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Vergängliche Ewigkeit und andauernder Augenblick

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 123-126)

Die Zeitproblematik des menschlichen Daseins scheint allerdings allein durch die kritische Historie nicht tatsächlich erlöst werden zu können. Neben der Forderung der kritischen Historie fehlt noch die Ergründung der Zeit. Erst in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen hat Nietzsche Mittel und Wege gefunden, über die gegenläufigen Momente von Augenblick und Ewigkeit eine Brücke zu schlagen und Schopenhauers pessimistische Willensdeutung in Willensbejahung umzubilden.140

ohne zu denken, reden ohne zu reden. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das Freisein von Gefühlen der Zuneigung. Vgl. Hubert Schleichert, Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung, a.a.O., S.

128.

140 Achim Geisenhanslüke, „Der Mensch als Eintagswesen“, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 139.

Nietzsche hat seinem letzten Werk Ecce homo einen seltsamen Untertitel gegeben: „Wie man wird, was man ist“. Das kündigt an: Nietzsche ist schon seit Beginn sein Selbst gewesen und letztlich auch Selbst geworden.141 Er hat in Ecce homo sein gesamtes schriftliches Schaffen bis hin zur Geburt der Tragödie als Anschauungsweise von „wie man wird, was man ist“ rückblickend dargestellt. Diese eigenartige Selbstdarstellung ist sein Selbstverständnis in Bezug auf sein eigentliches Denken und Leben. Die These, man wird, was man ist, ist zweifelsohne ein bedeutender Schlüssel zu Nietzsches widerspruchsvollem, rätselhaften Gedankenexperiment. Aber wie lässt sich dieser Zirkel zwischen „wie“ und „was“ im Hinblick auf Nietzsches Zeitlichkeit begreifen? Was ist der eigentliche Nietzsche? Wie oder wodurch ist er zum seinen eigenen Selbst geworden? Was ist eigentlich in Nietzsches Selbstverwandlung passiert?

Selbstverwandlung ist in Nietzsches Augen ein Prozess der Selbstheilung. Im Ecce homo finden wir Nietzsches Äußerung: „ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie“ (EH, Warum ich so weise bin 2; KSA 6, S. 267). Philosophieren ist für Nietzsche ein Kampf gegen die geschichtlich-kulturelle Krankheit. Pessimismus, Christentum und Nihilismus werden als Décadence und Krankheit bezeichnet. Bevor Nietzsche sein eigenes Selbst „gefunden“ oder „erkannt“ hatte, blieb er wie Schopenhauer ebenso ohnmächtig auf die Lösung und Erlösung der Zeitproblematik fixiert und sehnte sich nach einer Rechtfertigung für das Leben. Man kann sagen, erst durch das ekstatische bzw.

mystische Erlebnis von Sils-Maria im Sommer 1881 ist Nietzsche ganz und eigentlich er selbst geworden. Erst daraus hat er seine eigene Lehre, sein Philosophieren, sogar sein eigenes Selbst gefunden.142 Diese geistige Verwandlung ist zwar für ihn wesentlich fast unvermittelt und nicht mitteilbar gewesen, er schreibt jedoch einen oft zitierten Brief an Heinrich Köselitz und erzählt sein sprachloses Gefühl, das individuell und nicht mitteilbar ist, auch wenn Nietzsche wiederholt versucht hat, das Unsagbare zu sagen. So schreibt Nietzsche

141 Okochi Ryogi, Wie man wird, was man ist. Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht, Darmstadt 1995, S.

65ff.

142 Okochi Ryogi, Wie man wird, was man ist. Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht, a.a.O., S. 66f.

folgendes:

„Nun, mein lieber Freund! Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und freundlicher auf Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe, ― davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten. Ich werde wohl einige Jahre noch weiter leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen, ― schon ein paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren ― wodurch?

Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Tränen, sondern Tränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich allen Menschen voraus habe […]“ (An Heinrich Köselitz, 14. 8. 1881; KGB 6, S. 112).

Der Brief zeigt, dass Nietzsche nicht in der Lage war, sein Denken in Sprache zu bringen, sondern umgekehrt, dass das Denken ihn überfallen hat. Er ist dabei völlig passiv und hat offensichtlich überglückliche Freude gehabt. In jenen Stunden der Ekstase hatte Nietzsche eine Grenzerfahrung, in der er die Welt nicht nur denkt, sondern sie „erlebt“. Die Welt ist in ihm, als Wirklichkeit mit seinem Selbst vereint. Das mystische Erlebnis ist ein solches Einheitsgefühl, das eigene kleine Ich mit dem Andern zu vereinigen, mit der Ganzheit. Das wirkliche Denken ist Nietzsche zufolge nicht getrennt von dem Erleben, das den ganzen Leib erschüttert. Philosophieren ist dann die Partizipation an der Realität. Das außergewöhnliche Erlebnis lässt sein Denken und Leben, Geist und Körper harmonisch in einer Realität verschmelzen. Was vorher nur im Kopf als Hypothese gedacht ist, kommt im Nu einverleibt zur organischen Ganzheit von sich selbst. Diese einheitliche Verwandlung war nicht nur für Nietzsches persönliches Leben bedeutsam, sondern es deutete sich damit zugleich eine philosophische Überwindung an. Ein neuer Blick ist von nun an bedeutsam für Nietzsche, damit er später in seinem Umwertungsversuch das dualistische Verstandesdenken (Subjekt

und Objekt, Geist und Material, Mensch und Welt, Sein und Werden, Wahrheit und Lüge, Zufall und Notwendigkeit, Augenblick und Ewigkeit) überwinden kann. Alle begrifflichen Grenzziehungen und das Subjekt-Objekt-Schema werden abgelehnt, stattdessen wird die Einheit aller Momente der Welt bzw. des Lebens betont. Die metaphysische Suche nach Ewigkeit zwingt laut Nietzsche „ebenfalls zu einem Glauben an die ‚ewige Wiederkunft‘“ (Nachlass 5 [71]; KSA 12, S. 213).

Nietzsche schreibt im Anschluß an sein Wiederkunftserlebnis im August 1881 (Nachlass 11[141]; KSA 9, S. 495): „Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch.“ „Gleichgültigkeit“ ist keineswegs mit Untätigkeit und Handlungsunfähigkeit zu verwechseln. Sie ist eher eine gleichmütige Einstellung, die ermöglicht, dass wir sowohl das Lustvollste als auch das Schrecklichste unseres Daseins in jeweils gleicher Gültigkeit zur Kenntnis nehmen und in beiden Fällen denselben Genuß der Anschauung empfinden.143 Dabei besteht die tiefe Wirkung darin, dass wir uns nach Zeit und Ort und im richtigen Rhythmus darauf einzustellen wissen. Die Akzeptanz der ungewollten Sinnlosigkeit des Daseins wird uns verwandeln. Damit kommen wir zum Thema der Sinnlosigkeit und Selbstbejahung.

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 123-126)