem mehr fiskalische Mittel mobilisieren kann.

Nichtsdesto-trotz ist die von der EU verfolgte Industriepolitik nicht ohne Belang. Industriepolitik in Europa lässt sich am angemes-sensten als eine spezifische Form von Mehrebenenpolitik beschreiben, bei der Programminitiativen und Instrumentie-rungen von der EU, nationalen RegieInstrumentie-rungen und subnationalen Einheiten wie Bundesländern, Territorien, Provinzen und so weiter eingebracht werden. Wenn die Abstimmung der verschiedenen Ebenen gelingt, dann können EU-Initiativen durchaus relevante Impulse zeitigen. Diese Abstimmung ist aber keineswegs automatisch erfüllt, auch weil sich die natio-nalen Industriepolitiken stark voneinander unterscheiden.

Aiginger und Sieber etwa unterscheiden auf der Grundlage von vier industriepolitischen Instrumenten (Subventionen, Steuer-anreize, Regulationen, Innovationsförderung) sechs industriepo-litische Cluster: ein Cluster kleiner nördlicher Länder (Schweden, Finnland, Dänemark), ein Cluster großer kontinen-taleuropäischer Länder (Deutschland, Frankreich), ein Cluster kleiner kontinentaleuropäischer Länder (Belgien, Österreich, Niederlande), ein Cluster peripher südeuropäischer Länder (Spanien, Portugal, Griechenland) und ein Cluster bestehend aus Großbritannien und Irland. Hinzufügen könnte man ein siebtes Cluster aufholender osteuropäischer Länder. Jedes dieser Cluster weist spezifische Konfigurationen von Instru-menten auf und ist auf je eigene Weise mit EU-Programmen verknüpft. Entsprechend problematisch ist es, von einer euro-päischen Industriepolitik zu sprechen. Und auch innerhalb der Cluster gibt es Varianzen. So hatte etwa die französische Indus-triepolitik über lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal mit ihrer Konzentration auf national champions. Es mag zwar über-zeichnet sein, von einem französischen „dirigisme“ und einem deutschen „Ordoliberalismus“ zu sprechen, wie dies Laurent

Warlouzet vorschlägt, richtig ist aber, dass beide Länder in der Vergangenheit sehr unterschiedliche industriepolitische Konzepte verfolgten. In der deutschen Variante dominierten lange Zeit die Instrumente Subventionen und direkte und indi-rekte Steueranreize wie Innovationsförderungen. In Frankreich interveniert staatliche Industriepolitik direkt in das Marktge-schehen, auch mittels Nationalisierungen, um einige wenige potenziell marktbeherrschende Unternehmen in Schlüsselsek-toren aufzubauen.

Das industriepolitische Panorama wird noch vielfältiger, wenn man außereuropäische Wettbewerber einbezieht. Die USA als globaler Technologieführer verkörpern zwar den Idealtypus eines liberalen Marktkapitalismus, der wesentlich marktgesteuert ist. Trotzdem spielt staatliche Industriepolitik eine zentrale Rolle, vor allem mittels staatlicher Auftragsbeschaffung (public procurement) im Militärbereich sowie durch gezielte Förderung von Grundlagenforschung ausgewählter Universitäten, deren Ergebnisse dann mittels eines innovationsfreundlichen finanz-wirtschaftlichen Umfeldes von privatfinanz-wirtschaftlichen Akteuren aufgenommen wurden. Japan und Südkorea verfolgten über einen langen Zeitraum eine hochgradig aktive Industriepolitik, bei der staatliche Ministerien direkt mit ausgewählten Unter-nehmen kooperierten. In beiden Fällen wurde dieser industrie-politische Ansatz allerdings in den letzten Jahren zurückgefahren und durch eine indirekte und mehr und mehr direkte Förderung der Grundlagenforschung ersetzt, wobei dem Staat eine Koordinations- wie auch eine Lenkungsfunktion zukommt. China wiederum setzt auf seine zentralisierten staat-lichen Kapazitäten, die es erlauben, in technokratischer Manier ambitionierte Ziele zu setzen und mittels direkter

Ressourcen-allokation in Angriff zu nehmen. Das industriepolitische Programm „Made in China 2025“ beabsichtigt nicht weniger, als China bis 2049 zu einem globalen Technologieführer und unabhängig von Technologieimporten zu machen. „Made in China 2025“ soll den ersten Schritt darstellen und das Land in zehn Schlüsseltechnologien in eine Spitzenstellung bringen.

Die chinesische Industriepolitik gibt dabei genau inländische Marktanteile an, die erreicht werden sollen, um Unabhängig-keit und Führungsrolle sicherzustellen. Um diese Margen zu erreichen, optiert der chinesische Staat für eine breite Palette von Technologieimporten, die den heimischen Unternehmen Zugang zu Spitzentechnologien eröffnet.

Die unterschiedlichen industriepolitischen Profile reflektieren zu einem guten Teil spezifische nationale Entwicklungspfade, die sich über lange Zeiträume herausgebildet und verfestigt haben. Nicht alle diese Politikpfade sind allerdings auf die heutigen Herausforderungen fundamentaler technologischer Umbrüche und gleichzeitiger Verschärfung globaler Technolo-giekonkurrenz vorbereitet. Dies gilt insbesondere für die Vari-anten europäischer Industriepolitik, die sich nach wie vor auf den etablierten industriepolitischen Pfaden bewegen und eher defensive als offensive industriepolitische Strategien verfolgen.

AUSBLICK

Industriepolitik ist nicht nur zurück auf der Tagesordnung, sondern auch in der politischen Praxis. In den USA erfolgt Industriepolitik unter dem Banner „America First“. Dieses Projekt ist eine Kombination aus radikaler Deregulierung, handelspolitischem Protektionismus und Unilateralismus sowie

selektiver Förderung industrieller Sektoren wie etwa der Stahl-und Aluminiumindustrien, aber auch vorgelagerter Bereiche wie des Kohlebergbaus. Dieser Typus von Industriepolitik ist vorwiegend defensiv ausgerichtet und versucht, US-amerikani-sche Interessen gegen ausländiUS-amerikani-sche Konkurrenz zu schützen. In Deutschland wiederum hat das Bundesministerium für Wirt-schaft und Energie (BMWi) eine „Nationale Industriestrategie 2030“ vorgelegt, die strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik formuliert. Am angemes-sensten lässt sich dieser Strategievorschlag als französische Wendung interpretieren, da er einen Bruch mit der Tradition deutscher Industriepolitik vorschlägt, indem er die Bildung nationaler und europäischer Champions fördern will. Unter explizitem Bezug auf den disruptiven Charakter heutiger tech-nologischer Umbrüche und zunehmender globaler Technolo-giekonkurrenz wird als Ziel gesetzt, den (im internationalen Vergleich eher hohen) Anteil der Industrie an der Bruttowert-schöpfung in Deutschland auf 25 Prozent auszubauen und in der EU bis 2030 auf 20 Prozent zu steigern. Industrielle und technologische Souveränität soll gesichert werden, indem für die Zukunft kritische Basisinnovationen wie Künstliche Intelli-genz schwerpunktmäßig gefördert werden sollen.

Beide Formen von Industriepolitik wollen auf je eigene Weise die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Volkswirtschaften verbes-sern. Die deutsche Variante ist dabei eher nach vorn gerichtet, während die US-amerikanische Variante eher strukturkonser-vierend ausgerichtet ist. Freilich ist die „Mission-oriented“-Version, wie sie der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier vorschlägt, nicht ohne Probleme. Dieser Typus von Industriepolitik erfordert, so die von Mazzucato resümierten

Erfahrungen, „bottom-up experimentation, and learning, so that the innovation process itself is nurtured through dynamic feedback loops and serendipity“. Eine Förderung nationaler und europäischer Champions ist danach kein erfolgversprechender Schachzug.

Nachhaltigkeit und soziale Inklusion eines neuen Wachstums-pfades erfordern eher eine breite und tiefe Einbettung von

Nachhaltigkeit und soziale Inklusion eines neuen Wachstums-pfades erfordern eher eine breite und tiefe Einbettung von

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