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Macht und instinktives Handeln

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 69-72)

Was ist gut? Darauf antwortet Nietzsche: „Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.“ Und Glück ist „das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird“ (AC; KSA 6, S. 170). Die Macht ist für Nietzsche ein weitester, reichster Zielbegriff, weiter als das Gute oder das Glück. Sie ist dennoch kein beliebiges Ziel, sondern ein innerer Zweck, der in der Zielrichtung des Willens selbst liegt. Das heiβt, „Wille zur Macht“ bedeutet nach Nietzsche ein inneres Streben nach Selbstgestaltung und Selbststeigerung, für das alles Geworbene und Gewordene nur ein äußeres und vorläufiges Ziel darstellt. Die Macht wird statt aller Einzelziele und Einzelzwecke bei Nietzsche als eigentliches Strebensziel von menschlichen Handlungen bezeichnet. Gegenüber Aristotels ordnet Nietzsche Glück und Lust als begleitende Epiphänomene von Macht ein: „Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück in dem

73 Volker Gerhardt, „Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität“, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S.

38.

herrschend gewordenen Bewußtsein der Macht und des Siegs“ (Nachlass 14[70]; KSA 13, S.

254). Nietzsche begreift „Wille zur Macht“ als das eigentliche Ziel des Lebens und als den

„Instinkt zur Freiheit“ (GM, 2. Abh., Nr. 18; KSA 5, 326).

„Instinktives Handeln“ ist für Nietzsche die eigentliche Lenkvorrichtung der menschlichen Handlungen. Es ist zielstrebig, wobei das Ziel nicht unbedingt ein bestimmtes Objekt oder ein bestimmtes Ergebnis zu sein scheint, sondern allein die Auslösung der spontanen, selbstgenügenden Handlung. „Instinktiv handeln“ bedeutet, dass wir tun, was wir wirklich gern tun, und zwar spontan, ohne dazu gezwungen werden zu müssen. Somit ist „instinktives Handeln“ zugleich ein selbstgenügendes Handeln, weil es ein Endziel nicht mehr voraussetzen muss. In seinen Aufzeichnungen von 1881 schreibt Nietzsche:

„Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Er hat sein Wachsthum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn. Zwischen-Stufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist“ (Nachlass 11 [164]; KSA 9, S. 505).

Macht ist folglich ein Zeichen des Guten. In der Selbstgestaltung und Selbststeigerung von

„Wille zur Macht“ erleben wir das Gute als hinreichend, und in jedem Augenblick erfahren wir dabei „ein geistiges und sinnliches Vollendungs-Gefühl“ (Nachlass 25[451]; KSA 11, S.

133). Philosophie als Liebe zur Weisheit ist für Nietzsche ein Bejahen, das alles Werden rechtfertigt. Weil es kein Gutes an sich, ein jenseitiges Sein gibt, ist die Bejahung des Werdens, Wille zur Macht selbst das Sein, das Leben und nichts auβerdem.

Beachtenswert ist auch, wenn Nietzsche sagt: „Alles Gute ist Instinkt ― und, folglich, leicht, notwendig, frei“ (GD; KSA 6, 90). Gemeint ist nicht, dass wir beliebig nach unserem Trieb nur unbewusst und unvernünftig handeln. Es weist eher darauf hin, dass wir verneinendes, negatives Denken in ein positives Selbstsein verwandeln sollen. Wir erschaffen neue Wege zur Kraft und Einheit unseres Lebens, sofern wir „instinktiv handeln“. Deshalb ist in den

Augen Nietzsches der Instinkt nicht bloβ irrational, sondern auch der Grund der Vernunft, oder um „das Wissen sich einzuverleiben“ (FW, Nr. 11; KSA 3, S. 382f). Wenn man außerdem

„seinem Temperamente“ aber nicht „seinen Principien“ folgt, erscheint er weit häufiger

„charaktervoll“ (MA 1, Nr. 485; KSA 2, S. 317).

Hier ergibt sich allerdings ein Problem: Der Begriff Macht kann zur Eigenrechtfertigung mißbraucht werden. Man könnte eine grausame Tat als „instinktives Handeln“ so rechtfertigen:

Ich darf jemand gewalttätig behandeln, weil ich einen Drang dazu habe. Es scheint, als ob bei Nietzsche ein Kriterium fehlt, wann man die Macht auch tatsächlich ausüben darf. Wenn eine sachliche Unterscheidung nicht möglich ist, wie könnte man dann Nietzsches Denkansatz konstruktiv nutzen?

Dieses Problem entsteht, wenn Nietzsche die Begriffe von Instinkt und Vernunft gegeneinandergesetzt hätte. Bei näherem Zusehen erkennen wir jedoch, dass „instinktives Handeln“ nicht bedeutet, unvernünftig oder ohne Reflexion extrem zu handeln. „Instinkt“ ist für Nietzsche kein biologischer oder psychologischer Begriff, der ein rein ererbtes und zweckmäßiges Handeln bezeichnet, das nicht erlernt zu werden braucht. Nietzsche weiß genau, dass die Eigenart des Menschseins darin besteht, dass er die Instinkte beherrschen, überbauen und durch Einsicht und Willen überformen kann. Wer wirklich instinktiv und frei handeln kann, muss zuerst sich selbst beherrschen und Einsicht haben, um richtig zu handeln.

Freiheit geht so weit, wie es die Selbstbeherschung erlaubt. Der Mensch ist seit langer Zeit immer vernünftiger geworden und hat endlich vergessen, dass seine Vernunft aus Leidenschaft, aus Sehnsucht entspringt. Nietzsche hat zwar in der Götzen-Dämmerung ausdrücklich geäußert, dass der Begründer der philosophischen Ethik, Sokrates, ein

"decadentes" ist. Mit der Vernunftkritik unternahm Nietzsche seine Aufgabe der Kulturkritik.

Aber er weiß auch ganz genau, dass die menschliche Kultur ohne Vernunft nicht denkbar ist.

Seine Betonung des Instinkts richtet sich ausschlaggebend auf die Bedingung einer schöpferischen Produktivität der Kultur.

Zunächst ist es zwar deutlich, dass der Begriff Instinkt bei Nietzsche in erster Linie von

ästhetischen Aktivitäten oder einer schöpferischen Lebensform handelt. Bei all dem darf nicht übersehen werden, dass er auch für den Bereich der Ethik gilt, weil „instinktives Handeln“ mit Blick auf den Machtbegriff bei Nietzsche ein Zeichen des Guten ist. Denn

„instinktives Handeln“ bezeichnet die innere Nötigung und Unabhängigkeit der Selbstgestaltung. Und was eigentlich eine richtige Handlung ist, entsteht allein aus dem, was wir aufgrund des Prinzips der Selbstgestaltung tun können und müssen.

Selbstverständlich verstehen wir im Grunde genommen das Wort „gut“ nicht bloβ subjektiv.

Besonders bei moralischen Urteilen ist das Wort objektiv gemeint. Das heiβt, was gut ist, ist nicht nur für mich selbst gut, sondern auch für jedes andere menschliche Wesen, sogar auch für alle Lebewesen. Nietzsche hat allerdings in Jenseits von Gut und Böse gesagt: „Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ und „‘Gut’ ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein ‘Gemeingut’

geben! Das Wort widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth“ (JGB, Nr. 43; KSA 5, S. 60). Hat Nietzsche tatsächlich die grammatisch absolute Verwendung des Wort „gut“ geleugnet? Das Motto Nietzsches „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ gilt bis heute als die gröβte Bedrohung, als die Zerstörung von Wissenschaft und Moral.

Wenn es nicht mehr ein letztes Ziel gibt, auf das alles zuläuft, und ein Sprechen von Objektivität im absoluten Sinn auch nicht möglich ist, was und wie wird dann etwas als Wahrheit und Richtigkeit bezeichnet? Um das zu klären, ist nun abschlieβend von dem Perspektivismus die Rede.

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 69-72)