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Verständnis von Neutralität

Im Dokument DIE UMDEUTUNG DER NEUTRALITÄT (Seite 172-200)

Der zweite Teil der Arbeit ist Charles Pictet de Rochemonts Interpretation der immerwährenden Neutralität der Schweiz gewidmet. Den Kern bildet dabei seine SchriftDe la Suisse dans l’intérêt de l’Europe.Für die Einordung derselben ist zunächst die Beschreibung ihres Autors wichtig. Diese erhellt einerseits die Diskursposition Pictets, andererseits die verschiedenen diskur-siven Kontexte, welche seine Ausführungen prägten. Die biographische Beschreibung Pictets fokussiert dabei auf seine Tätigkeit als diplomatischer Vertreter Genfs und später der Eidgenossenschaft auf den europäischen Frie-denskongressen in Wien und Paris, welche den Niederlagen Napoleons folg-ten. Dabei soll der Fokus nicht auf dem Verhandlungsgeschehen liegen, son-dern auf den Netzwerken und den persönlichen Beziehungen, die es dem Genfer Diplomaten überhaupt erst ermöglichten, seine Anliegen an promi-nenter Stelle zu platzieren. Dafür waren seine kulturellen und wissenschaftli-chen Leistungen, vor allem auf dem Gebiet der Agronomie, von zentraler Bedeutung.

Diese Tätigkeit macht deutlich, wie stark die aufklärerische Prägung Pic-tets war, und wie sich diese Prägung auf sein politisches Engagement aus-wirkte. Dabei zeigt sich, dass er in einem starken Spannungsfeld zwischen aristokratischer Herkunft und der Zuneigung zu helvetisch-aufklärerischem und liberalem Gedankengut stand.

Charles Pictet – den Namenszusatz de Rochemont übernahm er nach damaligem Genfer Brauch von seiner Frau Adélaïde-Sara de Rochemont – wurde 1755 in eine Genfer Magistratenfamilie geboren. Sein Vater Charles Pictet-Dunant war Regimentskommandant in holländischen Diensten gewe-sen, bevor er in Genf Mitglied des Rats der Zweihundert wurde. Gegenüber aufklärerischen Ideen zeigte er sich sehr aufgeschlossen. So verurteilte er die

öffentliche Verbrennung von Rousseaus Emile und Contrat social in Genf 1762 scharf, was der Kleine Rat umgehend und streng ahndete: Vater Char-les Pictet musste für ein Jahr auf sein Grossratsmandat und sein Bürgerrecht verzichten, was ihn verbitterte.459

Pictet de Rochemont besuchte ab dem 13. Lebensjahr das Seminar von Martin Planta im bündnerischen Haldenstein, welches dem Geist des Helve-tismus verpflichtet war. Vernünftiges und philosophisches Denken gehörten zu den zentralen Zielen, welche die Schulleiter ihren Zöglingen mit auf den Weg geben wollten. Dazu wurden sie neben Deutsch, Italienisch und Franzö-sisch auch in Geschichte, Geographie, naturwissenschaftlichen Fächern und Naturrecht unterrichtet. Zu den Absolventen dieser Schule gehörten etwa Frédéric-César de Laharpe, Lucas Legrand aus Basel, der Mitglied des helve-tischen Direktoriums wurde, Hans von Reinhard, der 1806 und 1813 Lan-dammann der Schweiz war, der Arzt und Publizist Christoph Girtanner aus St. Gallen und der Dichter Gaudenz von Salis-Seewis.460

Danach folgte Pictet einer klassischen Magistratenlaufbahn des Ancien Régime. 1775 trat er in französische Dienste, als Sous-Lieutnant im Schwei-zer Regiment de Diesbach. Den Solddienst quittierte er zehn Jahre später im Rang eines Majors. Seit 1788 sass er im Genfer Rat der Zweihundert. 1789 wurde er mit der Reorganisation der Genfer Miliz beauftragt. 1790 über-nahm er den Posten eines Gerichtsauditors.461Aufgrund seiner militärischen Erfahrungen und seiner helvetischen Prägung ist es kaum verwunderlich, dass er 1792 die Besetzung Genfs durch ein Berner und Zürcher Hilfskorps offen begrüsste. Auf seine Anregung hin protestierte der Genfer Rat vor der versammelten Miliz am 10. Oktober 1792 öffentlich gegen die französische Forderung nach Abzug dieser Truppen. Damit versuchten die Genfer Magis-traten zugleich die Eintracht mit ihrer Bevölkerung zu demonstrieren. Das konnte freilich nicht verhindern, dass das kleine Genf den Forderungen und

459 Pictet, Pictet de Rochemont, 3–5.

460 Pictet, Pictet de Rochemont, 5–7. Zu Haldenstein siehe Theus Baldassarre, Bildung und Volksherrschaft.

461 Pictet, Pictet de Rochemont, 7–9, 16.

Drohungen Frankreichs wenige Tage später nachgab und die Truppen der eidgenössischen Verbündeten doch zurückschickte.462

Nach der Genfer Revolution wurde Pictet 1793 in die Nationalver-sammlung gewählt, trat aber aus Protest gegen die Auswüchse des Jakobinis-mus in Genf bereits vor Ende des Jahres wieder zurück. Im August 1794 wurde er vom ersten Revolutionstribunal zu einem Jahr Hausarrest verur-teilt. Dabei hatte er noch Glück. Sein Schwager wurde vom selben Tribunal zum Tode verurteilt und erschossen. Pictets Strafe wurde allerdings nach drei Wochen vom zweiten Revolutionstribunal wieder aufgehoben.463

Trotzdem kehrte er der Politik für fast zwanzig Jahre den Rücken zu und zog sich als Gentleman-Farmer464 auf sein Landgut im damals noch savoyardischen Lancy zurück, wo er sich der Herausgabe einer Monatszeit-schrift unter dem TitelBibliothèque Britanniqueund seiner Musterlandwirt-schaft widmete. Diese Art der Realitätsflucht war in den Zeiten der Revoluti-on nichts Aussergewöhnliches.465Er spielte sogar mit dem Gedanken einer Auswanderung in die USA oder nach England. Dort glaubte er die wahre Freiheit zu finden, im Gegensatz zu der Freiheit, wie sie in Frankreich und

462 Pictet, Pictet de Rochemont, 21–39.

463 Pictet, Pictet de Rochemont, 38–43.

464 Der Begriff des Gentleman-Farmers passt vorzüglich zu Pictet. Er etablierte sich in England im ausgehenden 18. Jahrhundert für einen Gutsbesitzer, der von anderen Ein-künften leben konnte und der die Landwirtschaft in erster Linie zur Freude und aus patriotischem Impuls betrieb. Treffend hielt Lord Henry Home Kames 1776 die Motive des Gentleman-Farmers fest unter dem vielsagenden Buchtitel The Gentleman Farmer:

Being an Attempt to Improve Agriculture by Subjecting it to the Test:«In the first place, it [Farming] requires that moderate degree of exercise, which corresponds the most to the ordinariy succession of our perceptions. […] In the next place, to every occupation that can give a lasting relish, hope and fear are essential. […] The hopes and fears that attend agriculture, keep the mind always awake, and in an enlivening degree of agitation. […] In the third place, no other occupation rivals agriculture, in connecting private interest with that of the public. How pleasing to think, that every step a man makes for his own good, promotes that of his contry! […] Every gentleman-farmer must of course be a patriot; for patriotism, like other virtues, is improved and fortified by exercise. In fact, if there be any remaining patriotism in a nation, it is found among that clafs of men.» Home Kames, Gentleman Farmer, XVI–XVII.

465 Duby, histoire, 116–118.

Genf von den Jakobinern verkündet worden war und die für ihn bloss ein Deckmantel ihres revolutionären Fanatismus war.466Um sich mit den Ver-hältnissen in den USA auseinanderzusetzen, übersetzte er diverse Beschrei-bungen dieses Landes, welche er 1795 unter dem TitelTableau de la situa-tion actuelle des Etats-Unis, d’après Morse et les meileurs auteurs américains publizierte. In einem Brief vom April 1796 machte er sein Ziel dabei deut-lich:

J’ai essayé de parler encore de la Liberté à une époque où son nom paraît associé à celui du Crime, et j’ai attaché un nom genevois à des notions saines sur cette Liberté tant calomniée, dans le moment où Genève n’en rappelle que le délire et les forfaits.

Voilà mon but politique.467

Im Vorwort zu seinemTableaumachte er deutlich, was wahre Freiheit und die richtige Verfasstheit eines Staates seiner Ansicht nach waren:

Un peuple qui combat pour sa liberté, voit trop souvent le bonheur qu’il s’en promet dans les excès qu’elle condamne; […] Mais après la victoire il apprend, à ses dépends, que la jouissance de la liberté demande plus de sagesse, que son conquête de courage; il reconnaît peu-à-peu que la vérité, en politique, est toujours dans les idées moyennes; qu’en dernier résultat, une Constitution libre doit tendre seulement à la sûreté des personnes et des propriétés; que celle qui, en assurant ces avantages, maintient la paix, le premier des biens […] que, ne pouvant gouverner lui-même, il faut qu’il [le peuple] en délègue le droit à des hommes munis d’un pouvoir d’autant plus grand, que l’Etat est plus vaste […] à ce Gouvernement qui, tenant sa force de la Nation entière, ne peut en craindre une portion rébelle, et maintien efficacement la stabilité, le calme, si indispensable à la prospérité d’une population industrieuse; à ce Gouvernement dans lequel tout se fait pour le Peuple, et rien par le Peuple; à ce

466 Amerika galt im 18. Jahrhundert inbesondere den aufgeklärten Reformern als der Ort, an dem sich der Traum vom glücklichen und gerechten Gemeinwesen verwirklichen liess. Entsprechend hatte auch Pictets späterer Freund Emanuel von Fellenberg mit dem Gedanken gespielt, nach Übersee auszuwandern. Und wie Pictet hatte auch der Berner sich bewusst aus einer politischen Laufbahn zurückgezogen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, dass seine moralischen Werte korrumpiert würden. Wittwer Hesse, Fellen-berg, 21–26.

467 Pictet, Pictet de Rochemont, 53–56. Reverdin, Pictet de Rochemont, 238f.

Gouvernement, enfin, qui […] trouve à-la-fois cette force d’inertie qu’on regrette si souvent dans les États démocratiques, et cette unité d’action qui y est si rare.468 Pictet de Rochemont sprach sich hier klar gegen demokratische Strukturen aus. Vielmehr schwebte ihm eine Aristokratie im wahrsten Sinne des Wortes vor, sodass die Aufgeklärtesten den Staat mit umfassenden Vollmachten, aber selbstloser Weitsicht führen sollten.

Ähnlich hatte er sich bereits im Januar 1793 geäussert. Nach dem Abzug der Berner und Zürcher wurden am 12. Dezember 1792 dieEgalisateurs Her-ren der Stadt Genf. Sie ordneten die Wahl der Assemblée Nationale an. In diesem Zusammenhang entstanden vier anonyme Drucke, welche in genferi-schem Dialekt ein Gespräch zwischen zwei als Bauern kenntlich gemachten Protagonisten über die Wahl zeigten. Diese Drucke wurden bereits zeitge-nössisch Charles Pictet de Rochemont zugeschrieben.

Dass Pictet die Form eines Dialogs in Dialekt wählte, hatte mehrere Gründe. Primär sollten so die neuen Teilnehmer an den politischen Ent-scheiden erreicht werden, da nun alle wählen konnten,welche auf dem Gen-fer Territorium lebten und einen protestantischen Vater hatten. Es ging dabei weniger darum, die Sache des Volkes zu vertreten, als vielmehr darum, von der breiten Bevölkerung verstanden zu werden und sie für die eigene Sache zu mobilisieren. Der Gebrauch des Dialektes demonstrierte in diesem Sinn Volksnähe, aber auch genferischen Bürgersinn und die Ablehnung des fran-zösischen Einflusses.469Die Form des Dialogs war in der politischen

Publizis-468 Pictet de Rochemont, Tableau, 29f. Pictet reiht sich hier in eine Debatte ein, die für das ausgehende 18. Jahrhundert prägend war: Die Frage nach der wahren Freiheit. Dabei trafen zwei ganz unterschiedliche Freiheitskonzeptionen aufeinander: «The clash between

‹ancient›and‹modern›ideas about liberty has been characterised by Pocock as a debate in which the ancients saw liberty as a‹direct act of the personalitythe liberty of the hedgehog who knows himself but may know nothing else›and in which the moderns supposed liberty to entail the mediation of the personality,‹through all the multifarious activities which may relate humans to one another in societythe liberty of the fox, who knows so many things that he may have no self left to know›.» Whatmore, Intellectual history, 114.

469 Merle, Naissance, 24, 48. Barblan, Vu de Genève, 319. Das bemerkte auch der Redaktor des Journal de Genève, als er 1791 zum Stellenwert von Diaklektwörtern im Genfer Französisch bemerkte: «Il y a quelques mois, Messieurs, que je vous

com-tik dieser Zeit verbreitet. Nur etwa jeder Fünfte auf dem Land war in der Lage, einen unbekannten Text zu lesen und zu verstehen. Pamphlete wurden daher häufig in der Dorfschenke vorgelesen, wozu sich die Dialogform mit ihren kurzen, einfachen Aussagen anbot.470

Der Text macht indirekt deutlich, dass der eine Protagonist mit der poli-tischen Entwicklung sympathisierte, während der andere diese entzaubern wollte. Pictet stellte sich mit seinen Pamphleten nicht grundsätzlich gegen die zu wählende Versammlung. Sein Ziel war, den Wahlmodus und ihr Funktionieren zu verbessern.471

Im ersten Dialog entwarf Pictet das Bild des idealen Abgeordneten:

nicht zu jung, besitzend, «bons Genevois d’autrefois», ehrlich, mit dem Blick für das Wesentliche, nicht schwatzhaft. Die wahren Genfer charakterisierte er dadurch, dass sie sich gegen Ideen und Männer stellten, welche von aussen kamen. Damit waren parlamentarische Ideen gemeint, welche die Stadt in Pictets Augen zu ruinieren drohten. Um seine Position zu unterstreichen arbeitete Pictet einen scharfen Gegensatz zwischen den französischen Adeli-gen und den Genfer Aristokraten heraus. Er hielt den Ersteren vor, als Para-siten ihres Volkes Steuergelder verschleudert zu haben. Dagegen hätten die integren Genfer Magistraten sich für die Menschen und nicht für den Profit eingesetzt. Im letzten Dialog, der am 22 Januar 1793 erschien, griff Pictet die Schlagworte der französischen Revolution auf. Er liess den einen seiner Prot-agonisten erklären, dass die Gleichheit vor dem Gesetz nicht dasselbe sei wie die Gleichheit des Vermögens und der Möglichkeiten. Eine solche Gleichheit komme bloss Faulpelzen und Dieben zugute. Und die Freiheit sei nicht die Freiheit, alles zu tun, was man wolle. Beide Begriffe seien in Frankreich

miss-muniquois mes remarques sur l’emploi vicieux que les Genevois font du motAdieu.Je me préparois à vous envoyer quelques observations sur d’autres idiotismes aussi choquans, lorsque la voix publique s’est fait entendre. On a réclamé contre une réforme dans le lan-gage; on l’a appelée une innovation dangereuse; on a prétendu d’ôter aux Genevois leurs provincialismes, c’étoit leur ôter une partie de leur originalité, de leur trempe nationale, et même de leurs vertus; on a dit que l’oreille ne devient délicate que lorsque le cœur cesse de l’être, et que la pureté du langage est un indice preque’infaillible de la corruption des mœurs.» Journal de Genève 3, 22.1.1791, 11–12.

470 Tosato-Rigo, Ouvre les yeux. Menamkat Favre, Patriotes, 41–43.

471 Merle, Naissance, 48.

verstanden worden, weshalb nun Anarchie und Unsicherheit herrschten und Schelme das Gesetz machten. In einem Land wie Frankreich, in dem die Menschen wie Tiere behandelt worden waren, waren sie nicht bereit für die wahre Freiheit. In Genf würde es dagegen nicht gleich aussehen.472

Für Pictet war demnach der ideale Staat eine aristokratische Republik, in welcher die Magistraten aufgrund ihrer Ehrlichkeit, ihrer Bescheidenheit, ihres Verstandes, ihrer Liebe zum Vaterland und ihres Vermögens ausge-wählt wurden. Die Grundzüge einer solchen idealen Republik schrieb er dem vorrevolutionären Genf zu, nicht aber dem revolutionären Frankreich. Des-sen Schlagworte von Freiheit und Gleichheit waren für ihn nichts anderes als hohle Phrasen, welche die (Macht‐)Gier der Jakobiner kaschieren sollten.

Trotzdem war er nicht rückwärtsgewandt. Er anerkannte die Notwendigkeit politischer Reformen sehr wohl, weshalb er sich auch für die Genfer Natio-nalversammlung 1793 zur Wahl stellte. Er war aber betont antifranzösisch eingestellt. Konsequenterweise lehnte er mehrmals angebotene Stellen in der französischen Verwaltung ab, nachdem Genf 1798 annektiert worden war.473 Nach dem Abzug der Franzosen 1813 kam für Pictet eine Rückkehr zur poli-tischen Ordnung Genfs vor 1792/93 nicht mehr in Frage. Diese musste den neuen Umständen angepasst werden. Damit stand er in der provisorischen Regierung in Opposition zum Syndic Joseph des Arts, der dominierenden Figur der Genfer Restauration.474

5.1 Publizistik und Agronomie als diplomatische Türöffner 5.1.1 Eine bemerkenswerte Wahl. Pictet als Genfer Gesandter 1814 Genf stand am Anfang des Jahres 1814 am Scheidepunkt. In den letzten Dezembertagen 1813 waren die französischen Truppen abgezogen, womit eine fünfzehnjährige Fremdbestimmung zu Ende ging. Die Freude währte aber vorerst nur kurz. Zwar bildete sich bereits vor dem Abzug der Franzo-sen– als dieser unvermeidbar erschien –eine provisorische Regierung unter

472 Merle, Naissance, 49–54.

473 Hartmann, Elites, 322.

474 Waeber, L’option de 1814; Waeber, Des Arts et Pictet de Rochemont.

der Führung der beiden Konservativen Ami Lullin und Joseph Des Arts. Die-se formulierte am JahreDie-sende 1813 eine UnabhängigkeitDie-serklärung. Aber die Unabhängigkeit währte nur wenige Stunden. Die Franzosen waren vor einer heranrückenden österreichischen Armee gewichen. Die Unabhängigkeitser-klärung wurde bereits unter den Augen der neuen Besatzung verlesen und war zunächst nicht mehr als eine blosse Willensbekundung desConseil pro-visoire.Denn zur besseren Kontrolle der Stadt und des angrenzenden Terri-toriums und vor allem um die Versorgung seiner Truppen sicherstellen zu können, hatte der österreichische General Ferdinand von Bubna eine Regie-rungskommission eingerichtet. Diese hatte die Aufgabe, im Gebiet des ehe-maligen Département du Léman Recht zu sprechen und die Steuern einzu-treiben, beides Kompetenzen, welche auch für denConseil provisoirezentral gewesen wären und die er sich selbst in der Unabhängigkeitserklärung zuge-schrieben hatte.475 Die beiden Gremien stritten sich denn auch bis zum Abzug der Österreicher im Mai um die Führungsrolle und die zukünftige Gestalt Genfs, das in den Augen der Regierungskommission eine französi-sche Stadt und Hauptort des Départements hätte bleiben sollen, während der Kreis um Des Arts die Rückkehr zur Unabhängigkeit anstrebte. Um ihre Gegner auszustechen und den Charakter der Stadt soweit möglich in ihrem Sinne zu bewahren, schwenkten Letztere schliesslich auf die von den alliier-ten Monarchen bevorzugte Lösung ein – den Anschluss Genfs an die Schweiz. Die provisorische Regierung wurde schliesslich im August 1814, nach der umstrittenen Annahme der neuen Verfassung,476durch den

Staats-475 Das unmittelbare Ziel der provisorischen Regierung war gemäss ihrer Unabhängig-keitserklärung «d’administrer et de faire administrer la police et la justice, tant civile que criminelle; les finances et tout ce qui tient aux impositions, perceptions et dépenses publi-ques; de préparer les lois et les règlements qui nous paraîtront les mieux assortis pour notre existence future […] en un mot, de pourvoir à tout ce qu’exige un établissement politique sagement organisé». Pictet, Pictet, 438.

476 Die neue Verfassung wurde quasi im Eilverfahren zur Abstimmung gebracht, mit dem expliziten Verweis, dass die Genfer dieser reaktionären Verfassung bedurften, um sich so gut wie möglich in die Eidgenossenschaft integrieren zu können. Die Opposition und der Protest einiger den liberalen Ideen nahestehenden Personen so Marc-Auguste Pictet, Etienne Dumont, François d’Ivernois und Sismondi, der mit seiner dagegen gerich-teten SchriftSur les lois éventuelles für einen eigentlichen Skandal sorgte, nützte nichts,

rat als Exekutive (der zugleich Bestandteil der Legislative war) und den Con-seil représentatif als Legislative abgelöst, wobei ein hoher Zensus einen Grossteil der Bürger vom Stimmrecht ausschloss.477

Für das Verständnis des diplomatischen Werdegangs von Charles Pictet de Rochemont und für seine– in einem umfassenden Sinn gedachte – Cha-rakterisierung ist dieses Jahr 1814 in mehrerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zu Beginn dieses Jahres tauschte er das Gewand des Bauern mit demjenigen des Diplomaten, er tauschte den Pflug und den Schreibtisch gegen den Verhandlungstisch. Plötzlich flossen statt Buchbesprechungen und Anleitungen zu neuen Anbaumethoden politische und strategische Memoirs aus seiner Feder, obwohl er vor 1813 nicht durch politische Publikationen zur Zukunft Genfs in Erscheinung getreten war. Nicht einmal in seiner umfangreichen Korrespondenz mit Philipp Emanuel von Fellenberg tauchen politische Themen oder die weltpolitischen Geschehnisse vor 1813 auf, von ein paar Randnotizen abgesehen.478Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass Pictet gleich mit dem Beginn seiner Tätigkeit für die provisorische Regierung zu einem ihrer führenden Köpfe und konzeptionellen Vordenker avancierte. So geht auf ihn das Manifest zur Proklamation der Restauration der Republik zurück, welches er mit Lullin und Des Arts zusammen verfasst hatte und persönlich mit Saladin de Budé in den verschiedenen Quartieren

Für das Verständnis des diplomatischen Werdegangs von Charles Pictet de Rochemont und für seine– in einem umfassenden Sinn gedachte – Cha-rakterisierung ist dieses Jahr 1814 in mehrerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zu Beginn dieses Jahres tauschte er das Gewand des Bauern mit demjenigen des Diplomaten, er tauschte den Pflug und den Schreibtisch gegen den Verhandlungstisch. Plötzlich flossen statt Buchbesprechungen und Anleitungen zu neuen Anbaumethoden politische und strategische Memoirs aus seiner Feder, obwohl er vor 1813 nicht durch politische Publikationen zur Zukunft Genfs in Erscheinung getreten war. Nicht einmal in seiner umfangreichen Korrespondenz mit Philipp Emanuel von Fellenberg tauchen politische Themen oder die weltpolitischen Geschehnisse vor 1813 auf, von ein paar Randnotizen abgesehen.478Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass Pictet gleich mit dem Beginn seiner Tätigkeit für die provisorische Regierung zu einem ihrer führenden Köpfe und konzeptionellen Vordenker avancierte. So geht auf ihn das Manifest zur Proklamation der Restauration der Republik zurück, welches er mit Lullin und Des Arts zusammen verfasst hatte und persönlich mit Saladin de Budé in den verschiedenen Quartieren

Im Dokument DIE UMDEUTUNG DER NEUTRALITÄT (Seite 172-200)