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Menschliches Leben und Moral

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 100-104)

Im Rahmen des Christentums wird die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ in der Figuration von „Gott“ und „Teufel“ etabliert. Mit dieser Dichotomisierung der Welt in

„gut“ und „böse“ wird eine Ordnung geschaffen. Moral erscheint als ein gesellschaflicher Sinnzusammenhang, als nachträgliche Rationalisierung und Legitimierung von Herrschaft.

Mit ihr wird das „schlechte Gewissen“ als soziale Steuerungs- und Kontrollinstanz etabliert.

Das „schlechte Gewissen“ wird in den Individuen entwickelt, verankert und verstärkt. Dazu dienen moralische Institutionen wie Gerechtigkeit, Verbrechen, Strafe, Schuld, die Nietzsche als Rationalisierungen lebendiger Empfindungen und Affekte begreift. Diese Rationalisierungen haben sich der menschlichen Geschichte als Zwang entwickelt. So schreibt Nietzsche:

„Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft ― und heisst nun Tugend“ (MA I, Nr. 99; KSA 2, S. 96).

113 Volker Gerhardt, „Nachwort: Philosophie als Schicksal“, in: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 2002, S.

223-230.

Mit dem „Tode Gottes“, mit der Destruktion der Metaphysik, mit dem Versuch, eine Position jenseits von „gut“ und „böse“ einzunehmen, werden anthropologische Perspektiven entwickelt. Die Theologie ist für Nietzsche tot, an ihre Stelle tritt die Anthropologie. Die Moral ist nicht länger ein Problem der Theologie und der Metaphysik; sie wird zu einem Problem der Anthropologie. D.h. mit der Frage „Warum sollen und können wir moralisch handeln?“ geht es nicht mehr um eine „intelligible Welt“, sondern sie beruht allein auf einer philosophischen Reflexion aufgrund von empirischen Überprüfungen. Dabei werden die psychologischen und soziologischen Existenzbedingen von menschlichem Handeln historisch überprüft und philosophisch kritisiert. In diesem Sinne gilt Nietzsche immer noch als ein Aufklärer. Aber anders als seine Vorgänger der Aufklärung wie Voltaire oder Kant, hat Nietzsche nicht nur die Autonomie des Handelns radikalisiert, sondern stellt die elementarste Frage: „Was ist das Leben überhaupt werth?“ (ZG 1; KSA 1, 809) Wird die Möglichkeit autonomen, d.h. vernünftigen und moralischen Handelns angenommen, muss auch die Möglichkeit selbstbestimmten unmoralischen Handelns ins Auge gefasst werden. Die Wertfrage von Moral steht von Anfang an unter der Prämisse, dass alle Aufmerksamkeit auf das menschliche Leben konzentriert ist. Dabei geht Nietzsche davon aus, dass die Moralfrage sich nur im Lebenszusammenhang selbst beantworten lässt. Bevor wir die Frage „wozu sollen wir moralisch sein?“ beantworten, müssen wir zunächst die Sinnfrage „wozu sollen wir leben?“ stellen.

Nietzsche griff alle Normen seiner Zeit an, die hauptsächlich vom Christentum geprägt wurden. Er erklärte Gott für tot und behauptete, dass die Moral den Menschen dumm mache.

Die Moral ist laut Nietzsche nur ein von schwachen Menschen geschaffener Abgott. Das Christentum geht Hand in Hand mit der Moral und die schwachen Menschen glauben, nicht weil sie es wollen, sondern weil sie Angst davor haben, nicht zu glauben. Die notwendige historische Folge der christlichen Moral ist dann der Nihilismus, weil Moral gerade die

„Wahrhaftigkeit“ verlangt. Im Lenzer Heide-Fragment schreibt Nietzsche wie folgt:

„Aber unter den Kräften, die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessirte Betrachtung ― und

jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als Stimulans. Zum Nihilismus. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen: ― ergiebt einen Auflösungsprozeß“ (Nachlass 5 [71]; KSA 12, S. 211).

Nietzsche sieht seine eigentliche philosophische Aufgabe in der „Umwertung aller Werte“, indem er sich kompromisslos mit den überlieferten Werten auseinandersetzt und dabei bis in einen Bereich jenseits von Gut und Böse gelangt. Die neuen Werte verlangen einen philosophisch begründeten Entwurf von Orientierungen künftigen Handelns. Diese philosophische Begründung der Umwertung aller Werte hat Nietzsche mit einer Theorie des

„Willens zur Macht“ und mit der Hypothese von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zu geben versucht. Und was Nietzsche „Nihilismus“ nennt, kann auch als eine multikulturelle Welt verstanden werden, in der wir gegenwärtigen modernen Menschen leben. Das Ende des einen absoluten Wertes bedeutet zugleich die Ära der vielfältigen konkurrierenden Werte. Der aktive Nihilismus fordert, soziale Bedingungen zu schaffen, die allen Menschen den Freiraum geben, den sie für ihr kreativen selbstbestimmte Werte brauchen.

Nietzsche unterscheidet in seinen Aufzeichnungen zwei Formen des Nihilismus: einen passiven, dekadenten, philiströsen und die Lebensfunktionen des Menschen lähmenden Nihilimus sowie einen aktiven, individuell durchlittenen, stark machenden Nihilismus. Das Negative verkleidet sich in Religion, Moral, Metaphysik. Beim passiven Nihilismus drückt sich der „Wille zur Macht“ destruktiv und krankhaft aus. Die Schwachen müssen die Taten der Starken erleiden und wollen daher nur in Ruhe gelassen werden. Das Erstaunliche ist die Kraft dieser Werte der Schwachen, die sich im Geschichtsprozess gegenüber den Werten der Starken durchsetzen. Moral begreift Nietzsche als die Rache der Niedrigen und Unterdrückten, mit deren Hilfe sie die Herrschaft erlangen, indem sie die bisherigen Herrscher und Teile ihrer eigenen Natur unterdrücken. Das Ressentiment der Schwachen, das daraus entsteht, dass sie

die Handlungen der Starken erleiden müssen, die sich an den Wirkungen ihres Handelns erfreuen, wird selbst zu einer neue Werte schaffenden und durchsetzenden Macht.

Moral ist in Nietzsches Auge eine destruktive Macht, die eine „Selbstzertheilung des Menschen ist“ (MA 1, Nr. 57; KSA 2, S. 76). Denn „in der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum“ (ebenda). Der Mensch verliert die Totalität seiner Existenz, weil er bei moralischem Handeln den allgemeinen Interessen folgen und seine individuellen Interessen unterdrücken muss. Nietzsche diagnostiziert das so:

„Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das gröβere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung“ (JGB, Nr. 262; KSA 5, S. 216).

Anders als die destruktive Macht in der Moral mündet der positive Nihilismus dagegen in der bejahenden Anerkennung des „Willens zur Macht“. Das „Individuum“ handelt nicht nach dem Maβstab der konventionellen, herkömmlichen Moral, sondern seiner eigenen Gesetzgebung.

Die alte Moral, die die Herden-Gemeinschaft sichert, wird durch eine neue, vornehme

„Herrenmoral“, die eine gefährliche und unheimliche, aber offene, facettenreiche Dimension eröffnet, ersetzt. „Herren“ begreift Nietzsche als aktive Tiere, als „Raubtiere“, die auf Grund ihrer Natur andere unterdrücken. Für sie besteht Glück darin, ihre Triebe, Begierden und Wünsche auszuleben und zu handeln. Der Űbermensch, der die dionysische, von Lustgefühlen bestimmte Lebensweise befolgen muss, werde die Schwachen zu seinen Dienern machen. Er hat sogar das Recht, sie zu zerstören. Dies ist ein Satz, der in all seiner Einfachheit später zu weitgehenden Interpretationen geführt hat und ist ein Grund dafür, warum Nietzsches Lehren sehr unüberlegt klingen.

Im Dokument Der Wanderweg der Selbsterkenntnis (Seite 100-104)