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die Versuchung des Integrismus 1

Im Dokument Die politische Aufgabe von Religion (Seite 80-92)

In der religiös-politischen Gemeinschaft der Muslime führte im Abstand weniger Jahrzehnte nach Mohammeds Tod (632 n. Chr.)2 genau der irdische Erfolg, der als vornehmstes Unterpfand göttlichen Segens galt, also die uner-hört rasche Ausbreitung muslimischer Herrschaft über die Arabische Halb-insel hinaus in die angrenzenden alten Kulturregionen, zu innergemeind-lichen Verwerfungen. Die Rückkehr zu Mohammeds Vorbild bzw. die

»Urgemein de« unter seiner Leitung als ideale und zugleich realisierbare Norm zur Überwindung von Konflikten und »Ungerechtigkeiten« in Gesell-schaft und HerrGesell-schaftsverband begann als Lösung aller Probleme schlecht-hin einen immer wichtigeren Platz im kollektiven Gedächtnis einzunehmen3. Die im Vorstehenden als nicht weiter zu begründende Prämisse impli-zierte Doppelgesichtigkeit der anfänglichen Vergemeinschaftung der Mus-lime als religiöser wie als politischer Organisation bedarf womöglich den-noch einer knappen Erläuterung. In der Umwelt von Mohammeds frühester Verkündigung war die Allianz zwischen politischer Herrschaft und herr-schendem religiösen Bekenntnis der Regelfall, ob in Ostrom, in Armenien oder Äthiopien, im sassanidischen Iran oder dessen zeitweiligem Vorposten Jemen4. Die arabische Halbinsel, bzw. im besonderen Mohammeds Heimat-region Hedschas, existierte, wenn auch in einem gewissen Unterdruck, keinesfalls in einem Vakuum, weder in religiöser noch sonst in irgendeiner

1 Folgende Darstellung rafft und pointiert einen früheren Essay des Verfassers: Vorgebliche Zwillinge: Staat und Religion im Islam, in: Peter PAWELKA (Hg.), Der Staat im Vorderen Orient:

Konstruktion und Legitimation politischer Herrschaft, Baden-Baden 2008 (Weltregionen im Wandel 4), S.127–136.

2 Auch wenn damit eine gewisse Verzerrung einhergeht, werden hier alle Daten nach der Gemeinära zitiert.

3 Hier und im Folgenden werden nur wenige Hinweise auf (tatsächlich) weiterführende Literatur gegeben; vgl. Lawrence I. CONRAD, The Arabs, in: Averil CAMERON u.a. (Hg.), Late antiquity:

Empire and successors, A.D. 425–600, Cambridge 2000 (Nachdruck) (CAH XIV), S. 678–700, bes. S. 678f.; Albrecht NOTH, Früher Islam, in: Ulrich HAARMANN / Heinz HALM(Hg.) unter Mitw. von Monika GRONKE, Geschichte der arabischen Welt, München 52004, S. 11–100.

4 Vgl. CAMERON (Hg.)(PSLUHEHV6±=HǥHYRUBIN, Sassaniden). S. 662–677 (Robert W. THOMSON, Armenien). S. 691f. (CONRAD, Jemen, Äthiopien). S. 811–834 (Pauline ALLEN, The definition and enforcement of orthodoxy). S. 976 (Conclusion).

Hinsicht; einerseits kann so die Übernahme bereitstehender Modelle nicht überraschen, und andererseits legt das schon in frühen Stadien des Korans artikulierte Streben nach arabischer Autonomie – bis hin zur Autarkie – gegenüber nichtarabischen Akteuren, ob in Religion oder Politik, eine auch politische Organisationsform religiöser Gemeindebildung nahe5.

Selbstverständlich soll damit weder einem platten Determinismus das Wort geredet noch die nachmalige muslimische Rezeption der religiös-poli-tischen Frühform des Islams vorweggenommen werden.

Nach diesem Einschub kehren wir zum geschichtlichen Überblick zurück.

Seit der dynastischen Konsolidierung des Umayyadenkalifats gewann die religiös begründete Ablehnung der existenten Machtsysteme zusätz liche Schubkraft aus dem endemischen und periodisch aufflackernden, aus den vorislamischen nahöstlichen Gesellschaften ererbten Chiliasmus6. Dieser manifestierte sich erfolgreich etwa in der oft so genannten abbasi dischen Revolution, dem Umsturz vom Damaszener Kalifat der Umayyaden zur (schließlich) in Bagdad residierenden Dynastie der Abbasiden (Nachkom-men eines Oheims Mohammeds) um 7507. Auch wenn damit chiliastisch erregte Unruhen nicht aufhörten, so waren sie mit der Zeit immer weniger eine Gefahr für das Regime, das sich rasch seiner millenaristischen Anhän-ger entledigte und, zunächst höchst erfolgreich, im Diesseits einrichtete8. Mit der Konsolidierung des Abbasidenkalifats als einer traditionell-vorderorien-talischen Monarchie – in gleichsam sassanidoiden Formen – sank zugleich der Anspruch der Gesellschaft auf Islamkonformität des persönlichen wie politischen Handelns der Herrschenden; vielmehr – und mit dem Zerfall des einheitlichen Kalifats in eine Mehrzahl faktisch unabhängiger und zuneh-mend fremdstämmiger Herrschaften – emanzipierten sich die Untertanen – die »Herde« – in ihrer großen Mehrheit immer stärker von ihren einstmals als heilsnotwendig angesehenen »Hirten«, den Herrschern9. Dominant wur-den Quietismus und Enthaltsamkeit in politicis10; andererseits blieb das quasi utopische Potential der imaginierten Erinnerung an eine längst der

Realge-5 Vgl. CONRAD, The Arabs, bes. S. 684–686, 695.

6 Vgl. Gerald R. HAWTING, Umayyads, in: Hamilton A. R. GIBB / Bernard LEWIS u.a. (Hg.), The encyclopaedia of Islam, Bd. X, Leiden 2000, S. 840a–847b; Josef van ESS, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, 6 Bde., bes. Bd. IV, Berlin 1997, 1041b, s.v.

Chiliasmus.

7 Vgl. Tilman NAGEL, Das Kalifat der Abbasiden, in: HAARMANN / HALM (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, S. 101–165, bes. S. 102–110.

8 Vgl. ebd., S. 110–118.

9 Ira M. LAPIDUS, State and religion in Islamic societies, in: Past & present 151 (1996), S. 3–27;

ders., The separation of state and religion in the development of early Islamic society, in: Inter-national journal of Middle East studies 6 (1975), S. 363–385.

10 Patricia CRONE, Medieval Islamic political thought, Edinburgh 2004; dies., God’s rule. Govern-ment and Islam. Six centuries of medieval Islamic political thought, New York 2004; Ann K.S.

LAMBTON, State and government in medieval Islam, Oxford 1981.

schichte enthobene mohammedische ideale Urgemeinde minoritär, vor allem in marginal(isiert)en Gruppen, lebendig. Für solche hat es bis heute immer wieder eine Versuchung dargestellt, ein theokratisches Ideal – seit etwa einem Jahrhundert oft unter das Motto der (alleinigen) »Souveränität Got-tes« gefasst – im Diesseits zu verwirklichen11.

Mit der hier von der Überschrift an gewählten Terminologie ist eine so klare Positionsbestimmung verbunden, dass es keines ausdrücklichen Hin-weises darauf bedürfte, vielleicht aber einer klärenden Begründung. Jeder Versuch der Errichtung eines uni-normativen – hier: scharia-normativen – Systems gesellschaftlicher und politischer Lenkung endet in Totalitarismus oder Scheitern, bzw. scheitert sofort oder nach totalitären Phasen. Kein isla-mischer Exzeptionalismus vermag das zu ändern – ganz abgesehen von der ihm zugrundeliegenden anthropologischen wie historischen Realitätsverwei-gerung12. Deswegen ist »Versuchung« noch ein milder Ausdruck für etwas, das deutlicher als »Falle« zu benennen wäre. Doch ändert die hier umris-sene prinzipielle Position nichts an der Aufgabe präziser Untersuchung der verschiedenen in der Geschichte vorfindlichen Herrschaftssysteme und poli-tisch-religiösen Ideologien muslimischer Gesellschaften, insbesondere auch ihres Veränderungspotentials. So ist der auf den Fluchtpunkt des Integrismus ausgerichtete politische Islam der Gegenwart ein durchaus plurales, in sich konfessionell und national zerklüftetes wie ideologisch widersprüchliches Phänomenbündel, in dem sich auch pluralistisch-demokratische Ansätze artikulieren13.

11 Vgl. Andreas MEIER, Der politische Auftrag des Islam, Wuppertal 1994, bes. S. 169–215.

12 Die hier behauptete Realitätsverweigerung findet sich trotz aller sonstigen Gegensätze zwi-schen Sunniten und Schiiten in beiden Konfessionen. Wenn bei letzteren die zwölf (bzw. bei Zaiditen oder Ismailiten fünf oder sieben) Imame als »unfehlbar« gelten, so ist doch deren Zeit seit 1200 oder mehr Jahren vorbei, sodass in Khomeinis Lehre von der »Regentschaft des Rechtsgelehrten« als Stellvertretung des entrückten Imams nun dessen Unfehlbarkeit einer beliebigen Zahl »normaler« Menschen zugesprochen werden muss. Da das aufgrund des Mangels unwiderleglicher theologischer Argumente letztlich nur mit der Spitze der Bajonette geschehen kann, sind Konflikte unausweichlich; vgl. Mahmoud SADRI, Sacral defense of secularism: The political theologies of Soroush, Shabestari, and Kadivar, in: International jour-nal of politics, culture, and society 15 (2001), H. 2, S. 257–270. Bei den Sunniten sollte schon die Überlieferung des ersten »Bürgerkrieges« (656–60), unerachtet ihrer dubiosen Historizität, jede vorschnelle Harmonisierung unmöglich machen, denn von einem bestimmten Zeitpunkt an wurden die damaligen Konfiktparteien in ihren konträren und zu blutigen Auseinander-setzungen führenden Entscheidungen und Handlungen als ununterscheidbar »islamkonform«

anerkannt. Da diese »Prophetengenossen« jedoch als nach Mohammed gottgefälligste Men-schen der Geschichte betrachtet werden, liegt in der Berufung auf ihr Vorbild als Garanten einer islamgemäßen Ordnung auch systemimmanent – nicht allein nach externen Kriterien – eine sowohl anthropologische wie historische Realitätsverweigerung; vgl. dazu nochmals NOTH, Früher Islam, bes. S. 73–80, 97–100.

13 Vgl. David L. JOHNSTON, The human Khilâfa. A growing overlap of reformism and islamism on human rights discourse?, in: Islamochristiana 28 (2002), S. 35–53; Gudrun KRÄMER, Vision und Kritik des islamischen Staates, in: PAWELKA (Hg.), Der Staat im Vorderen Orient, S. 167–183;

Wie angedeutet, waren muslimische Gesellschaften seit ihren Anfängen bis heute periodisch der Versuchung des Integrismus ausgesetzt, d.h. der Vor-stellung, alle Bereiche des persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens einem durch »den« Islam ein für alle Mal vorgegebenen umfassenden Normengefüge unterstellen und entsprechend regeln zu können. Auch wenn das darin implizierte Ideal nach Überzeugung seiner Anhänger und Propa-gandisten von der muslimischen »Urgemeinde« unter Führung des Prophe-ten Mohammed in Medina verwirklicht wurde, zeigt die reale Geschichte islamischer Herrschaftsverbände und Staaten seit Mohammeds Tod 632 das rasche Scheitern theokratischer Entwürfe, wo und wann immer sie praktisch durchgesetzt werden sollten. Die Kurzlebigkeit bisheriger Theokratien deutet sich auch in der Islamischen Republik Iran an, wo u.a. die Vorgänge um die Präsidentenwahl 2009 den Übergang zu einer religiös verbrämten Militär-diktatur einzuleiten scheinen14. Vergleichbare »sunnitische« Projekte werden analogen Prozessen unterliegen15 – freilich wird »Kurzlebigkeit« von Mitwelt und Nachwelt zwangsläufig sehr unterschiedlich erlebt und eingeschätzt.

1. Islam und politische Organisation

Die Bedeutung der eben erwähnten »Urgemeinde« in der kollektiven Erin-nerung der Muslime ergibt sich aus der überkommenen orthodoxen Über-zeugung, nach der neben den Koran als von Mohammed unverkürzt verkün-dete letztgültige Offenbarung Gottes an die Menschen bis zum Ende der Welt als zweite – faktisch häufig vorgeordnete – Offenbarungsquelle das norm-setzende Vorbild des Propheten Mohammed (Sunna) tritt; schließlich könne niemand Gottes Willen besser gekannt oder befolgt haben als sein erwählter Gesandter16. Für die kritisch-sachliche Außenwahrnehmung bestehen freilich

dies., Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschen-rechten und Demokratie, Baden-Baden 1999.

14 Vgl. Alessandro TOPA, Die Macht der Wächter, in: Bundeszentrale für politische Bildung, The-PHQ-XQLޒKWWSZZZESEGHWKHPHQ:64'LHB0DFKWBGHUB:(FKWHUKWPOޓ (Zugriff am 14.7.2011); Ali ALFONEH, The revolutionary guard’s role in Iranian politics, in:

Middle East quarterly 15 (2008), H. 4, S. 3–14.

15 Selbst Saudi-Arabien (zu dessen Ideologie des Wahhabismus siehe unten) kann nicht als theo-kratisches bzw. klerikales Regime gelten – was an der realen, sich ebenfalls religiös begrün-denden Repressivität nichts ändert; vgl. David D. COMMINS, The Wahhabi mission and Saudi Arabia, London 2006; Guido STEINBERG, Religion und Staat in Saudi-Arabien. Die wahhabi-tischen Gelehrten 1902–1953, Würzburg 2002; Esther PESKES0XতDPPDGEǥ$EGDOZDKKƗE (1703–1792) im Widerstreit. Untersuchungen zur Rekonstruktion der Frühgeschichte der :DKKƗEƯ\D6WXWWJDUW%HLUXWHU7H[WHXQG6WXGLHQ

16 Vgl. hier nur Michael COOK, The Koran: A very Short Introduction, Oxford 2000 (Very short introductions 13) (Übersetzung: Ders., Der Koran. Eine kurze Einführung, übers. von Matthias

mit beiden »Quellen« Probleme: Das grundlegende der Sunna ist, dass sie textlich so diffus und widersprüchlich überliefert ist wie der Koran eindeu-tig (obwohl wie jeder historische Text auch der Koran seinen Teil an Überlie-ferungsproblemen hat). Für den Koran gilt wiederum, dass er weder theolo-gische Abhandlung noch Gesetzbuch noch gar Verfassung ist; seine Sprache ist mit wenigen Ausnahmen – Personenstands- und Erbrecht, »Gottesstra-fen« (arab. ۉXG€G) – eine Sprache des Appells und ethischer Maximen. Dazu unterwirft er punktuell-subsidiär einer eigenen Normierung nur solche in der Gesellschaft auftretenden ethischen oder juristischen Probleme oder Kon-flikte, die im koranischen Horizont als menschlicher Lösungskompetenz ent-zogen oder sich zu entziehen erscheinen. In allen anderen Fällen behalten die von menschlichen Akteuren entwickelten Normen bzw. Lösungen ihre Gültigkeit. Daher, sowie aus allgemeinen Gegebenheiten der vorislamischen arabischen Gesellschaft und konkret aufgrund Mohammeds unbezweifelter Autorität, kann es nicht verwundern, dass im Koran nahezu keinerlei Aus-sagen zu politischer Organisation zu finden sind. Ein Aufruf zu Gehorsam gegenüber »Gott, seinem Gesandten und denen, die unter euch das Sagen haben«, und andere nachdrückliche Mahnungen bis Drohungen können allenfalls als Reflex auf untergründige Spannungen in der Gemeinde, selbst zu Mohammeds Lebzeiten, gelesen werden17. Zunächst eher als Beschrei-bung denn als Vorschriften für die Gemeinde der Gläubigen sind zwei Sätze formuliert, die in unterschiedlicher Weise bis heute politische Diskurse prä-gen; einer empfiehlt »gegenseitige Beratung«, wie sie in der altarabischen Praxis der Stammesführung üblich war. Seit einiger Zeit wird er – historisch missverstanden – zu koranischer Begründung von republikanischen oder demokratischen Systemen herangezogen. Die andere Devise, »das Anordnen des Billigenswerten und Untersagen des Mißbilligenswerten«18, kann gesell-schaftliches Gewaltpotential religiös begründet aktualisieren und politische Sprengkraft entfalten, denn es liegt auf der Hand, dass Integristen sich zur Diskreditierung ihrer Gegner gern dieses Leitsatzes bedienen; dabei über-sehen sie ebenso gern, in einem wie breiten Spektrum sich die gesellschaft-liche oder politische Umsetzung dieser Norm in der Geschichte bewegt hat.

Wie gerade angedeutet, können nach koranischen Hinweisen innergemeind-liche Spannungen nicht einmal unter Mohammed selbst ausgeschlossen wer-

JENDIS, Stuttgart 2005 [Reclams Universalbibliothek 18232]); ders., Muhammad, Oxford 1983 (Past masters).

17 NOTH, Früher Islam, bes. S. 41–57.

18 Der Übersetzungsmöglichkeiten gibt es ausgerechnet hier, wo Eindeutigkeit zu wünschen wäre, zahlreiche; zur Rezeption in Denken und Handeln der Muslime bis heute vgl. (monu-mental) Michael A. COOK, Commanding right and forbidding wrong in Islamic thought, Cam-bridge 2000.

den, selbst wenn gesellschaftliche Kontrolle in der überschaubaren patriar-chalen Gesellschaft Medinas und die überragende Autorität des Propheten zu einem hohen Maß von Konformität geführt haben19.

Die Realgeschichte muslimischer Gemeinschafts- und Herrschaftsbil-dungen zeigt eben, dass diese gerade in Epochen der Machtentfaltung und

»Blüte«, auf die sich heutige Vertreter des politischen Islams häufig bezie-hen, nicht von übermäßiger gesellschaftlicher Treue zu religiösen Normen gekennzeichnet waren20. Immer wieder hat mangelnde Islamkonformität der Mehrheiten – oder Metropolen – an den Rändern, bei den religiös, poli-tisch, ökonomisch Marginal(isiert)en, zu sich integristisch artikulierenden Aufständen geführt, deren Trägergruppen unter religiösen Devisen nicht zuletzt ihren gerechten Anteil an irdischen Gütern einforderten. Ein rela-tiv rezentes Beispiel dafür ist der Wahhabismus auf der Arabischen Halbin-sel, dessen Entstehung und erste Erfolge im 18. Jahrhundert notabene nicht das Geringste mit ökonomischer oder politischer Durchdringung des Nahen Ostens durch »westliche« Mächte zu tun hatten (diese folgte erst hundert Jahre später). Aber der Wahhabismus ist nur ein Glied in einer bis in die Gegenwart reichenden Kette integristischer Bewegungen bzw. sich auf vor-geblich unbestreitbare religiöse Normen berufender Aufstände; die kom-plexen Herausforderungen der Führung eines rasch expandierenden Groß-reiches – wie jedes Herrschaftsverbandes – führten bereits seit der Mitte des 7. Jahrhunderts, also in weniger als einer Generation nach Mohammed, zu dauerhaft unlösbaren Konflikten innerhalb der muslimischen Gemeinde (arabisch u௘mma). Mehr oder weniger pragmatischen Mehrheiten traten peri-odisch »radikale« Bewegungen gegenüber, die sich im Erfolgsfall ebenfalls veralltäglichten und ihrerseits Angriffsziel neuer rigoristischer Bewegungen werden konnten.

2. Legitime Herrschaftsausübung und Nachfolge

Wie erwähnt, war, wenn nicht realer, so doch als real imaginierter Anknüp-fungspunkt für integristische Bewegungen in der Regel die bereits erwähnte

»Urgemeinde« unter Mohammed und seinen, wie es die Jahrhunderte spätere Kompromissformulierung wollte, vier »rechtgeleiteten« Nachfolgern (»Kali-fen«). Selbst wenn die keineswegs triviale Frage der Zuverlässigkeit unserer Kenntnis von den Verhältnissen dieser »Urgemeinde« einmal beiseite

gelas-19 Zuverlässige außerkoranische Quellen dazu sind kaum vorhanden; an erster Stelle steht der Bündnisvertrag mit den Medinensern (mit Verlegenheitsnamen »Gemeindeordnung«), vgl.

NOTH, Früher Islam, bes. S. 31–40.

20 Vgl. etwa NAGEL, Das Kalifat der Abbasiden, in: HAARMANN / HALM (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, S. 101–165.

sen wird, bleibt als fundamentale Frage, wieweit denn Bedingungen einer prä-urbanen agrarischen, tribalen Kleingesellschaft unter religiös-charisma-tischer Herrschaft auf heutige, u.a. durch Verwissenschaftlichung, extreme Arbeitsteiligkeit, demographische Explosion etc. gekennzeichnete Verhält-nisse übertragbar seien. Dies gilt insbesondere, zumal nach der einzig vor-handenen Überlieferung, der muslimischen, die Einheit der doch angeblich so frommen Gemeinde (Umma) bereits 656 mit der Ermordung des dritten Kalifen zerbrach und bis heute nicht wiederhergestellt wurde21. Der Kon-flikt um die rechte Herrschaftsausübung verband sich mit dem KonKon-flikt um die legitime Nachfolge Mohammeds – Nachfolge unter Ausschluss des Pro-phetenamtes, also abzüglich des Offenbarungsempfangs –, da der Koran darauf keine Antwort gab. Freilich sind die Dissidenten damals und heute eine Minderheit. Die Mehrheit fügte sich schließlich nach vier Jahren Kon-flikt der politischen Fortune und Macht eines Prätendenten von bezweifel-barer religiöser Legitimation. Seinen – noch ein Streitpunkt! – dynastischen, statt nach Verdienst gewählten Nachfolgern, den Umayyaden, gelang es im Verlauf der folgenden Jahrzehnte nicht, dies Manko vergessen zu machen;

vielmehr fand es schlagwortartigen Ausdruck in dem Vorwurf, ihre Herr-schaft sei keine wahre »Nachfolge-StellvertreterHerr-schaft« des Propheten (»Kalifat«), sondern wie die beliebiger Ungläubiger bloßes »Königtum«; das sei überdies Anmaßung, da nur Gott König genannt werden dürfe. Die Aus-einandersetzung um die Islamkonformität der Herrschaftsausübung – bis heute oft zuvörderst der persönlichen Lebensführung der Herrscher – hatte auch in der vorislamisch-altorientalischen, nun religiös überhöhten Auf-fassung vom Herrscher als Hirten seiner Herde ihren Grund, dessen Han-deln nicht nur über das irdische Wohlergehen, sondern auch das jenseitige Heil der Untertanen entscheide. Der Herrscher als Hirte repräsentierte die Umma vor den Menschen und vor Gott, der als eigentliches Oberhaupt der Umma galt. Dennoch kann hier nicht von Theokratie gesprochen werden, denn weder das Kalifat noch ein anderes Amt hatten ein Mandat als auto-ritative, charismatisch begabte Interpreten und Exekutoren von Gottes Wil-OHQ+LHUXQWHUVFKHLGHQVLFK0HKUKHLW±ª6XQQLWHQ©HWZDGHU0XVOLPH – und Minderheit – »Schiiten«; für sie schließt die Nachfolge Mohammeds (»Imamat«), die zudem bestimmten (männlichen) Nachkommen seiner Toch-ter Fatima vorbehalten blieb, genau solche gottgegebene Autorität in geist-lichen und weltgeist-lichen Angelegenheiten ein. Da nun die Reihe der Imame für die Mehrheit der Schiiten mit dem zwölften endete, dessen eschatologische Wiederkunft erwartet wird, fällt wie bei den Sunniten (s.u.) den Religions-gelehrten in der Zeit der »Verborgenheit« des Imams das »Lehramt« zu, das

21 Zur inneren Differenzierung heutiger integristischer Tendenzen vgl. KRÄMER, Vision und Kritik.

in der Regel aber nicht mit dem Anspruch auf politische Macht auftritt. Die Forderung nach der »Regentschaft des Rechtsgelehrten« hat sich, verbunden mit einer Sakralisierung der obersten religiösen Lehrautorität, erst mit Khomeini durchgesetzt; heute herrscht im Iran also tatsächlich eine Theokra-tie, insofern als der »geistliche Führer« auch die oberste staatliche Autorität darstellt. Freilich besteht zugleich zwischen theokratischen und repräsenta-tiv-demokratischen Elementen der Verfassung ein teilweise antagonistischer Dualismus, und schließlich wird mittlerweile – vor allem seit der manipulier-ten Präsidenmanipulier-tenwahl im Juni 2009 – die Verfassungswirklichkeit von weder theo- noch gar demokratisch legitimierten Machtfaktoren wie Revolutions-garden (pâsdârân) oder Milizen (basîj) bestimmt, die einerseits für »geist-liche Führer« und Präsidenten Mittel arbiträrer Herrschaftsausübung sind, andererseits diese für eigene Zwecke manipulieren können.

Die Geschichte des islamischen Iran kennt schon einen früheren theokra-tischen Versuch unter dem Vorzeichen der Zwölferschia (so genannt im Unter-schied zu anderen schiitischen Richtungen, die andere Zahlen von »unfehl-baren« Imamen anerkennen), die Eroberung Irans durch Schah Ismail I.

(Regierungszeit 1501–1524) zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts22. Seine Bewegung, die zu den vorgenannten religiös-politischen »Marginalen-Revolutionen« gehört, hatte als Machtbasis turkmenische Stammeskrieger;

nur in dieser ethnisch-kulturellen Umgebung konnte Ismails Anspruch auf Gottkönigtum auf Zustimmung stoßen und sich machtpolitisch durchsetzen.

Der damit aber sogleich einsetzende Prozess der Entgöttlichung und Entzau-berung führte das Safavidenreich – neben den Osmanen und Großmoguln eines der drei großen islamischen »Feuerwaffenreiche« der Neuzeit23 – bald von einer Theokratie auf den Status eines herkömmlichen vorderorienta-lischen Herrschaftsverbandes zurück; freilich gelang es dem Regime durch Gewalt, Iran mehrheitlich zu schiitisieren.

Im Zusammenhang der Schia sind wenigstens kurz – ausschließlich aus pragmatischen Gründen – auch die »Fünfer« und »Siebener« (»Zaiditen« und

»Ismailiten«) zu erwähnen, deren Geschichte jeweils vergleichbare Margi-nalen-Revolutionen vorzuweisen hat; nach Anfängen in Nordiran konnten die Zaiditen sich seit dem 10. Jahrhundert im Jemen etablieren, wo ihr Ima-mat bis 1962 bestand24. Die Ismailiten konnten sich unter der so genann-ten Fatimidendynastie seit dem frühen 10. Jahrhundert zunächst auf

»Ismailiten«) zu erwähnen, deren Geschichte jeweils vergleichbare Margi-nalen-Revolutionen vorzuweisen hat; nach Anfängen in Nordiran konnten die Zaiditen sich seit dem 10. Jahrhundert im Jemen etablieren, wo ihr Ima-mat bis 1962 bestand24. Die Ismailiten konnten sich unter der so genann-ten Fatimidendynastie seit dem frühen 10. Jahrhundert zunächst auf

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