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Vermehrte Aufmerksamkeit in der Translationswissenschaft

Das Augenmerk dieses Kapitels liegt auf der Darlegung des Forschungsstandes zur Über-setzung von Liedern. Charakteristika der LiedüberÜber-setzung1 werden vorgestellt, die als Grundlage für die Analyse von übersetzten Liedern dienen soll. Einleitend wird ein Über-blick über Publikationen zum Thema Translation und Musik gegeben, der aufzeigen wird, dass die Translationswissenschaft in den letzten Jahren Musik vermehrt Aufmerksamkeit schenkt. Anschließend wird auf Besonderheiten und Strategien der Liedübersetzung einge-gangen und abschließend wird die Fragestellung der Unterscheidung zwischen Translation und Adaption im Kontext der Liedübersetzung thematisiert.

1.1 Vermehrte Aufmerksamkeit in der Translationswissenschaft

Das Thema Translation und Musik fand in der Translationswissenschaft lange Zeit nur vereinzelt Beachtung. Durch diverse Publikationen in den letzten Jahren wird jedoch ein aufsteigender Trend erkennbar. Im Jahr 2005 erschien nach einer internationalen Konfe-renz an der Universität Helsinki ein Sammelband, herausgegeben von Dinda Gorlée (2005a): Song and Significance. Virtues and Vices of Vocal Translation. Diesen Sammel-band bezeichnet Lucile Desblache als wichtigen Lückenfüller und Meilenstein in einem zu wenig erforschten Bereich (Desblache 2006:215). Drei Jahre später wurde in The Transla-tor eine Sondernummer mit dem Titel „Translation and Music“ veröffentlicht, die von Şeb-nem Susam-Sarajeva herausgegeben wurde (The Translator 2008). In Ausgabe 38 der im Jahr 2011 publizierten Zeitschrift In Other Words: The Journal for Literary Translators ist ein Teil dem Thema „Translating Music“ gewidmet (54ff.). Drei der sechs Artikel be-schränken sich jedoch auf eine Zusammenfassung von Charles Hazlewoods Eröffnungs-rede zum Internationalen Übersetzertag im Free Word Centre in London im Jahr 2011 (Bunstead 2011), die Vorstellung des Literaturfestivals „Notes & Letters“ (Hopkinson 2011) und einen Artikel, der davon handelt, Zieltexte „singen“ zu lassen – die Autorin stellt ihre Übersetzungsstrategien für authentisch klingende Texte vor (Schwartz 2011).

Im Jahr 2013 gab Helen Julia Minors (2013a) einen Sammelband mit dem Titel Music, Text and Translation heraus. Die Herausgeberin sieht das Werk als ersten Sammelband, dessen Aufsätze sich nicht nur auf ein Feld beschränken, wie z.B. das der

1 Die Termini Liedübersetzung und „song translation“ werden in dieser Arbeit gleichbedeutend für die Über-setzung von Liedern aller Genres verwendet.

4 senschaft: „Music is central to each case study and the majority of authors are musicians as well as linguists“ (ibid. 2013b:2).

Die darin verfassten Aufsätze zu Musik und Translation sind grob nach den drei von Ro-man Jakobson definierten Arten der interlingualen, intralingualen und intersemiotischen Translation gegliedert (Jakobson 1966/1959:233).

2015 erschien in der Reihe New Trends in Translation Studies eine Monographie von Susam-Sarajeva mit dem Titel Translation and Popular Music. Transcultural Intimacy in Turkish-Greek Relations, ein Werk, das die kulturelle Ebene von Liedübersetzung und ihre Auswirkung auf internationale Beziehungen in den Vordergrund stellt. Ronnie Apter und Mark Herman veröffentlichten im Frühjahr 2016 „a manifestation of the 40 years of wis-dom and experience“ (Franzon 2017:115): Translating for Singing: The Theory, Art and Craft of Translating Lyrics (Apter/Herman 2016). Im Jahr 2017 erschien von Peter Low ein Handbuch für die Übersetzung von Liedern, in dem er auf Schwierigkeiten und Über-setzungsstrategien bei der Übertragung von liedspezifischen Elementen wie Rhythmus oder Reim eingeht; diese Inhalte sollen den Leser/innen mit Übersetzungsaufgaben näher-gebracht werden (Low 2017). Darüber hinaus findet sich bei Apter/Herman (2016:3f.) ein Überblick über Gesellschaften, Konferenzen und Symposien, die in engerem und weiterem Sinne im Zeichen von Musik und Translation stehen.

Die vorgestellten Publikationen befassen sich mit Translationstheorie und -praxis im Hin-blick auf Liedübersetzung und beleuchten unterschiedliche Fallbeispiele. Die Auseinander-setzung mit Musik führt dabei unweigerlich zu interdisziplinären Analysen, die sich u.a.

Konzepten und Methoden der Semiotik, der Kulturwissenschaften, der Soziologie, der Mu-sik- sowie der Theaterwissenschaften bedienen. Einige der genannten Titel werden in den folgenden Kapiteln aufgegriffen und vorgestellt.

Für die späte Aufmerksamkeit in der Translationswissenschaft gibt es unterschiedliche Vermutungen. Low meint, dass Liedübersetzungen ein „untypical translation task“ (Low 2013:230) sind. Johan Franzon untersucht die Übersetzung von Musicals; für ihn könnte ein weiterer Grund die beruflich nicht genau definierte Zugehörigkeit von Liedüberset-zer/innen sein (Franzon 2008:374). Anstelle von professionellen ÜbersetLiedüberset-zer/innen fertigen häufig Songwriter/innen, Sänger/innen, Dramatiker/innen oder Fans Übersetzungen an (ibid.:373f.). Aber allein die Tatsache, dass Lieder übersetzt werden, rechtfertigt für ihn mehr Aufmerksamkeit seitens der Translationswissenschaft: „the fact that songs are

trans-5 lated in various ways, for various purposes, and by a variety of mediators should warrant some focused investigation within the discipline“ (ibid.:374). Klaus Kaindl, der neben Opern auch die Übersetzung von Popmusik untersucht, sieht letztere als ein kulturübergrei-fendes, massenmediales Phänomen, das Sprach- und Ländergrenzen überschreitet, und daher auch als einen Teilbereich von Translation (2005a:235). Die Vernachlässigung von Popmusik in der Translationswissenschaft begründet Kaindl damit, dass übersetzte Pop-songs häufig nicht als Übersetzungen, sondern als Originale angesehen werden (ibid.). Su-sam-Sarajeva würde Musik dem Bereich der audiovisuellen Translation zuordnen, da „mu-sic goes hand in hand with evocative associations, settings and visual imagery, not to men-tion dance and ubiquitous video-clips“ (Susam-Sarajeva 2008:190). Allerdings seien nicht alle Vertreter/innen der audiovisuellen Translation versiert im Musikbereich. Andere wie-derum ziehen Musik nicht in Betracht, da die visuelle Komponente fehlt (ibid.). Sie sieht einen Grund für die geringe Präsenz von Liedern in der Translationswissenschaft in der Komplexität des Zusammenspiels von Musik und Text. Der multidisziplinäre Charakter stellt hohe Qualifikationsansprüche an Forscher und Forscherinnen:

If we consider that research in translation and music may also require a background in me-dia studies, cultural studies and/or semiotics, we can begin to appreciate the difficulties en-countered by anyone who ventures into this field. (Susam-Sarajeva 2008:190)

Ein nicht multidisziplinäres Vorgehen bei Untersuchungen würde zu einseitigen Ergebnis-sen führen (ibid.:189). Ein weiterer Grund ist für sie der Umstand, dass musikalisches Ma-terial häufig nicht dem Bereich der Translation zugeordnet wird:

The fuzzy boundaries between „translation‟, „adaptation‟, „version‟, „rewriting‟, etc. and the pervasiveness of covert and unacknowledged translations in music have generally lim-ited research in this area to overt and canonized translation practices, such as those under-taken for the opera. (Ibid.:188)

Tatsächlich behandelt der Großteil an recherchierter Literatur zu Liedübersetzung im zwanzigsten Jahrhundert die Übersetzung von Opern. An dieser Stelle wird lediglich ein kleiner Einblick in die frühe Auseinandersetzung mit Opernübersetzung gegeben. Für ei-nen umfassenderen Überblick zur Geschichte der Opernübersetzung vgl. Kaindl (2005b) sowie die annotierte Bibliographie zur Opernübersetzung von Matamala/Orero (2008). Für einen historischen Überblick zu Liedern in der Translationswissenschaft vgl. Bosseaux (2011:183f.) sowie Apter/Herman (2016:11ff.).

6 Frühe Artikel thematisieren Vor- und Nachteile einer Übersetzung von Libretti und die damit verbundenen Herausforderungen und Ansprüche an die Übersetzer/innen und Über-setzungsstrategien. Sigmund Spaeth vergleicht die Übersetzung von Opern mit einem Schleier, den man von einem Gemälde nimmt, damit das Publikum das Werk in seiner Ganzheit erfahren kann (1915:291f.). Die Übersetzung soll es ermöglichen, den morali-schen Bildungswert des Kunstwerks weitertragen zu können (ibid.:292f.). Für Jacob Hieble liegt genau darin der Zweck von Übersetzungen künstlerischer Werke: „The closer we come to a realization of these inherent values, the more we carry out the original intent of these creative artists“ (Hieble 1958:235). Er kritisiert Opernübersetzungen nicht per se, bemängelt jedoch eine häufig unzureichende Qualifikation der Übersetzer/innen:

In the words of one musicologist, there is nothing wrong with operatic translations but that in many instances the translator knew little of the original language, not enough of his own, and nothing about music. (Ibid.)

Herbert Peyser (1922:354) spricht hingegen davon, dass eine Übersetzung einer Oper den exotischen Charme nehmen kann und dem Original nicht mehr gerecht wird. Zudem sieht er die Musik als Zwangsjacke für den/die Übersetzer/in: „The translator of an opera, a song, a choral work, toils in a strait-jacket. His course is carefully chalked off for him“ (ibid.:359). Damit nimmt er Bezug auf die musikalischen Elemente, die die Textge-staltung mitbestimmen.

Im Gegensatz zu Peysers ablehnender Einstellung zur Übersetzung von Opern, herrscht in der Translationswissenschaft heute Einigkeit darüber, dass Liedübersetzungen durchaus praktikabel sind. und dass Lieder einen Mehrwert für die Disziplin bedeuten können. So sieht Susam-Sarajeva in der Auseinandersetzung mit Musik Potential für ein neues Ver-ständnis von Translation:

Research into this area can thus help us locate translation-related activities in a broader context, undermining more conservative notions of translation and mediation. It can also offer us a new perspective on who may act as a „translator“ under different circumstances. (Susam-Sarajeva 2008:191)

Vor allem die Definition von Translation und Adaption führt im Kontext der Liedüberset-zung zu einer Diskussion über neubestimmte Grenzen. Dieser Aspekt wird in Kapitel 1.4 dieser Arbeit behandelt.

Ein interessantes Verständnis von Musik und Translation ist jenes von Minors. Sie sieht Translation als ein über den Sprachtransfer hinausgehendes Phänomen: „translation (in a

7 broad sense) is a process necessary to most forms of expression“ (Minors 2013b:1). Musik ist für sie eine universelle Sprache, die jede/r auf unterschiedliche Weise interpretiert (ibid.).

Musik liefert als ein eigenes System von Zeichen semantische Inputs und interagiert mit dem Text eines Liedes. Diese Interaktion zu verstehen, ermöglicht eine Analyse von Tex-ten, die mit Musik verbunden sind. Das folgende Kapitel stellt genau diesen Aspekt in den Mittelpunkt: Die besonderen Charakteristika von Liedübersetzung und die Rolle der Mu-sik-Text-Verbindung für die Translation.

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