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Aus den vorangehenden Kapiteln wird deutlich, dass die Übersetzung von Liedern eine besondere Herangehensweise erfordert, dazu zählt auch ein anderer Umgang mit Inhalten als bei der Übersetzung von Texten, die nicht an Musik gekoppelt sind. Ein flexibler Um-gang mit semantischen Elementen des AusUm-gangstextes lässt die Frage nach einer Definition von Translation und einer Grenze zu Adaption aufkommen. Die Komplexität dieser Frage-stellung spiegelt sich in den unterschiedlichen Sichtweisen und teilweise vagen Aussagen von Vertreter/innen der Translationswissenschaft wider.

Eine mögliche Definition für Adaption ist die Veränderung von Inhalten aus dem Original, während bei Übersetzungen der Inhalt beibehalten wird. In Bezug auf die Frage, ob bei Liedübersetzungen Inhalte verloren gehen oder verändert werden, bezeichnet Golomb jeg-lichen Akt des Übersetzens als „Opfer“: Das Original wird aufgegeben und durch ein Translat ersetzt (2005:122). Während des Translationsprozesses wird eine Reihe von Ele-menten „geopfert“: „sound for sense, accuracy for elegance, fidelity to a source text for communication with a target audience etc. etc.“ (ibid.). Dennoch ist Golomb – und viele andere Vertreter/innen der Translationswissenschaft – der Ansicht, dass Liedübersetzungen eine größere Herausforderung darstellen als herkömmliche Übersetzungsformen und daher bei der Bewerkstelligung dieser Aufgabe inhaltliche Abweichungen als Translation akzep-tiert werden, die bei anderen Textsorten inakzeptabel wären. Nach Low sind Kompromisse für die Anfertigung singbarer Übersetzungen aufgrund der Komplexität der Aufgabe nicht optional, sondern essentiell (Low 2013:230). Auch für Eugene Nida sind gewisse Ab-striche für ein erfolgreiches Ergebnis notwendig: „Because of the severe restrictions form places upon the song translator, he must make certain adjustments in order to accomplish anything at all“ (Nida 1964:177). Franzon sieht Adaption als potenziell einzige Option bei der Übertragung von Liedern in eine andere Sprache: „In song translation, adaptation may well be the only possible choice“ (Franzon 2005:265). Eine weitere mögliche Beschrei-bung der Übertragung von Liedern in eine andere Sprache ist für Franzon (2005:264) der von Jakobson geprägte Begriff „creative transposition“ (Jakobson 1966/1959:238), den Jakobson als einzige Möglichkeit für die Übersetzung von Gedichten nutzte (ibid.). Fran-zon unterscheidet in seinem Zugang zur Musicalübersetzung zwischen fidelity und format (2005:266). Fidelity steht dabei nicht nur für die inhaltliche Relation zum Original, son-dern auch für die Nachbildung gewisser Eigenschaften des Liedtexts: Reime, Vokallaute sowie semantische, stilistische, oder narrative Inhalte (ibid.). Format bedeutet „functional

22 design of a text for a presentational situation that involves non-verbal elements“ (ibid.), also der Einsatz der Elemente der fidelity in einer Weise, die mit dem Genre der Auffüh-rung vereinbar ist. Zwar müssen alle Übersetzungen für ihre Präsentation formatiert wer-den, im Bereich der audiovisuellen und multimodalen Übersetzung hat das Format jedoch eine übergeordnete Rolle, um als Zieltext in einer Zielkultur funktionieren zu können (ibid.). Das Erreichen von fidelity wird dadurch zu einer selektiven Aufgabe (ibid.). Die Übersetzerin/der Übersetzer eines Musicals arbeitet daher nicht nur als melodische/r Dich-ter/in, sondern auch als Dramatiker/in (ibid.:294). Franzon kommt in seinem Artikel zu dem Schluss, dass „what may once have been a perfect union can in translation only be a functionally balanced compromise“ (ibid.:292). Wie im vorigen Kapitel beschrieben, wä-gen Liedübersetzer/innen die unterschiedlichen Elemente eines Liedes ab und entscheiden dementsprechend über ihre Vorgangsweise. Sie wandern von einer „textual-semantic“ Ebene (ibid.:292) auf eine „contextual-functional“ Ebene (ibid.), um auf diese Weise dem Ausgangstext und dem Zielpublikum gerecht zu werden.

Lows Verständnis von Adaption geht mit einer Forderung nach einer Erweiterung des Be-griffs Übersetzung einher, der einen freien Umgang mit unbedeutenden Details erlaubt und gleichzeitig dem Ausgangstext halbwegs treu bleibt (Low 2013:230). Bei einer Liedüber-setzung kommt es zu einem umfangreichen Transfer des Ausgangsmaterials mit einem halbwegs hohen Grad an semantischer Treue (ibid.:231). In Franzons Artikel findet Low ein Beispiel für eine akzeptable inhaltliche Abweichung – dasselbe Beispiel zitieren Ap-ter/Herman (2016:58) als eine Veränderung, die noch keine Adaption ausmacht. Ein Ver-gleich mehrerer Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen von Bertolt Brechts Die See-räuber-Jenny aus der Dreigroschenoper zeigt, dass die Anzahl der Segel und Kanonen eines Schiffes in allen Versionen stark variiert (Franzon 2005:264). Diese Anzahl ist für den Verlauf der Erzählung irrelevant. Adaption ist für Low ein Zieltext, bei dem bedeuten-de Inhalte hinzugefügt, weggelassen obedeuten-der veränbedeuten-dert werbedeuten-den. Ausschlaggebend dabei ist, dass diese Änderungen für die Übersetzung unnötig sind und willentlich vorgenommen werden (Low 2013:230). Für ihn scheint eine Grenze zwischen Adaption und Translation daher klar erkennbar. Er zählt Neuversionen von Liedern, deren Zieltext frei zu existieren-der Musik geschrieben wurde, nicht zum Bereich existieren-der Translation und sieht dafür auch kei-nen Platz in der Translationswissenschaft:

I note in passing that some people ignore sense altogether: they take a foreign song-tune and devise for it a set of TL words which match the music very well but bear no semantic

23 relation with the ST. While this may at times be good and appropriate, it is not translating, because none of the original verbal meaning is transmitted. Such practices have no place in discussions of translation. (ibid. 2005:194)

Apter/Herman stimmen Low in diesem Punkt zu (Apter/Herman 2016:58). Die Frage nach einer Grenze zwischen Adaption und Translation beantworten sie im Kontext von Opern und ähnlichen dramatischen Werken mit „not changing anything major in the origi-nal“ (Apter/Herman 2016:58). Sie beschreiben einige konkrete Fälle von Adaption, die allerdings nicht zwangsläufig mit einem Sprachtransfer einhergehen. Unvollständige Wer-ke werden etwa aufgrund des Ablebens einer Komponistin oder eines Komponisten vor der Fertigstellung adaptiert (ibid.). Wird aus mehreren Versionen eines Stücks ein neues Stück, das Elemente aus mehreren Versionen aufnimmt, ist das für Apter/Herman eine weitere Form der Adaption (ibid.:59). Werke, deren Handlung in die Gegenwart der Zielkultur übertragen wird, stellen auch eine Form der Adaption dar. Die Gründe für solche Adaptio-nen sind häufig künstlerischer und/oder kommerzieller Natur (ibid.:60). Eine Art der Adaption, die Apter/Herman mit dem Sprachtransfer und direkt mit dem/der Übersetzer/in verbinden, ist das Verändern von Inhalten, die das Publikum eventuell nicht toleriert. Bei-spiele dafür sind Antagonisten, die ungestraft davonkommen oder rassistische und sexisti-sche Inhalte (ibid.). Als letztes stellen die beiden Autoren von Übersetzer/innen vorge-nommene strukturelle Veränderungen als Ausbesserung von subjektiv wahrgevorge-nommenen Mängeln im Originalwerk vor (ibid.:64). Für die letztgenannte Variante führen sie selbst angefertigte Adaptionen an (ibid.:64f.; vgl. zudem Apter/Herman 2016:58ff. für eine Dis-kussion der genannten Fälle von Adaption mit Beispielen).

Den von Low zitierten Fall, zu bestehender Musik einen neuen Text zu erstellen, definiert Franzon zwar linguistisch betrachtet nicht als Translation, sondern als ein „result of impor-tation and marketing of musico-verbal material between languages and cultures“ (Franzon 2008:380); er bezeichnet diesen Vorgang aufgrund des sprachlichen und kulturellen Trans-fers dennoch als eine translatorische Handlung. Bei Susam-Sarajeva stößt Low mit seiner Haltung, Texte, die semantisch nichts oder nur wenig mit dem Original gemeinsam haben, in der Translationswissenschaft nicht zu berücksichtigen, auf Kritik:

[…] ignoring such practices might mean missing out on very illuminating cases, both in terms of intercultural communication and of the social, cultural and linguistic practices prevalent in a given target system. (Susam-Sarajeva 2008:189)

24 In ihrer Monographie behandelt sie u.a. solche Neuversionen als Translation (vgl. ibid.

2015:97ff.). Auch andere Vertreter/innen betrachten solche Fälle als Translation. Senem Öner (2008) beschreibt einen Fall von kurdischen Volksliedern, die ins Türkische übertra-gen wurden. In keinem der Lieder wurde versucht, „to achieve a complete transfer of con-tent from the source lyrics“ (ibid.:240), stattdessen wurden Bezüge zur kurdischen Kultur, die in den Originalen nicht vorkommen, wie die Nennung von Orten oder kurdischen Volkstänzen hergestellt (ibid.:237f.). Die Autorin behandelt die türkischen Versionen als Übersetzung, der Begriff adaptation kommt in Öners Artikel nicht vor.

Für etwas mehr Differenziertheit bei diesem Thema wird hervorgehoben, dass Ap-ter/Herman ihre Aussagen zu dieser Frage im Kontext von Opern und ähnlichen Kunstfor-men tätigen. Low wendet seinen Zugang für alle ForKunstfor-men der Liedübersetzung an, während Susam-Sarajeva ihre Überlegungen zwar generell zur Liedübersetzung ausführt, selbst je-doch in den Genres der Populär- und Volksmusik arbeitet (vgl. Susam-Sarajeva 2006;

2015). Wie Franzon beschreibt, können in den unterschiedlichen Kunstszenen jeweils ei-gene Tendenzen beobachtet werden. Er bezeichnet die Beziehung zwischen Original und Zieltext im kommerziellen Musikmarkt als „often arbitrary“ (Franzon 2005:265), die Treue zum Original steht hinter dem Ziel einer erfolgreichen Produktion (ibid.:267f.). Demge-genüber steht ein „relative respect for the author in theatrical contexts“ (ibid.:265), die lite-rarische Integrität von Liedern in diesen Genres bleibt in der Regel Priorität. Musicals setzt Franzon in die Mitte des Spektrums zwischen kommerzielle Popsongs und literarische Liedformen (ibid.).

Der willkürliche Umgang mit Inhalten aus dem Original bei Popsongs lässt sich bei einem von Heloísa Pezza Cintrão (2009) untersuchten Fallbeispiel erkennen. Es handelt sich da-bei um Lieder des brasilianischen Musikers Gilberto Gil, der viele Lieder aus dem Engli-schen ins brasilianische Portugiesisch und einige seiner eigenen Lieder aus dem brasiliani-schen Portugiesisch ins Englische übertrug. Im Detail stellt Cintrão Gils Version von Ste-vie Wonders I just called to say I love you dem Original gegenüber und versucht Gils Ent-scheidungen, teilweise durch Aussagen in Interviews, nachzuvollziehen (Cintrão 2009:819ff.). Für den Vergleich der zwei Versionen gliedert sie die Strophen in semanti-sche Felder und vergleicht Original mit Neuversion. Der untersuchte Einzelfall ist für Cintrão klar eine Adaption und keine Übersetzung. Gils Version bewegt sich zwar groß-teils in denselben Themenfeldern wie das Original, was für sie jedoch nicht ausreicht, um diese als Translation zu sehen (ibid.:823ff.).

25 Ein Beispiel für den in der Mitte zwischen Popmusik und literarischen Genres angesiedel-ten Fall Musical findet sich bei Stella Sorby. Sie beschreibt einen weiteren Grund für die Veränderung von Inhalten: das Copyright. 1997 erschien in Hong Kong eine erfolgreiche kantonesische Musicalproduktion, die an George Bernard Shaws Pygmalion und dem Broadway Musical My Fair Lady angelehnt war. Das ursprünglich als Übersetzung des Broadway Musicals geplante Projekt musste angepasst werden, da das Copyright es verbot, das Stück in einer anderen Sprache als Englisch aufzuführen (Sorby 2011:59f.). Dieses Beispiel weist einerseits einen hohen Grad an Treue für die Originalhandlung auf, während viele andere Elemente an örtliche und kulturelle Gegebenheiten angepasst wurden. Die Adaption hielt sich nah an die Handlung, Figuren und viele Szenen, wurde aber kulturell, zeitlich, örtlich und sprachlich nach Hong Kong verlegt (ibid.:59). So wurde beispielsweise der Taishan-Dialekt als Repräsentation für die Unterklasse und das Kantonesische und Englische für die Oberklasse verwendet, was die Realität Hong Kongs während der Kolo-nialzeit widerspiegelt (ibid.:63). Das ergab den Vorteil, Wortspiele mit diesen drei Spra-chen einbauen zu können. Dem Protagonisten und der Protagonistin wurden chinesische Namen gegeben, die phonetisch an die englischen Namen angelehnt sind und semantisch die Charakterzüge unterstreichen und gleichzeitig doppeldeutige Wortspiele zwischen dem Taishan-Dialekt und dem Kantonesischem erlaubten (ibid.:62f.). Wie Franzon, befindet auch Sorby den Erfolg beim Zielpublikum als einen wesentlichen Punkt, nach dem sich Übersetzer/innen richten sollten:

Musicals are products for consumer-oriented popular arts entertainment, and therefore the translators‟ prime considerations are to ensure their artistic and commercial appeal to the audience. (Ibid.:69)

Die Frage nach Translation oder Adaption ist für Sorby sekundär, es gibt für sie keine Trennlinie zwischen Translation und Adaption, sondern „a cline of natural interaction between them“ (ibid.).

Die Frage nach einer Definition von Translation und Adaption im Kontext von Musik kann nur für einige Vertreter/innen klar beantwortet werden. Apter/Herman mit ihrem langjähri-gen Hintergrund in Opernübersetzung beschreiben konkrete Beispiele von Adaption und scheinen für sich eine Grenze definieren zu können, diese liegt bei groben inhaltlichen Veränderungen, die nicht unbedingt an den Sprachtransfer gekoppelt sein müssen. Wäh-rend Lows Verständnis von Translation eng an die inhaltliche Relation zum Ausgangstext gekoppelt ist, fordert Susam-Sarajeva ein weiteres Verständnis von Translation. Cintrão

26 nimmt eine weniger radikale Stellung als Low ein. Franzon und Sorby hingegen sehen eine Unterscheidung für Lieder als wenig relevant bzw. kaum erkennbar. Diese Ansichten re-flektieren zwar teilweise die vorgestellte Unterscheidung nach Genres, die zitierten Au-tor/innen selbst haben diesen Genrekategorien bei ihren Erläuterungen keine Bedeutung geschenkt. Dennoch kann die Einteilung nach Genres nicht als allgemeingültige Grenze gesehen werden, die angeführten Beispiele reichen dazu auch bei weitem nicht aus. Aus diesem Kapitel geht jedoch hervor, dass nur darüber Einigkeit herrscht, dass inhaltliche Elemente bei Liedübersetzungen nicht wie bei anderen Textsorten oberste Priorität haben.

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