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Verfahrenszentrierte Deutungsmuster

Im Dokument Lokale Agenda fürglobale Probleme? (Seite 47-51)

2 Grundzüge der Debatte um Nachhaltigkeit

2.4 Verfahrenszentrierte Deutungsmuster

Einen fundamental anderen Zugang zur Interpretation von Nachhaltigkeit haben diejenigen Ansätze, welche die Idee einer gleichmäßigen Berück-sichtigung divergierender Interessen und deren Ausgleich zum Bezugs-punkt nehmen. Diese betonen vor allem den Prozesscharakter von Nach-haltigkeit. Was den Stempel „nachhaltig“ verdient, kann nicht per Expertenmeinung von außen vorgegeben werden, sondern muss erst unter Einbindung der verschiedenen Interessenträger in einem offenen Lern-, Such- und Gestaltungsprozess63 ermittelt werden. Wo es zwischen den Zielkategorien ökologisch, wirtschaftlich und sozial zu Konflikten kommt, kann nur gemeinschaftlich ein Kompromiss gefunden werden, da es sich letztlich um eine Wertentscheidung handelt. Dieser Kompromiss kann auch in einem von allen als fair empfundenen Verfahren bestehen.

Die gesellschaftlich relevanten Entscheidungen müssen daher offen, transparent und vor allem „herrschaftsfrei“ getroffen werden. Bereits im Brundtland-Bericht findet sich die Überzeugung, dass sich die Gesell-schaft umgekehrt auch nicht von der Verantwortung für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung befreien kann:

„Bislang lag die Verantwortlichkeit für Umweltbelange bei Umweltministerien und Institutionen, die oft wenig oder keine Kontrolle hatten über Fehler, die durch Entscheidungen und Praktiken in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie- und Stadtentwicklung, Forstwirtschaft und Verkehr entstanden. Die Gesellschaft kann die Verantwortung dafür, Umweltschäden zu

62 Vgl. Rennings: Economic and Ecological Concepts of Sustainable Development, S. 49 f.

63 Vgl. Enquête-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des 13. Deutschen Bundestages (Hrsg.): Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit. Berlin, Heidelberg, New York u. a.: Springer 1998, S. 19.

verhindern, nicht an einzelne Ministerien und Institutionen, die für diese Schäden die Verantwortung tragen, abgeben.“64

Marion Caspers-Merk, Vorsitzende der Enquête-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ des 13. Deutschen Bun-destags, formuliert hierzu: „Wenn wir die Zukunft meistern wollen, muss der Prozess der Nachhaltigkeit auf allen Ebenen von Staat und Gesell-schaft gleichzeitig laufen – sowohl auf der Regierungsebene als auch im Kindergarten.“65

Top-down-Formalisierungen von Nachhaltigkeit, die bei den ökono-mischen Operationalisierungen die Regel sind, stehen die Anhänger verfahrenszentrierter Interpretationen im Grundsatz skeptisch gegenüber.

Neben dem Argument, dass Werturteile nicht einem Expertengremium überlassen bleiben dürfen, werden die geringen Durchsetzungschancen solchermaßen definierter Wunschzustände sowie der Mangel an Regeln zur Konfliktlösung angeführt, da es sich bei Nachhaltigkeit ja nur um einen Konsens auf der Metaebene, nicht aber in den Einzelfragen hand-le.66 Die gedankliche Zweiteilung und Zweistufigkeit von Nachhaltigkeit in eine normative Zielfindungs- und eine umsetzungsorientierte Instru-mentalebene, in der die Zielvorgaben operationalisiert und in politische Handlungsprogramme transformiert werden, lehnen sie aus den genann-ten Gründen ab.67 Als prozessual orientierte Nachhaltigkeitsinterpretatio-nen lassen sich trotz z. T. fließender Grenzen die folgenden vier Ansätze bzw. Argumentationslinien in der Debatte ausmachen:

Das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit68 bringt die Vorstellung dreier gleichgewichtiger Ziele zum Ausdruck. Die drei Säulen Ökologie,

64 Hauff: Unsere gemeinsame Zukunft, S. 43 f.

65 Deutscher Bundestag (Hrsg.): Stichwort Nachhaltigkeit. Der Zukunft eine Chance. Ber-lin: 2000, S. 30.

66 Vgl. Feindt, P. H. (unveröffentlichtes Manuskript): Policy-Lernen und die Institutionen des Nachhaltigkeitsrats in der Schweiz, Beitrag für: Minsch, J. / Schulz, T. / Wepler, C.

(Hrsg.): Der Nachhaltigkeitsrat im Gespräch, S. 6.

67 Vgl. Homann, K.: Sustainability. Politikvorgabe oder regulative Idee? In: Gerken, L.

(Hrsg.): Ordnungspolitische Grundfragen einer Politik der Nachhaltigkeit. Baden-Baden:

Nomos 1996, S. 34 ff.

68 Dies wurde von P. Klemmer in den Bericht der Enquête-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ (1998) eingebracht.

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Ökonomie und Sozialverträglichkeit tragen gemeinsam zum Leitbild nachhaltige Entwicklung bei, das, bildlich gesehen, in Form eines Daches auf ihnen ruht. Die Wechselwirkungen zwischen dem ökologischen, sozi-alen und wirtschaftlichen System, die im Brundtland-Bericht plakativ für die Länder der Dritten Welt aufgezeigt werden,69 verselbstständigen sich in dem Modell zu einer eigenständigen Interpretation des Begriffs: Nach-haltiges Handeln erfordert eine integrative Berücksichtigung der drei Dimensionen in allen Entscheidungen, die in dem Modell zu einem Ziel

„verschmelzen“.70 Hieraus folgt, dass nachhaltiges Handeln nicht einma-lig und eindeutig zu definieren ist, sondern einen immerwährenden Ab-wägungsprozess zwischen den drei Bereichen auf allen Ebenen der Ent-scheidungsfindung erforderlich macht.71

Angesichts der Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen, im Nachhaltigkeitskonzept prinzipiell gleichberechtigten Interessen zu ver-mitteln und Kompromisse herbeizuführen, stellen demokratietheoretische Deutungen den partizipativen Charakter des Nachhaltigkeitsprozesses heraus. Wie bereits in der Agenda 21 mit der Forderung nach „Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen“ enthalten, liegt der Schwerpunkt dieses Deutungsmusters auf der kontinuierlichen Einbindung aller betroffenen Gruppen in den Entscheidungsfindungsprozess. Zu der Ergebnisgerech-tigkeit, wie sie in anderen Nachhaltigkeitsinterpretationen definiert wird, muss die Verfahrensgerechtigkeit hinzutreten.72 Die inhaltliche Spezifie-rung der abstrakten Nachhaltigkeitsziele ist insofern untergeordnet, als sie sich erst unter der Voraussetzung einer hinreichenden Repräsentanz aller Interessen im Diskurs ergeben kann. Untersuchungsthemen, auf die sich daher das Augenmerk richtet, liegen in der Erforschung geeigneter au-ßerparlamentarischer Institutionen der Interessenvertretung und der Kon-sensbildung, wie etwa Mediationsprozessen, Runden Tischen und

69 Vgl. Hauff: Unsere gemeinsame Zukunft, S. 4 f.

70 Kopatz, M.: Lokale Nachhaltigkeit. Vom internationalen Diskurs zur Umsetzung in Kommunen. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1998, S. 23.

71 In einigen Darstellungen wird das Drei-Säulen-Modell als das überspannende Grund-modell von Nachhaltigkeit interpretiert, in das sich die ökologie-, ökonomie- und sozial-zentrierten „Unter“-Ansätze einfügen, vgl. z. B. Kopatz: Lokale Nachhaltigkeit, S. 23.

72 Vgl. Feindt, P. H.: Nachhaltigkeit, Urbanität, Identität und Partizipation, in: Birzer, M. / Feindt, P. H. / Spindler, E. A. (Hrsg.): Nachhaltige Stadtentwicklung. Konzepte und Projekte. Bonn: Economica 1997, S. 41.

ren Diskussionsforen. Ein prinzipielles Problem besteht in der Integration der Interessen zukünftiger Generationen in die gesellschaftlichen Ent-scheidungsverfahren.

Gänzlich ohne eine konkrete Operationalisierung kommt auch Ho-manns Einschätzung von Nachhaltigkeit als regulative Idee aus.73 Ähn-lich wie Gesundheit, Freiheit und Wohlstand ist Nachhaltigkeit ein offe-ner Begriff, dessen politische Wirksamkeit nicht eine operationale Definition voraussetzt. Vielmehr dient er als „Heuristik der Reflexion“

einer groben Richtungsvorgabe, die ohne den Anspruch auf konkrete Problemlösungen den gesellschaftlichen Suchprozess strukturiert, unter einem einheitlichen Fokus zusammenführt und Bewertungen ermöglicht.

Eine intuitive Vorstellung dessen, was der Begriff beinhaltet, ist zur Über-nahme dieser Funktionen ausreichend. Nachhaltigkeit als regulative Idee stellt zwar keine fertige Lösung in sich dar, schafft aber die notwendigen Voraussetzungen, derer es bedarf, um im Detail die richtigen Fragen zu stellen und in nicht autoritär verfassten Gesellschaften zu zustimmungs-fähigen Einzellösungen zu gelangen.

Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgen Ansätze, welche die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit betonen. Als „vierte Säule“ – wie sie häu-fig bereits genannt wird – trägt sie vor allem zur Motivation von Mschen bei, sich für umwelt- und gerechtigkeitsorientierte Themen zu en-gagieren. Sie stellt somit eine Art Metavoraussetzung für die Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen dar. Werte, Wertbindungen und ethische Grundhaltungen bilden das gesellschaftliche Kapital, dessen es bedarf, um einem „rücksichtslosen individuellen Vorteilsstreben“ Einhalt zu gebieten. Als für eine nachhaltige Entwicklung relevante Wertbindungen führt Spitzer die Attribute Ehrlichkeit, Konsistenz von Reden und Tun, Bereitschaft zum Dienen ohne Unterordnung, Bereitschaft zum Geben und Nehmen sowie Respekt vor sich selbst, vor anderen und vor der gan-zen belebten Welt an.74

73 Vgl. Homann: Sustainability, S. 33 ff.

74 Vgl. Spitzer, H.: Fünf Ebenen der Nachhaltigkeit, in: Birzer, M. / Feindt, P. H. / Spind-ler, E. A. (Hrsg.): Nachhaltige Stadtentwicklung. Konzepte und Projekte. Bonn: Econo-mica 1997, S. 66.

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