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eine Institution zwischen Staatspolitik und Religion

Im Dokument Die politische Aufgabe von Religion (Seite 104-124)

1. Einführung

»Deutschland und die Türkei verbinden außerordentlich vielfältige und intensive Beziehungen, die Jahrhunderte zurückreichen«, so heißt es auf der Homepage des deutschen Auswärtigen Amtes1. In Deutschland leben der-zeit ca. 1,8 Millionen türkische Staatsbürger sowie über 700.000 deutsche Staatsbürger mit türkischer Abstammung. Nicht nur auf zwischenmensch-licher, sondern auch auf politischer Ebene sind sie zu einem sichtbaren Teil Deutschlands geworden. Auf der vom deutschen Bundesministerium des Inneren einberufenen Islamkonferenz, die 2006 erstmals stattfand, bilden Vertreter türkischer Verbände sowie Einzelpersonen die Mehrheit der mus-limischen Teilnehmer2.

Damit ist der deutsche Staat mit islamischen Verbänden in den Dialog getreten, um die Entstehung eines Ansprechpartners – analog zu denjenigen der beiden großen Kirchen – auf islamischer Seite zu fördern. Angesichts dieser Entwicklungen ist es an der Zeit, die Gretchenfrage auch an den tür-kischen Staat zu stellen und zu untersuchen, wie seine Beziehung zur Reli-gion aussieht.

Dafür bietet die Untersuchung des Präsidiums für Religionsangelegen-heiten der türkischen Republik (auf Türkisch: 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOÕ÷Õ, abgekürzt Diyanet3) eine gute Möglichkeit, da sie grundlegende Strukturen in der Beziehungsebene zwischen Staat und Religion offen legt.

In meinem Artikel werde ich anfangs die Entstehungsgeschichte der tür-kischen Republik skizzieren, dann auf die Gründung und Zielsetzung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten eingehen. Anschließend werde

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ich die strukturelle Entwicklung sowie das Aufgabenspektrum des Diyanets erläutern. Mit Diskussionsfeldern zu Diyanet sowie einem Fazit werde ich meinen Artikel beenden.

2. Entstehungsgeschichte, Gründung und Zielsetzung

Im Osmanischen Reich war der Sultan religiöses und staatliches Oberhaupt zugleich. Der ùH\KOLVODP4 wurde vom Sultan ernannt, stand an der Spitze des religiösen Verwaltungsapparates und verfügte über religiöse Deutungs-hoheit5.

Nach dem 1. Weltkrieg besetzten die Siegermächte (Großbritannien, Frank - reich, Italien, Griechenland, Armenien und Georgien) die bereits besiegte Türkei. Angesichts dieser Lage und der Handlungsunfähigkeit des Sultans initiierte Mustafa Kemal im Jahre 1919 einen Befreiungskrieg (NXUWXOXú VDYDúÕ), in dem er eigenen Angaben zufolge für die Befreiung des Sultanats und des Kalifats von den Besatzungsmächten kämpfte6. Bereits kurze Zeit später kam es jedoch zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen ihm und der Istanbuler Regierung des Sultans. Mustafa Kemal und seine Gefolgs-leute gründeten daraufhin am 23. April 1920 in Ankara eine zweite Regie-rung und beriefen die große türkische Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi, abgekürzt TBMM) ein7. Bereits am 3. Mai 1920 gründete die Regierung in Ankara ein Ministerium für Scharia und Stiftungswesen8 (ùHUCL\HYH(YNDI9HNDOHWL) und übertrug ihm die Kompetenzen des Amtes GHVùH\KOLVODPV$P-DQXDUJDEVLFKGLH7%00HLQYRUOlXILJHV

»Organisationsgesetz« (7HúNLODWÕ(VDVL\H.DQXQX), das durch die neue Ver-fassung im Jahre 1924 abgelöst wurde9. Das bis dahin gängige Modell des Osmanischen Reiches »Staat und Religion« (din ve devlet) wurde von den Gründungsvätern also – so schien es zunächst – lediglich umstrukturiert und beibehalten.

4 Dieser Begriff existierte bereits im Reich der Seldschuken (1040–1157) als Ehrentitel für Rechts gelehrte. Erst unter den Osmanen wurde dem Amt offiziell eine sowohl religiöse als auch politische Macht zugesprochen. Ab dem 10. Jh. wurde er dann zum drittwichtigsten (nach dem Sultan und dem Großvesir), ab dem 16. Jh. sogar zum zweitwichtigsten Mann im Reich und konnte mit seinen Rechtsgutachten (fetva) zeitweise das politische Geschehen lenken; vgl.

Hasan YAVUZER 'LQL 2WRULWH YH 7HúNLODWODULQ 6RV\RORMLN $QDOL]L 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOL÷L gUQH÷L.D\VHUL6IKLHU6LP,QWHUQHWDEUXIEDUXQWHUޒKWWSZZZ\RNJRYWUޓ letzter Zugriff am 5.7.2011).

5 Vgl. ebd., S. 46f.

6 Vgl. Klaus KREISER / Christoph NEUMANN, Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, S. 397.

7 Vgl. YAVUZER, Dini Otorite, S. 46f.

8 6LHKHޒKWWSZZZGL\DQHWJRYWUJHUPDQWDQLWLPDVS"LG ޓOHW]WHU=XJULIIDP 9 Vgl. KREISER / NEUMANN, Geschichte der Türkei, S. 383f., 398.

Am 29. Oktober 1923 verkündete die TBMM die Gründung einer neuen Republik und nahm am 20. April 1924 ihre neue Verfassung an. Klaus Kreiser zufolge wurde damit das »bis heute radikalste Modernisierungs- und Säkularisierungsprogramm in einem islamischen Land« eingeleitet10. Statt wie bisher eine auf die islamische Gemeinschaft (ümmet) und Religion (din) basierende Ordnung hatte die TBMM die Volkssouveränität (milli hakimiyet) als Verfassungsgrundlage gewählt11.

Das Ausmaß dieser tiefgreifenden Abkehr von bisherigen Traditionen zeichnete sich bereits am 2. November 1922 ab, als die TBMM die Regie-rung des Sultans in Istanbul für nichtig erklärte. Das Kalifat wurde zwei Jahre danach, am 3. März 1924, ebenfalls abgeschafft12.

Am selben Tag verabschiedete die TBMM das »Gesetz Nummer 429 zur Auflösung der Ministerien für Religion und Stiftungswesen sowie für die allgemeinen Streitmächte« (ùHU¶L\HYH(YNDIYH(UNDQÕ+DUEL\HL8PXPL\H 9HNDOHWOHULQLQøOJDVÕQD'DLU1ROX.DQXQ). Aus dem Generalstabsminis-terium wurde das Generalstabspräsidium (*HQHONXUPD\ %DúNDQOÕ÷Õ13) und statt des Ministeriums für Religion und Stiftungswesen das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ('L\DQHW øVOHUL %DúNDQOÕ÷Õ14) sowie das Amt für

10 Vgl. KREISER / NEUMANN, Geschichte der Türkei, S. 397.

11 9JOøúWDU%TARHANLI0VOPDQ7RSOXPªODLN©'HYOHW7UNL\HµGH'L\DQHWøúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ dD÷DOR÷OXøVWDQEXO6

12 Vgl. YAVUZER, Dini Otorite, S. 50f.; siehe ebenso KREISER / NEUMANN, Geschichte der Türkei, S. 383.

13 Die anfängliche Bezeichnung für das Generalstabsministerium lautete: (UNDQÕ +DUEL\HL Umumiye Nezareti.

14 Zunächst wurde das Präsidium für religiöse Angelegenheiten 'L\DQHWøúOHUL5HLVOL÷L und dann ab 1950 'L\DQHWøúOHUL%DúNDQOÕ÷Õgenannt. Siehe TARHANLI, Müslüman Toplum, S. 196; ebenso YAVUZER, Dini Otorite, S. 56. - Zwischen den beiden Begriffen Din und Diyanet gibt es einen Bedeutungsunterschied. Din bedeutet »Religion, Glaube«, wohin gegen Diyanet neben »Reli-gion« auch »Bekenntnis und Sekte« bedeuten kann. Im Alltag sprechen die Türken von Din, wenn sie die Religion meinen. In manchen Gegenden der Türkei wie z.B. in Urfa wird das Prä-sidium, also in abgekürzter Form Diyanet, mit dem Ausdruck Dinayet, also einer Mischung aus Din und Diyanet wider gegeben; wie es zu diesem Ausdruck gekommen ist, müsste erst unter-sucht werden.

In der deutschen Übersetzung geht dieser feine begriffliche Unterschied unter und beide Begriffe werden mit »Religion« übersetzt, obwohl Diyanet ja eine Einschränkung des Din EHGHXWHQNDQQ6LHKHޒKWWSZZZWGNWHULPJRYWUWWDVޓOHW]WHU=XJULIIDP±øVPDLO .DUDEHWRQWLQVHLQHP$UWLNHOGDVVEHUHLWVGLH1DPHQVJHEXQJª'L\DQHWøúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ©VWDWW ª'LQøúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ©GLHVWDUNHLQJHVFKUlQNWHQ.RPSHWHQ]HQGHV3UlVLGLXPVYHUGHXWOLFKH Nur ein Rest der Zuständigkeitsbereiche der Religion (din) seien dem Diyanet zugeteilt, und zwar Kult, Glaubenswahrheiten und religiöse Regeln. Die restlichen Aufgaben hätten andere VWDDWOLFKH%HK|UGHQLQVEHVRQGHUHGDV(U]LHKXQJVPLQLVWHULXP0LOOL(÷LWLP%DNDQOÕ÷ՁEHU- QRPPHQ'DKHUVHLHLQH*OHLFKVHW]XQJGHV'L\DQHWVPLWGHP$PWHGHVùH\KOLVODPVREHU-flächlich und nicht korrekt. Denn Ersteres stelle im Gegensatz zum Letzteren keine religiöse

$XWRULWlWGDU9JOøVPDLOKARA, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten, in: Günter SEUFERT / Jacques WAARDENBURG (Hg.), Turkish Islam and Europe. Europe and christianity as reflected in Turkish Muslim discourse &

Turkish Muslim life in the diaspora, Stuttgart 1999, S. 209–240, hier S. 222f.

Stiftungswesen ((YNDI8PXP0GUO÷) gegründet. Mit dieser Machtauf-teilung bezweckte man, so Hasan Yavuzer, Religion und Streitkräfte von der Politik fern zu halten15.

Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten wurde dem Ministerpräsi-dium angegliedert und über dessen Budget finanziert. Es erhielt die Aufgabe, die Glaubensgrundlagen des Islam, die Pflichtenlehre betreffenden Aufga-ben auszuführen, religiöse Einrichtungen wie Gebetshäuser zu verwalten sowie entsprechendes Personal einzustellen bzw. zu entlassen16.

Hasan Yavuzer hebt hervor, dass die Gründungsväter trotz der Macht-eingrenzung dem neu gegründeten Diyanet große Wertschätzung entgegen-JHEUDFKWKlWWHQ'HUHUVWH3UlVLGHQWGHV'L\DQHWV05ÕIDW%|UHNoLKDEHHLQ den führenden Staatsministern zustehendes Auto mit rotem Kennzeichen, einen höheren Lohn als die restlichen Staatsbeamten sowie einen gewich-tigen Platz im Protokoll erhalten. Dass Letzteres inzwischen nicht mehr zutrifft, bedauert er17.

øVPDLO .DUD GDJHJHQ KHEW GLH GDPLW HLQKHUJHKHQGH (QWPQGLJXQJ GHU Religion hervor. Die Gründung des Diyanets sei eine Instrumentalisierung der Religion durch die republikanische Elite. Sie habe sich darauf beschränkt, die Religion als Legitimation für ihre politischen Ziele und als Mittel zur Beeinflussung der Bevölkerung zu nutzen18.

Dass der Islam seine ehemals bedeutende Stellung im Staat deutlich ein-gebüßt hat, zeigt auch die Verfassung. Denn 1924 wurde der Islam mit dem Ausdruck »Die Religion des Staates ist der Islam« (GHYOHWLQGLQLøVODP¶GÕU) vorerst in die neue Verfassung aufgenommen, 1928 jedoch wieder entfernt.

Stattdessen hielt man 1937 in der Verfassung fest, dass die Türkei ein laizis-tischer Staat sei19.

An der Streichung des Islam-Begriffs aus der Verfassung und der Auf-nahme des Laizismus-Prinzips wird die Abkehr der jungen Republik von ELVGDKLQWUDGLHUWHQ:HUWHQGHXWOLFK)LNUHW$GDQÕUVSULFKWYRQHLQHU=lVXU Der Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal, habe mit seiner Laizismus-Politik das Ziel verfolgt, die Religion ins Private zurückzudrän-gen. Nicht nur staatliche oder politische Bereiche, sondern auch kulturelle Bereiche, ja das Volk selbst sollten »in Form einer Kulturrevolution von oben und hauptsächlich mit administrativen Mitteln« säkularisiert werden20.

15 Vgl. YAVUZER, Dini Otorite, S. 57.

16 Vgl. ebd., S. 55f.

17 Vgl. ebd., S. 56.

18 Vgl. KARA, Behörde im Spanungsfeld, S. 212; siehe auch Günter SEUFERT, Staat und Islam in der Türkei, Berlin 2004 , S. 17.

19 Vgl. TARHANLI, Müslüman Toplum, S. 18; siehe YAVUZER, Dini Otorite, S. 293.

20 Vgl. Fikret ADANIR, Geschichte der Republik Türkei, Mannheim 2005, S. 34; siehe auch YAVUZER, Dini Otorite, S. 61.

Die Gründungsväter fürchteten einen Rückschritt durch eine unkontrol-lierte Einflussnahme der Religion sowie eine Spaltung der Gesellschaft in religiöse und sprachliche Gruppen. Um dies zu verhindern, wurden einer-seits das Laizismus-Prinzip und anderereiner-seits die nationale Einheit als oberste Verfassungsgebote verankert, die es um jeden Preis zu schützen galt, so auch Günter Seufert21.

Bemerkenswert ist hierbei, dass nicht eine ausländische Form des Laizis-mus übernommen, sondern dessen türkische Version kreiert wurde. Diese sollte den sunnitischen Islam verwalten und kontrollieren sowie die Türkei zu einer modernen Gesellschaft umformen. Zu diesem Zweck musste ein sprachlich, religiös sowie kulturell homogenes Türkentum erst erschaffen werden22.

Die Religion war folglich gleichzeitig zu pflegen und zu kontrollieren. Sie war zu türkisieren und gleichzeitig ihrer früheren juristischen und politischen Funktionen zu entkleiden. Politik im Namen der Religion galt es zu verbieten, religiöses Leben mußte beobachtet und gelenkt werden23.

Eine Reform des islamischen Gebets wurde anvisiert, mit der das Arabische durch das Türkische ersetzt werden sollte. Das Türkisierungsbestreben der Gründungsväter führte dazu, dass beispielsweise zwischen 1932 und 1950 der Gebetsruf nur in Türkisch ausgerufen werden durfte – im Jahre 1941 wurden diejenigen, die dem nicht folgten, sogar bestraft24.

Enttäuschungen über das neu errichtete kemalistische System führten dazu, dass sich das Volk Ende der 1940er Jahre vermehrt einem »Volks-islam« zuwandte. Angesichts dieser Situation und einer wachsenden ideo-logischen Gefahr durch den Kommunismus wurde das Laizismus-Prinzip aufgeweicht. An den Schulen konnte man nun auf Wunsch islamischen Reli-gionsunterricht erhalten, der ab 1982 sogar zum Pflichtfach erklärt wurde25. Im Jahre 1950 hob man das Verbot auf, den Gebetsruf arabisch auszu rufen.

Ausbildungsstätten für religiöse Lehrkräfte, insbesondere øPDP+DWLSSchu -len, sowie Insitute für Islamforschung wurden errichtet. Mit der Einführung des Mehrparteiensystems entstanden Parteien, die in ihr Programm eine konservative Islamlinie aufnahmen, um Wählerstimmen zu gewinnen26.

21 Vgl. SEUFERT, Staat und Islam, S. 13.

22 Vgl. ebd.

23 Ebd., S. 12.

24 Vgl. ebd., S. 20; siehe ebenso ADANIR, Geschichte der Republik Türkei, S. 38; KARA, Behörde im Spannungsfeld, S. 209–240, hier S. 210f.

25 Vgl. YAVUZER, Dini Otorite, S. 294.

26 Vgl. TARHANLI, Müslüman Toplum, S. 22–24; siehe auch YAVUZER, Dini Otorite, S. 294.

Die republikanische Elite ließ zu, dass zunehmend islamische Elemente sowohl im Alltagsleben der Bevölkerung als auch in der politischen Sphäre sichtbar wurden. Ende der 1950er Jahre verhärteten sich jedoch die Fron-ten zwischen dem kemalistischen und dem religiösen Lager, was zu hefti-gen Auseinandersetzunhefti-gen führte. Schließunhefti-gen von islamischen Verlahefti-gen und Festnahmen prominenter Persönlichkeiten, u.a. Said Nursis, waren die Folge27. Offensichtlich hatte die Religiösität aus der Perspektive der kemalis-tischen Gründungsväter überhand genommen, was sie in Besorgnis stürzte.

Die Regierungskrise von 1960 gab Anlass zu einer Überarbeitung der Verfassung im Jahre 1961. In diesem Rahmen entbrannte eine Diskussion um die Definition des Laizismus-Begriffes, es bildeten sich zwei Lager: einer-seits die konservativen Kräfte, die einen Laizismus gemäß dem westlichen Modell befürworteten, in dem der Staat sich aus religiösen Belangen heraus-hält, und andererseits die Befürworter einer staatsgebundenen Religionspoli-tik. Die letzteren setzten sich durch:

Diejenigen, die den Laizismus im Rahmen der besonderen Anforderungen der Tür-kei [7UNL\H¶QLQ NRúXOODUÕQD |]J |]HOOLNOHU] verstanden, haben das Präsidium für religiöse Angelegenheiten als ein Organ innerhalb des Verwaltungsapparates ver-teidigt, das religiöse Angelegenheiten organisiert und kontrolliert [düzenleyici ve denetleyici bir organ olarak]. Dagegen haben jene, die die klassische Laizismus-Definition befürworteteten, die Position verteidigt, dass der Staat allen Religionen gegenüber neutral bleiben müsse und es daher kein (Staats-)Organ für religiöse Ange-legenheiten geben werde. Demgemäß ist das Vorhandensein des Präsidiums für religi-öse Angelegenheiten im Entwurf der Verfassung ein Beleg dafür, dass sich der Staat in die Religion »einmischt« [müdahalesinin] und in der Türkei ein »vom Staat abhän-giges Religionssystem« [GHYOHWHED÷OÕGLQVLVWHPL࣠] vorhanden ist [...] das Präsidium für religiöse Angelegenheiten bekam in der allgemeinen Verwaltung den Status einer ver-fassungsmäßigen Institution28.

1961 wurde also die türkische Version des Laizismus, in der der Staat die Religion kontrolliert, in der Verfassung verankert. Aus dieser historischen Entwicklung heraus ist auch die Zielsetzung des Diyanets zu verstehen.

27 Vgl. TARHANLI, Müslüman Toplum, S. 27f.

28 ª/DLNOL÷L 7UNL\H¶QLQ NRúXOODUÕQD |]J |]HOOLNOHU LoLQGH NDEXO HGHQOHU 'L\DQHW øúOHUL

%DúNDQOÕ÷Õ¶QÕQGLQLúOHULQLG]HQOH\LFLYHGHQHWOH\LFLELURUJDQRODUDNGHYOHWLQLGDUL\DSÕVÕLoLQGH

\HUDOPDVÕQÕVDYXQPXúODUGÕU%XQDNDUúÕNODVLNODLNOLNDQOD\ÕúÕQÕVDYXQDQODUGHYOHWLQGLQOHU NDUúÕVÕQGDWDUDIVÕ]NDOPD]RUXQOX÷XQDGD\DQDUDNGLQLúOHUL\OHLOJLOLELURUJDQÕQROPD\DFD÷ÕQÕ

|QH VUPúOHUGLU %X J|UúH J|UH 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOÕ÷Õ¶QÕQ DQD\DVD WDVDUÕVÕQGDNL \HUL devletin dine ´müdahalesinin´ ve Türkiye’de ´devOHWH ED÷OÕ GLQ VLVWHPLQLQ YDUROGX÷XQXQ ELUNDQÕWÕGÕU>«@'L\DQHWøúOHUL%DúNDQOÕ÷ÕJHQHOøGDUHLoLQGHDQD\DVDOELUNXUXPVWDWVQH VRNXOPXúWXU©HEG6I

Dementsprechend beschreibt das Präsidium seine Grundprinzipien und Ziele (temel ilkeler ve hedefler) auf seiner Homepage folgendermaßen:

»Entsprechend des Laizismusprinzips, fern von jedweder politischer Mei-nung und Betätigung, die Einheit und Solidarität der Nation zum Ziel set-zend (Artikel 136)«, führt das Diyanet »die Glaubensgrundlagen des Islams, die Pflichtenlehre und die moralischen Grundsätze betreffenden Aufgaben«

aus, klärt »die Gesellschaft in Fragen der Religion« auf und verwaltet »die Gebetshäuser (Gesetz Nr. 633, § 1)«29.

Als Nächstes soll die strukturelle Entwicklung des Diyanets von seiner Gründung bis heute in groben Zügen nachgezeichnet werden.

3. Strukturelle Entwicklung

Das Gesetz zur Gründung des Diyanets im Jahre 1924 legte zwar fest, dass es sein Budget vom Ministerpräsidium erhalten und ihm unterstellt werden solle, doch enthielt es kaum Aussagen zur Organisations- oder Personal-struktur. Mit dem staatlich zugeteilten Budget sollten lediglich in der Zen-tralregion der Präsident (reis), der Beratungsrat (KH\HWLPúDYHUH) sowie das zentrale Beamtendirektorat (memurin-i merkeziye) und in der Provinzial-region die Muftis30 entlohnt werden. Erst Nachforschungen in Budgetzu-teilungen aus dem Jahre 1925 und danach erlaubten Rückschlüsse auf die damalige Struktur des Diyanets31.

In den ersten Jahren setzte sich das Diyanet wie folgt zusammen: aus Prä-sidenten (reis), Beratungsrat (KH\HWL PúDYHUH), Register- und Beamten-direktorat (memurin ve sicil müdüriyeti), Direktorat für religiöse Ein-richtungen (PHVVHVDWÕ GLQL\\H PGUL\HWL), Direktorat für Akten (evrak

29 ª/DLNOLNLONHVLGR÷UXOWXVXQGDEWQVL\DVLJ|UúYHGúQúOHULQGÕúÕQGDNDODUDNYHPLOOHWoH GD\DQÕúPDYHEWQOHúPH\LDPDoHGLQHUHN$QD\DVDPGøVODP'LQLµQLQLQDQoLEDGHWYH DKODNHVDVODUÕLOHLOJLOLLúOHUL\UWPHNGLQNRQXVXQGDWRSOXPX\GÕQODWPDNYHLEDGHW\HUOHULQL

\|QHWPHN6.PG©ޒKWWSZZZGL\DQHWJRYWUWXUNLVKG\'L\DQHW,VOHUL%DVNDQOLJL 7DQLWLP7DNWLPDVS[ޓOHW]WHU=XJULIIDP

30 Der Mufti ist eine Person, die als oberster Religionsgelehrter eines Verwaltungsbezirkes tätig ist. Den Begriff müfti gibt das Diyanet auf seiner Homepage mit »Superintendent« wieder. In Anlehnung an die christliche Tradition im deutschsprachigen Raum könnte man ihn vielleicht besser mit »Dekan« wiedergeben bzw. ihn im Original stehen lassen, da das Wort »Mufti«

EHUHLWV ZHLWJHKHQG HLQJHGHXWVFKW LVW 9JO ޒKWWSZZZGL\DQHWJRYWUJHUPDQGHIDXOWDVSޓ (letzter Zugriff am 6.7.2011).

31 Das Diyanet hat im Jahre 1999 ein umfangreiches Werk zu seiner eigenen Organisations-geschichte verfasst, mit dem Titel »Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten seit sei-ner Gründung bis heute: Geschichte – Struktur – Dienstleistung und Angebote (1924–1997)

>.XUXOXúXQGDQ *QP]H 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOÕ÷Õ 7DULKoH ± 7HúNLODW ± +L]PHW YH Faaliyetler (1924–1997)]« publiziert durch die Stiftung für religiöse Angelegenheiten der Tür-NHL7UNL\H'L\DQHW9DNIÕ9JO',<$1(7øù/(5,ࡆ%$ù.$1/,.XUXOXúXQGDQ*QP]H'L\DQHW øúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ7DULKoH±7HúNLODW±+L]PHWYH)DDOL\HWOHU±$QNDUD6

müdüriyeti), Direktorat für Anschaffungen (OHYD]ÕPPGUL\HWL) sowie aus den Mufti-Ämtern (müftilik).

Abbildung 132: Das Diyanet in seiner Anfangsphase

Im Jahre 1935 wurde erstmals ein »Gesetz Nummer 2800 über die Organi-sation und Pflichten des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten« (Diyanet øúOHUL5HLVOL÷L7HúNLODWYH9D]LIHOHUL+DNNÕQGD6D\ÕOÕ.DQXQ) verabschie-det, das die Struktur sowie Aufgaben des Präsidiums festlegte33.

Ein weiteres Gesetz im Jahre 1950, das »Gesetz Nummer 5634, um am Gesetz über die Organisation und Pflichten des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten einige Änderungen vorznehmen« ('L\DQHWøúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ 7HúNLODW YH 9D]LIHOHUL +DNNÕQGD .DQXQGD %D]Õ 'H÷LúLNOLNOHU <DSÕOPDVÕQD 'DLU6D\ÕOÕ.DQXQ) änderte seine Struktur und Aufgaben.

32 Vgl. DIYANET.XUXOXúXQGDQ*QP]H'L\DQHW6

33 9JO øUIDQ YÜCEL 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOÕ÷Õ LQ %HNLU723$/2ö/8 (Hg.), Dârüssaâde – 'XONDGLUR÷XOODUÕøVWDQEXO6±KLHU6IVLHKHHEHQVRTARHANLI, Müslüman Toplum, S. 111f., und Nail ASLANPAY 'L\DQHW øúOHUL %DúNDQOÕ÷Õ .XUXOXúX dDOÕúPDVÕ YH

%LULPOHULQLQ7DQÕWÕOPDVÕ$QNDUD6

Mufti-Ämter Register- und

Beamtendirektorat

Beratungsrat Präsident

Direktorat für Akten

Direktorat für Anschaffungen Direktorat für religiöse

Einrichtungen

Organisationsstruktur des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten

(1924–1927)

Seine verfassungsgemäße Verankerung als Institution im staatlichen Verwaltungsapparat erfolgte erst mit der Verfassungsänderung von 1961.

Bereits vier Jahre danach, also im Jahre 1965, erließ das türkische Parla-ment das bis heute umfassendste »Gesetz Nummer 633 über die Organisa-tion und Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet øúOHUL%DúNDQOÕ÷Õ.XUXOXúYH*|UHYOHUL+DNNÕQGDNL6D\ÕOÕ.DQXQ)«. Nach einer langen Beratungsphase wurde im Jahre 1979 ein weiteres Gesetz verab-schiedet, das das frühere Gesetz Nummer 633 ergänzen und weitgehend ver-ändern sollte. Dieses Gesetz überlebte nur ein Jahr, denn es wurde vom tür-kischen Verfassungsgericht für nichtig erklärt34.

Danach wurden keine weiteren Gesetze zur Struktur des Diyanets ver-abschiedet. Auf seiner Homepage beklagt das Diyanet noch heute dieses Defizit. Die derzeitigen Gesetze würden »weder Antworten auf die Heraus-forderungen seiner heutigen Organisationsstruktur noch auf die seiner ange-botenen Dienstleistungen geben können«35.

Das Präsidium hat offensichtlich eigene Wege gefunden, mit diesem Defi-]LWXP]XJHKHQøúWDU%7DUKDQOÕNULWLVLHUWGDVVGDV'L\DQHWMHQDFK%HGDUI Verwaltungsverordnungen erlasse, um so sein Kompetenzdefizit – selbst keine Gesetze erlassen zu können – zu überbrücken und die notwendigen ins-titutionellen Rahmenbedingungen selbst zu schaffen. Das sei gesetzeswidrig, da die Behörde anders als die Ministerien nicht den Status einer öffent lichen juristischen Person (NDPXW]HONLúL) innehabe. Hier sieht sie die Gefahr einer politischen Einflussnahme:

Mit einem Verwaltungsorgan, das sich fern von gesetzlichen Verordnungen auf der Grundlage der Verfassung befindet und dessen Probleme in der Praxis mit inner-institutionellen Regelungen und Verwaltungsverordnungen gelöst werden, bietet es gute Optionen für politische Einflussnahme36.

34 Vgl. DIYANET .XUXOXúXQGDQ *QP]H 'L\DQHW 6 VLHKH DXFKYAVUZER, Dini Otorite, S. 59–61, und TARHANLI, Müslüman Toplum, S. 159.

35 ªJHUHN%DúNDQOÕ÷ÕQEXJQNWHúNLODW\DSÕVÕQDYHJHUHNVH\UWW÷KL]PHWOHUHFHYDSYHUHPH]

GXUXPGDGÕU©ޒKWWSZZZGL\DQHWJRYWUWXUNLVKG\'L\DQHW,VOHUL%DVNDQOLJL7DQLWLP7DNWLP DVS[ޓOHW]WHU=XJULIIDP'LHVHU$UWLNHOZXUGHYRUGHP-XOLHUVWHOOW)ROJ-lich konnte auf die Änderung des Gesetzes mit der Nummer 633, mit der die TBMM auf die Bedürfnisse des Diyanets einging und eine Umstrukturierung vornahm, kein Bezug genom-men werden.

36 ª$QD\DVD KNP JHUH÷L YDUROPDVÕ JHUHNHQ NDQXQL G]HQOHPHGHQ \RNVXQ ELU LGDUL ELULPLQ X\JXODPDGD NDUúÕ NDUúÕ\D ROGX÷X VRUXQODUÕQ NXUXPLoL G]HQOHPHOHU YH \UWPH LúOHOHUL\OH o|]POH\H oDOÕúPDVÕ\OD VL\DVL HWNLOHUH WP\OH DoÕN RUWDPODU \DUDWÕODELOPHVL UDKDWoD

36 ª$QD\DVD KNP JHUH÷L YDUROPDVÕ JHUHNHQ NDQXQL G]HQOHPHGHQ \RNVXQ ELU LGDUL ELULPLQ X\JXODPDGD NDUúÕ NDUúÕ\D ROGX÷X VRUXQODUÕQ NXUXPLoL G]HQOHPHOHU YH \UWPH LúOHOHUL\OH o|]POH\H oDOÕúPDVÕ\OD VL\DVL HWNLOHUH WP\OH DoÕN RUWDPODU \DUDWÕODELOPHVL UDKDWoD

Im Dokument Die politische Aufgabe von Religion (Seite 104-124)