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Das Staatsverständnis im Islam heute

Im Dokument Die politische Aufgabe von Religion (Seite 124-144)

Gibt es eine islamische Demokratie?

1. Einleitung

Spätestens seit den Ereignissen in Tunesien und Ägypten im Januar und Februar 2011 ist offensichtlich, dass sich der Nahe Osten im Umbruch befindet.

Der »Arabische Frühling« zeigte in den Medien Bilder von demonstrierenden Menschen, die Freiheit und Demokratie, Gleichheit, Pluralismus und neue Verfassungen forderten. Westliche Beobachter, aber auch lokale Intellektuelle sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob diese islamischen Staaten tatsächlich fähig sind, demokratische Systeme zu errichten. Ist hierfür eine Trennung von Staat und Religion, eine Säkularisierung, erforderlich, oder sind Islam und Demokratie kompatibel? Wie soll nach Ansicht von mus limischen Intel-lektuellen der islamische Staat aussehen und wie demokratisch kann er sein?

Ziel des folgenden Beitrages ist, zunächst kurz die westliche Position zur Frage der Demokratietauglichkeit des Islam herauszuarbeiten, um so die (gängigen) Vorurteile bzw. Missverständnisse zu veranschaulichen. Im Fol genden werden dann einige exemplarische Ansichten von muslimischen Politikern und Intellektuellen aus verschiedenen Staaten zum Thema Islam und Demokratie vorgestellt, die einen Einblick in das sich differenzierende Demokratieverständnis gewähren.

Als Hauptteil stellt der Aufsatz das Staatsverständnis von drei unter-schiedlichen muslimischen / islamistischen Intellektuellen sowie der Mus-limbruderschaft vor. An erster Stelle ist hier die Staatstheorie des indischen

*HOHKUWHQ6D\\LG$Enjޏ$OƗ0DZGnjGƯ±]XQHQQHQGHVVHQ6WDDWV-vorstellung als für Traditionalisten repräsentativ gewertet werden kann. Der ]ZHLWH 9HUWUHWHU ণDVDQ DW7XUƗEƯ JHE FD JLOW DOV GHU 'HQNHU KLQ-ter dem aktuell im Sudan existenten islamischen staatlichen System, wäh- UHQGGHUGULWWH'HQNHUGHU7XQHVLHU5ƗãLGDOƤDQQnjãƯJHEDOVEHL-spielhafter Vertreter für die aktuelle Lage in der arabisch-islamischen Welt zu werten ist. Die Muslimbruderschaft – hier am ägyptischen Beispiel dar-gestellt – dient dazu, herauszustellen, wie stark unterschiedliche Auffassun-gen auch innerhalb geschlossener Gruppen in der islamischen Welt verbrei-tet sind. Zu diesem Zweck zeigt der Beitrag sowohl das Staatsverständnis des

*UQGXQJVYDWHUV GHU 0XVOLPEUGHU ণDVDQ DO%DQQƗ ± DXI DOV auch jenes von neueren Mitgliedern und Führungskräften der Gruppe.

2. Westliche Islamforscher zum Thema:

Ist der Islam demokratiefähig?

Wendet man sich dieser Frage zu, lassen sich zwei Kernpositionen unter den Islamwissenschaftlern herausarbeiten, insbesondere wenn dabei auch isla-mische / islamistische Gruppen einbezogen werden. Die eine Seite – reprä-sentiert unter anderem von Bernhard Lewis und Martin Kramer sowie Judith Miller – warnt den Westen vor sämtlichen islamisch gefärbten Bewegungen und ruft zum Widerstand gegen diese auf. Ihrer Ansicht nach sind der Wunsch nach Demokratie und Pluralismus lediglich Rhetorik, welche die militante Haltung von Reformbewegungen überspielen soll. So formuliert Judith Miller wie folgt:

Western governments should be concerned about these movements and, more impor-tant, should oppose them. For despite their rhetorical commitment to democracy and pluralism, virtually all militant fundamentalists oppose both. They are, and are likely to remain, anti-Western, anti-American, and anti-Israel1.

Der Islam bzw. seine Denker sind als vom Grundsatz her gegen den Westen, die Demokratie und daher als Feinde anzusehen bzw. der militante Islam ist so stark, dass sich liberale und gemäßigte Kräfte nicht durchsetzen können;

ihnen fehlt das Wissen, ihre Ansichten effektiv kämpferisch durchzusetzen, so Lewis / Kramer2.

Von dieser Haltung unterschieden gibt es jedoch auch westliche Islamfor-scher, welche durchaus die Chance auf Demokratisierung des Islam sehen.

Diese gehen, wie William Zartman, davon aus, dass der Koran unterschied-lich interpretiert werden könne und somit als Basis für verschiedene poli-tische Systeme dienen könne. So sieht Zartman auch die Möglichkeit zu einer Synthese von Islam und Demokratie und bietet darauf aufbauend drei Maß-nahmen zur Demokratisierung der islamischen Welt an, nämlich: »Practice the forms of democracy whenever scheduled, let the most popular win, and let them learn democracy on the job«3.

Diese Position einer Demokratisierung der islamischen Welt durch eine Rein-terpretation des Koran wird ebenso von John Esposito und James Piscatori in

1 Judith MILLER, The challenge of radical Islam, in: Foreign affairs 72 (1993), Nr. 2, S. 34–55, hier S. 54f.

2 Zu Martin Kramers Ansicht siehe: Martin KRAMER, Arab awakening and Islamic revival, New

%UXQVZLFN%HLVSLHOHIU%HUQKDUG/HZLVૅ3RVLWLRQILQGHQVLFKXQWHU%HUQKDUGLEWIS, Islam and liberal democracy, in: Atlantic monthly 271 (1993), S. 89–98, und ders., Political language of Islam, Chicago 1988.

3 I. William ZARTMAN, Democracy and Islam: the cultural dialectic, in: Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 524 (1992), S. 190–192, hier S. 191.

ihrem Werk Democratization and Islam vertreten. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass auch im Westen zunächst eine Reinterpretation der göttlichen Texte von Nöten war und dass dieser Prozess grundlegend für das heutige Staatsverständnis ist. Ihrer Ansicht nach ist der Islam offen für diverse Interpre-tationen, wobei insbesondere fundamentalistische Denker bereits begonnen haben, den Islam mit Demokratie und Liberalismus in Einklang zu bringen4.

Die westliche Forschung vertritt also zwei diametral entgegengesetzte Positionen zu den Chancen der islamischen Welt auf ein demokratisches Staatsverständnis und dessen Umsetzung, doch wie sehen es die Mus-lime selbst? Ist der Gegensatz zwischen Islam und Demokratie tatsächlich unüberbrückbar oder handelt es sich hierbei nicht vielmehr um unterschied-liche Begriffsdefinitionen?

3. Islamische Denker und Politiker:

Exemplarische Ansichten zu Islam und Demokratie

Democracy is a vital need of today’s mankind, including Iran. In my opinion democ-racy has only one alternative that is, seeking self interests. And no one would choose seeking self-interests over democracy. If I were to summarize the roots and essence of the people’s reformist movement for the past 1000 years, I would say that the move-ment is aimed at the establishmove-ment of democracy5.

Diese Aussage machte der religiöse Führer, Großayatollah Khatami, wäh-rend einer Rede vor Tehraner Studenten im Dezember 2001. Der religiöse Repräsentant des iranischen Gottesstaates als Befürworter einer Demo-kratisierung weltweit? Dies erscheint paradox, doch genau hier ergibt sich die Frage, von welcher Art der Demokratie die Rede ist. So publizierte ein ZHLWHUHULUDQLVFKHU'HQNHUGHU*HOHKUWH0RKDPPHG0RۜWDKLGâDEDVWDULLP Juni 2002 einen Text zum Thema Religiöse Demokratie: aus welchem Blick-winkel?. Dabei stellen sich für den Autor zwei Kernfragen, ob das Leben in einem demokratischen Regierungssystem besser zur Religion der Muslime passe als das unter einem totalitären und despotischen Regime bzw. ob die Einführung eines demokratischen Systems kompatibler mit dem islamischen Glauben sei als andere Regierungsmethoden6.

4 Vgl. John L. ESPOSITO / James PISCATORI, Democratization and Islam, in: Middle East Journal 45 (1991), S. 427–440.

5 Mohammed KHATAMI, Speech delivered at the annual meeting with university students, Islamic Republic News Agency (IRNA), Teheran, 23.12.2001.

6 9JO0RKDPPHG0RۜWDKLGŠABASTARI, Religious democracy: from which angle?, in: Nowruz (Teheran) 2, 350, 18.06.2002.

Hier zeichnet sich ab, dass Demokratie an sich als Staatsform kein Pro-blem für islamische Intellektuelle – selbst aus dem iranischen Gottesstaat

± LVW $OOHUGLQJV JLEW HV GDEHL HLQH .HUQEHGLQJXQJ GLH VLFK EHL âDEDVWDUL andeutet: Die moralischen und ethnischen Wurzeln des Islam dürfen nicht angetastet werden. Konkret bedeutet dies, dass Demokratie nur dann existie-ren kann, wenn dabei die Scharia nicht verändert oder beeinträchtigt wird.

Repräsentativ für die islamische Geistlichkeit, die ҵ8ODPD, formulierte der SDNLVWDQLVFKH5HOLJLRQVJHOHKUWH0XKDPPDGâDILޏ8৮PƗQƯGLH3UREOHPDWLN der Anwendung westlicher Demokratie wie folgt: »Western style democracy confers on the citizens the ability to debate the very foundations of a society and polity«, also die Scharia, welche jedoch als Gottes Gesetz unabänderlich gültig ist und zu deren Änderung der Mensch niemals autorisiert ist7.

Dies führt zum Kernthema des islamischen Staatsverständnisses insge-samt. Alle drei angeführten Beispiele zeigen, dass muslimische Gelehrte vom Grundsatz nichts gegen Demokratie und einen demokratischen Staat haben, sofern dieser sich den ethischen und moralischen Grundsätzen des Islam respektive der Scharia unterwirft.

Gudrun Krämer zeigt in ihrem Werk Gottes Staat als Republik, dass die Mehrheit der muslimischen Intellektuellen, sowohl der säkular als auch der religiös Gebildeten, den Staat bzw. die in ihm lebenden Menschen nur als Stellvertreter Gottes ansieht. Abgeleitet aus Koran und Sunna liegt eine all-gemeine Stellvertreterschaft der Menschen für Gott auf Erden (DOLVWېOƗI DOҵDPP) vor, welche Rechte und Pflichten gegenüber Gott beinhaltet8. Dem-nach ist der islamische Staat als religiös-weltanschaulicher Staat (dawla ILNUL\\D GDZOƗW DOҵDTƯGD) und als politisches Gemeinwesen zu definieren und basiert auf dem Gedanken der Stellvertreterschaft9.

Wie genau dieses Konzept der Stellvertreterschaft der Staaten / Menschen für Gott aussehen soll, variiert bei den diversen Intellektuellen. Zumin-dest den sunnitischen Gelehrten ist gemein, dass sie ihre Staatstheorien im Wesentlichen auf zwei Koranstellen begründen, die Suren 4,61 und 4,62, sowie der Prophetentradition, welche sich mit dem politischen System befas-sen (DQQL]ƗPDVVL\ƗVƯ). Hans Georg Ebert weist daraufhin, dass sich hie-raus drei Möglichkeiten zum Verständnis der islamischen Staatslehre für muslimische Intellektuelle ergeben: a) die klassische islamische Staatsidee, beruhend auf den in Koran und Sunna formulierten und auf die Herrschaft des Propheten bezogenen Prinzipien, b) dasselbe Kernprinzip mit Hinzu-nahme der grundlegenden Thesen der islamischen Staatstheoretiker z.B. zum Thema Kalifat, und schließlich c) die Ablehnung einer auf Koran und Sunna

7 0XKDPPDGâDIƯޏ870Ɩ1Ʈ1LID঎LãDULޏƗWZDUXVNHPDVDގƯO.DUDFKL6I±

8 Vgl. Gudrun KRÄMER, Gottes Staat als Republik, Baden-Baden 1999, S. 198.

9 Vgl. ebd., S. 163.

beruhenden islamischen Staatsidee10. Anhand der folgenden vier Beispiele dreier führender Intellektueller sowie der Muslimbruderschaft wird das bis-her Gesagte durch konkrete Beispiele verdeutlicht, wobei die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten sichtbar werden.

4. Das Staatskonzept moderner Intellektueller im Orient

Der folgende Teil stellt in chronologischer Reihenfolge das Staatskonzept von drei führenden islamischen Intellektuellen sowie der Muslimbruder-schaft vor, wobei zunächst eine Kurzbiografie der Persönlichkeiten voran-gestellt wird. Die Auswahl der Gelehrten erklärt sich aus ihrer Bedeutung IU GLH 'HEDWWH XP GHQ LVODPLVFKHQ 6WDDW LP -DKUKXQGHUW 0DZGnjGƯ DOV ª9DWHU© GHV LVODPLVFKHQ 6WDDWHV LP 6XGDQ DW7XUƗEƯ VRZLH DOV 5HSUl-sentant für die aktuelle Umbruchsituation in der arabisch-islamischen Welt DOƤDQQnjãƯ'LH0XVOLPEUXGHUVFKDIWHUJlQ]WGDV%LOGGDVLFKXQWHULKUHQ Führungsmitgliedern unterschiedliche Theorien zum islamischen Staatsver-ständnis finden, welche den dauernden Prozess dieser innermuslimischen Debatte verdeutlichen.

6D\\LG$Enjޏ$OƗ0DZGnjGƯ,VODPLVFKH/HEHQVZHLVH .XU]ELRJUD¿HYRQ0DZGnjGƯ

0DZGnjGƯ ZXUGH DP LQ $ZUDQJDEDG ,QGLHQ JHERUHQ XQG VWDUE am 22.9.1979 in Buffalo, New York. Er entstammte einer hoch angesehenen sunnitischen Familie. Da der Vater anti-britisch eingestellt war, erhielt 0DZGnjGƯGXUFK3ULYDWXQWHUULFKWHLQHWUDGLWLRQHOOHUHOLJL|VH(U]LHKXQJ1DFK GHP7RGGHV9DWHUHQWVFKLHGVLFK0DZGnjGƯIUHLQH.DUULHUHDOV-RXUQDOLVW und schloss sich zugleich der Kalifats-Bewegung an, welche nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den Fortbestand des Kalifats forderte. Der Zusam-menbruch dieser Bewegung mit der offiziellen Deklaration des Endes des .DOLIDWV IKUWH ]X HLQHU LQWHOOHNWXHOOHQ .ULVH 0DZGnjGƯV GLH LKQ DE 1928 zum Ausformulieren seiner reformerischen Positionen veranlassten.

$EHQJDJLHUWHVLFK0DZGnjGƯLP5DKPHQGHU'LVNXVVLRQXPHLQHQLQGL-schen / hinduisti$EHQJDJLHUWHVLFK0DZGnjGƯLP5DKPHQGHU'LVNXVVLRQXPHLQHQLQGL-schen Staat und einen eigenen muslimi$EHQJDJLHUWHVLFK0DZGnjGƯLP5DKPHQGHU'LVNXVVLRQXPHLQHQLQGL-schen Staat politisch XQGZDUELV9RUVLW]HQGHUGHUUHIRUPHULVFKHQ3DUWHLۛDPƗޏWL,VOƗPƯLQ Lahore. Diese Aktivitäten brachten ihm mehrere Haftstrafen (1948–1950 und

10 Vgl. Hans Georg EBERT, Die Interdependenz von Staat, Verfassung, Islam im Nahen und Mitt-leren Osten in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 23.

1953–1955) und sogar ein Todesurteil (durch Begnadigung aufgehoben) ein.

Gemäß seiner Überzeugung, dass in Pakistan nur eine Theokratie oder ein GHPRNUDWLVFKHV.DOLIDWDOV6WDDWVIRUPJHOWHQGUIHHUNDQQWH0DZGnjGƯQXU GDV0LOLWlUUHJLPHYRQ*HQHUDO=L\ƗDOণDTTDQGLH0DFKWJHSXWVFKW an, da es eine Islamisierung Pakistans propagierte.

'DV.RQ]HSWGHVLVODPLVFKHQ6WDDWHVQDFK0DZGnjGƯ

0DZGnjGƯYHUWULWWGLH$QVLFKWGDVVHLQHLVODPLVFKH*HVHOOVFKDIWQXULQHLQHP islamischen Staat existieren könne, der auf dem Willen Gottes basiere. Der von ihm entworfene Staat beruht entsprechend auf vier grundlegenden Quel-len: dem Koran, der Sunna, den Konventionen der vier rechtgeleiteten Kali-IHQXQGGHQ5HJHOQGHUJUR‰HQ5HFKWVJHOHKUWHQ'DEHLGLHQWH0DZGnjGƯYRU allem der hanafitische Rechtsgelehrte und frühe Denker eines islamischen Staates Ibn Taymiyya als Vorbild und Inspiration für sein Konzept der gött-lich inspirierten Herrschaft (hakimiyya). Dieses besagt, dass

die totale und absolute Souveränität bei Gott liegt (hakimiyya) und die Menschen nur dazu befugt sind, das heilige Recht (Scharia) durchzusetzen, welches jedwedem politischen oder ökonomischen System menschlichen Ursprungs weit überlegen und weitaus gerechter ist11.

'HULVODPLVFKH6WDDWLP6LQQHYRQ0DZGnjGƯEHUXKWHQWVSUHFKHQGDXIGUHL Grundsätzen: der Akzeptanz der Einheit Gottes (7DZKƯG), dem Propheten-tum (5LVƗOD) als Überlieferung des göttlichen Gesetzes und schließlich der Stellvertreterschaft des Menschen / Staates (Kalifat). Konkret formuliert 0DZGnjGƯYLHU%HGLQJXQJHQDOV*UXQGODJHHLQHVDXIGLHVHU7KHRULHEHUXKHQ-den Staates: dieser

wird tatsächlich ein menschliches Kalifat unter der Herrschaft Gottes sein, und er wird den Zweck und die Absicht Gottes erfüllen, indem er auf Gottes Erde innerhalb der von ihm abgesteckten Grenzen und im Einklang mit seinen Anweisungen und Gebo-ten funktioniert12.

Hieraus folgt, dass die Gesellschaft in Gänze Trägerin des Kalifats ist, nach-dem sie sich 7DZKƯG und 5LVƗOD unterworfen und somit die göttliche Oberho-KHLWDQHUNDQQWKDW,VWGLHVH9RUDXVVHW]XQJHUIOOWIlQJWJHPl‰0DZGnjGƯGLH

11 6D\\LG$Enjޏ$OƗ0$:'Nj'Ʈ, zitiert nach Nazib AYUBI, Political Islam: religion and politics in the Arab world, London 1994, S. 129.

12 6D\\LG$Enjޏ$OƗ0$:'Nj'Ʈ Islamische Lebensweise, München 1989, S. 162.

Demokratie im Islam an, da jeder Mensch innerhalb der islamischen Gesell-schaft die gleichen Rechte hat und gleichermaßen Gottesbevollmächtigter im .DOLIDWLVW'DUDXVHUJLEWVLFKIU0DZGnjGƯHLQHLVODPLVFKH'HPRNUDWLHIRO-gendermaßen:

Niemand hat jemand anderem gegenüber Vorrang oder kann einen Anderen seiner Rechte und Bevollmächtigung berauben. Die mit der Leitung der Staatsangelegenheiten beauftragte Verwaltung wird in Übereinstimmung mit dem Willen der einzelnen Bürger gebildet und die Staatsgewalt wird nur ein Zuwachs der Bevollmächtigung der einzelnen Bürger sein, die sie ihm übertragen haben. Ihre Entscheidung ist bei der Bil-dung der Regierung, die unter ihrer Beratung und in Einklang mit ihren Wünschen handelt, ausschlaggebend. Wer ihr Vertrauen gewinnt, wird sich der Aufgabe und der Verpflichtung des Kalifats in ihrem Namen annehmen: und wenn er dieses Vertrauen verliert, muss er abdanken und sich ihrem Willen beugen13.

,QGLHVHU)RUPXOLHUXQJYRQ0DZGnjGƯVWHOOWGLHSROLWLVFKH2UGQXQJGHV,VODP eine vollkommene Form der Demokratie dar, die sich jedoch in einem ent-scheidenden Punkt vom westlichen Demokratieverständnis unterscheidet.

Während die westliche Demokratie auf dem Konzept der Herrschaft des Vol-kes, also säkular, begründet ist, basiert die islamische Demokratie im Sinne YRQ0DZGnjGƯDXIGHU+HUUVFKDIWVJHZDOW*RWWHVXQGGHP.DOLIDWGHU0HQ-schen. Die islamische Demokratie ist also dem göttlichen Gesetz unterwor-fen und erhält in ihrer Gewalt festgelegte Grenzen durch das göttliche Gesetz, ZlKUHQGZHVWOLFKH'HPRNUDWLHQDFK$QVLFKWYRQ0DZGnjGƯHLQHIUHLHXQG XQNRQWUROOLHUWH)RUPGHUDEVROXWHQ6WDDWVJHZDOWLVW௘14.

'HU6WDDWLP,VODPKDWVRPLWLP6LQQHYRQ0DZGnjGƯGLHVHOEHQ3IOLFKWHQ und Rechte wie der einzelne Mensch gegenüber den göttlichen Geboten, die er kompromisslos einhalten muss. Daraus folgt als Grundlage für ein unverän-derliches Verfassungsprinzip des islamischen Staates, »dass seine Politik auf Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit begründet sein muss« und ihm ähnliche Pflichten wie dem einzelnen [auferlegt sind,] nämlich alle Verträge und Normen für geschäftliche Unternehmungen anzuerkennen, stets der Pflichten gleich-zeitig mit den Rechten eingedenk zu sein und nicht die Rechte der anderen in Erwar-tung ihrer Pflichterfüllung zu übersehen, Macht und Staatsgewalt zur Aufrechterhal-tung von Gerechtigkeit und nicht zur Verübung von Ungerechtigkeit zu gebrauchen, die Pflicht als hl. Vermächtnis zu betrachten und sie gewissenhaft zu erfüllen, und die Macht als ein Treuepfand Gottes anzusehen15.

13 Ebd., S. 61.

14 Vgl. ebd., S. 63.

15 Ebd., S. 65f.

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich zusammengefasst vier Verfassungs-SULQ]LSLHQ GHU 6WDDWVNRQ]HSWLRQ JHPl‰ 0DZGnjGƯ D GLH 6RXYHUlQLWlW Got tes und die Priorität der Scharia bei der Auseinandersetzung zwischen Herrscher und Volk; b) Wahl und Konsultation in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Zeit und der Gesellschaft; c) Interpretation der gött lichen Gesetze und Schaffung neuer Bestimmungen in Angelegenhei-ten, zu denen die Scharia schweigt, durch die Legislative, sowie d) Unab-hängigkeit und Gerechtigkeit der Judikative gemäß der Scharia. Dieses Kon-zept stellt eine reine Theorie dar, die jedoch Inspiration für andere islamische 'HQNHUZDUVRDXFKIUGHQ6XGDQHVHQণDVDQDW7XUƗEƯGHVVHQ9RUVWHOOXQJ eines isla mischen Staates Basis des aktuellen politischen Systems im Sudan ist.

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ণDVDQDW7XUƗEƯZXUGHXPLQ.DVVDOD6XGDQJHERUHQ$EZLGPHWH er sich dem Studium der Rechtswissenschaften in Khartum, ab 1955 in Lon-don und schließlich ab 1959 in Paris, wo er 1964 seine Promotion abschloss.

Nach seiner Rückkehr in den Sudan war Turabi führend an der Gründung des sudanesischen Zweiges der Muslimbrüder, der ЂDEKƗWDOPLܔDTDO,VOƗPƯ, beteiligt und wurde später deren Generalsekretär. Obwohl die Bewegung bereits ein Jahr später wegen Demonstration gegen die Regierung verbo-WHQ ZXUGH IDQG GLH ,GHH HLQHU LVODPLVFKHQ 9HUIDVVXQJ YRQ DW7XUƗEƯ YLHOH Anhänger unter der Opposition gegenüber dem Militärregime sozialistischer Prägung von Numeiri (reg. 1969–1977). Als sich Numeiri ab 1977 / 1979 ver-VWlUNW DP ,VODP RULHQWLHUWH JHODQJ HV DW7XUƗEƯ ]XQlFKVW LQ GDV $PW GHV Generalstaatsanwalts aufzusteigen und schließlich 1983 in den so genannten Septembergesetzen die strenge Auslegung der Scharia als Gesetzgrundlage im Sudan durchzusetzen.

Seit dem Staatsstreich von General al-Baschir im Juni 1989, der aktiv von GHQ0XVOLPEUGHUQXQWHUDW7XUƗEƯGHU1DWLRQDOHQ,VODPLVFKHQ)URQWXQWHU- VWW]WZXUGHKDWWHQDW7XUƗEƯXQGVHLQH$QKlQJHUYHUVFKLHGHQHKRKH5HJLH-UXQJVSRVWHQLQQHVRZXUGHDW7XUƗEƯ]%LP0lU]3DUODPHQWVVSUHFKHU Sein Verhältnis zu Staatschef al-Bashir ist jedoch seit Anfang 2001 wieder-holt durch Vorwürfe des Staatsverrats und unterschiedliche Vorstellungen zu Machtansprüchen gekennzeichnet, weshalb er wiederholt verhaftet wurde.

6HLQHOHW]WH9HUKDIWXQJHUIROJWHDPDOVDW7XUƗEƯYRUDXVVDJWHGDVV auch der Sudan nicht vor den Folgen des »Arabischen Frühlings« verschont werden würde.

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bKQOLFK ZLH 0DZGnjGƯ IRUGHUW DXFK DW7XUƗEƯ GDVV GLH 0DFKW GHV 6WDDWHV durch islamische Regeln, die Scharia, eingeschränkt werden muss, welche er mit den Vorstellungen von Liberalismus und Marxismus vergleicht. Diese Vorstellung leitet er von dem religiösen Gebot ab, »das Gute zu genießen und das Schlechte zu verbieten«16 $OOHUGLQJV IRUGHUW DW7XUƗEƯ NHLQHVZHJV GLH Einführung der Scharia in ihrer historischen Form, sondern deren Anpas-sung an die Bedingungen der Moderne, auch schließt er die Nutzung von nicht-islamischen Doktrinen für einen islamischen Staat nicht aus, wenn sie GHP:RKOGHU%UJHUGLHQHQ$W7XUƗEƯHUNHQQWLP6LQQHYRQ0DZGnjGƯGLH ultimative Souveränität Gottes im Islam zwar an, versteht jedoch ihre prak-tische poliprak-tische Handhabung als Aufgabe des Volkes bzw. der Gemeinde17. 'DEHLKDWDW7XUƗEƯMHGRFKNHLQH'HPRNUDWLHQDFKZHVWOLFKHP9HUVWlQGQLV vor Augen, sondern sieht das islamische Konzept der Beratung (ãnjUD) als wichtigste legitimierende Doktrin für politische Herrschaft, wobei er die-sen koranischen Begriff erneut an die Moderne anpasst und neu interpre-WLHUW $W7XUƗEƯ HUNHQQW DQ GDVVãnjUD und Demokratie heute auf denotati-ver Ebene eine gleiche Bedeutung haben, nämlich den Ruf zur Beteiligung der Öffentlichkeit und deren Repräsentanz in politischen Angelegenheiten18. Zugleich zeigt er auf konnotativer Ebene eindeutige Unterschiede auf, die sich im Wesentlichen aus dem göttlichen Recht als Referenzrahmen der ãnjUD ergeben.

Democracy grounds its ultimate reference in the people, who become the sovereign; in contrast, shura grounds is reference in God’s revelation, thus making God the supreme sovereign. The advantage that shura has over democracy in al-Turabi’s view is that while human thinking is always fluid, there is a divine text that is always present and unifies the consciousness of people. Democracy has no text but that of human reason, which leads to establishing equal discourses that are equally full of shortcomings.

When shura tackles or arrives at constitutional, legal, social, and economic principles, VKXUDLVDOZD\VPDGHLQYLHZRIVKDULޏDQRWRQO\LQWKHLQWHUHVWRIWKLVJURXSRUWKDW19. )ROJOLFK VLHKW DW7XUƗEƯ GDV .RQ]HSW GHUãnjUD im Vergleich zur westlichen Demokratie als überlegen an, da es durch die Scharia einen gottgegebenen Referenzrahmen hat, welcher unveränderlich ist und nicht allein auf

mensch-16 Ahmad S. MOUSSALLI, Moderate and radical Islamic fundamentalism – the quest for modernity,

mensch-16 Ahmad S. MOUSSALLI, Moderate and radical Islamic fundamentalism – the quest for modernity,

Im Dokument Die politische Aufgabe von Religion (Seite 124-144)