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Veränderte Bedingungen

Im Dokument 1. Landespräventionstag Sachsen-Anhalt (Seite 169-173)

Dr. Karlheinz Thimm

1. Bestandsaufnahme: Jugend in der Schule

1.1. Veränderte Bedingungen

Heute zeigen sich im Zuge des sozialen Wandels tief greifende Veränderungen in den Lebensbereichen der Menschen. Auch für SchülerInnen unmittelbar erfahrbare Folgen sind u.a.

- familiäre Instabilitäten,

- Entwertung bisheriger Modelle,

- Verunsicherungen der Erwachsenen, - Lehrstellenmangel und

Beschäftigungsprobleme,

- eine Verschlechterung der materiellen Situation des „unteren Viertels“.

Gefahren des Herausfallens durch biografische Risiken gehen in die Mitte der Gesell-schaft hinein. Die Schwächung äußerer Kontrollen und fester Maßstäbe kann mit Orien-tierungslosigkeit, Entwurzelung, Überforderung einhergehen. Kindheit und Jugend heu-te sind geprägt durch einen lang gestreckheu-ten Besuch von Schul- und Ausbildungsein-richtungen und vielfältige Zerstreuungs-, Unterhaltungs-, Entfaltungsangebote. Es

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herrschen ein hoher Erwartungsdruck der Eltern und eine geringe Zukunftsgewissheit.

Gesteigerte Bildungschancen, verbesserte gegenständliche Versorgung, erhöhte Mobi-lität, eigene Soziokultur, Ausweitungen im Kommunikationsbereich stehen für die Mün-digkeits-, Erleichterungs- und Chancenseite von Kindheit und Jugendleben. Der Alltag vieler junger Menschen ist weniger entbehrungsreich und mit mehr Möglichkeiten der individuellen Gestaltung verbunden. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, dass heutiges Aufwachsen nicht weniger, sondern andere Probleme verursacht. Akzentuierend einige von mir erweiterte Einschätzungen Hurrealmanns (1994) über die Bedeutung der „mo-dernen Zeiten“ für die jungen Menschen:

- Sie sind Anhängsel der Beziehungs- und Lebensführungen der Erwachsenen quer durch alle Schichten. Viele Kinder und Jugendliche haben nicht die Chance, Anforderungen mit der belastbaren Elternbeziehung im Rücken entgegenzutre-ten.

- Ihr Hunger nach Sinnlichkeit, nach unmittelbarer Erfahrung wird durch die Frei-zeitindustrie animiert und bedient. Manchmal kommt es zu Risikoverhalten, zu Drogenexperimenten oder anderen Formen der Grenzerweiterung.

- Die Flut der Medienreize fördert Passivität, erzeugt Sensationserwartungen für das eigene Leben. Die allseitige mediale Vorführung des Außergewöhnlichen er-schwert ein realistisches Selbst- und Weltbild, eine geerdete Zufriedenheit und Lebensplanung im eigenen Passformat.

- Computer-Realitäten prägen Bilder, Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen.

- Leistungsanforderungen wirken schon früh und lassen das Leben junger Men-schen als unendliche Kette von Weichenstellungen erscheinen.

- Die Zunahme von vergleichs- und konkurrenzgeprägten Spannungsfeldern (Armut – Reichtum, Haben – Nicht-Haben, von Hier – von Woanders, Junge – Mädchen, „gut“ in der Schule – „schlecht“ in der Schule ...) drückt in Selbstprä-sentation, Abwehr- und Kampfbereitschaft.

- Materielle, soziale und kulturelle Armut zeichnet viele Kinder und Jugendliche.

- Eine große Zahl junger Menschen erlebt sich schon im Jugendalter als überflüs-sig und lästig, trotz ihrer Wünsche, dabei zu sein und dazuzugehören.

Der Zusammenhang von Bildung, Beschäftigung, Lebensplanung und Perspektiven ist brüchig. Gesicherte Aussichten sind heute weder über soziale Herkunft noch durch die Verfügung über in Bildungsinstitutionen erworbene Berechtigungsscheine erreichbar.

Minderheit jener Jugendlichen, die Kernanforderungen nicht meistert, wächst. Die Be-lastungen kommen sowohl aus dem außer- als auch innerschulischen Raum. Unmiss-verständlich: Aggressivität u.a.m. schwappen aus den Umfeldern, von der Straße und aus den Familien in die Klassenzimmer. Aber es gibt auch schulisch bedingte Belas-tungen im Rahmen von SchülerIn-Sein.

Gemeint sind:

- starker Leistungsdruck;

- „Zwang“ zum möglichst hohen Abschluss als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung;

- ständiger Vergleich, Misserfolge und Bedrohungen des Selbstwertgefühls;

- Auseinandersetzung mit der Hierarchisierung der Schularten und dem eigenen Status;

- Zurechtfindung in einer rauen jugendlichen und schulischen Kultur (vgl. Schubarth u.a. 1996).

Schule verteilt wie eh und je die Startposition. Garantiescheine gibt es nicht, doch man kann entscheidenden Boden verlieren. Die Formel des „Lernens für später“ beinhaltet eine irreführende Tauschwertversprechung. Plätze erweisen sich als vergeben. Schule hat nicht mehr vorrangig Zuweisungsfunktion, sondern Ausschlussfunktion: Wer durch-hält, kann weitermachen, wer herausfällt, hat geringe Sozialchancen. Alle Bildungs- und Erziehungsansprüche, Lerninhalte und Verhaltensnormen von Schule lebten traditionell aus der Mittel-Zweck-Beziehung, nämlich aus Verweisen auf das spätere Leben. Diese Vorbereitungsübungen auf das Eigentliche, was später kommt, nehmen Jugendliche nicht mehr hin. Lehrende wissen nicht mehr so recht, ob sie widerständiges Schüler-handeln als gerechtfertigte Rebellion oder als frech, als Milieuproblematik oder als Aus-druck kindlicher Lebensfreude im Stil der neuen Zeit werten sollen.

In der Schule gelten Aufgaben und Ansprüche ohne Ansehen der Geschichte und Lage der einzelnen jungen Menschen. Das schulische Alltagsgeschäft wird landläufig durch-gesetzt gegen Widerstände und Gleichgültigkeit – von Lehrkräften gegen sich selbst und gegen SchülerInnen. In der Schule zählen Denk-, Sprech-, Schreibstoff. Praktische und soziale Erfahrungen bleiben randständig. Der Prüfstand ist allgegenwärtig. Im Ver-gleich zu früher werden nun aber Identitäts-, Sinn- und Wertprobleme Jugendlicher in

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zubereiteten Denkrahmen. Zentral ist nicht der junge Mensch, wie er/sie täglich in die Schule kommt. Für bis zu einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen eines jeden Jahr-gangs türmen sich - so Hurrelmann (1996) - im familiären, im schulischen und im Frei-zeitbereich erhebliche Probleme auf. 40% der jungen Leute benötigen eine Schule, die sie zuverlässig vom Morgen bis zum Nachmittag begleitet. Zudem werden die Lebens-thematiken der gesamten Altersgruppe in den informellen Bereich abgedrängt, also im offiziellen Programm ignoriert: Selbsterprobung, Experimentierfreude, Geschlecht und Körperlichkeit. Der Drang nach Selbstdarstellung, Initiative, Tätigkeit muss auf das di-daktische Maß beschränkt bleiben. Erwachsene Vertrauenspersonen, nicht-beurteilende Gesprächspartner fehlen oft. Schule hat selten Zeit.

PädagogInnen, die die realen Lebensverhältnisse sehen, fragen: Muss Schule nicht bis zur zehnten Klasse für alle auch Grunderfahrungen ermöglichen, nicht allein, aber in Mitverantwortung, etwa: Zuhören und Zuhören abverlangen, Daseinsberechtigung ab-stützen und sich seines Wertes bewusst werden lassen, mangelnde Beheimatung und Geborgenheitsmängel kompensieren, eine Konfliktkultur installieren und üben, Koope-ration und Verantwortung entwickeln, Fantasie und Risikofreude fördern und begleiten.

Schule - so lauten verkürzt die kritischen Vorhaltungen - lehre fragwürdige Inhalte in einseitigen methodischen Weisen unter falsch arrangierten Bedingungen. Jedenfalls trägt das Schema „Stoff durchziehen“ mit „Aktivitäten“ wie Ausmalen, Abschreiben, Sich-Melden, Drankommen, Nicht-Drankommen, Warten und Sitzen, Sitzen und Warten recht generell nicht mehr. Die Gegenwart der Jugendlichen ist geprägt von Fragen:

„Wozu haben wir Gesetze?“; „Brauchen wir einen Führer?“; „Wie will ich leben?“; „Wel-che Normen müssten gelten?“; „Was ist gerecht?“; „Wie soll man Kinder erziehen?“;

„Wie ist ein Freund?“. Finden diese Fragen und Bedürfnisse an Ihrer Schule einen ge-bührenden Platz? Jugendliche brauchen konturierte Erwachsene, die nicht ständig ü-berlastet sind und das, was ihnen geschieht, als Zumutung und Uneigentlichkeit erle-ben.

Für die erhebliche Schulverdrossenheit zentral zusammengefasst:

Die Schule ist von ihrer Logik her zukunftsorientiert, während das Leben der Kinder au-ßerhalb der Schule, auch in den Pausen, im Schulbus, in den Fluren, unter den Tischen

„live“, gegenwärtig ist. Schule versucht, schulisches und außerschulisches Lernen und

Gesellschaftlich betrachtet sind Schülerinnen und Schüler Kinder und Jugendliche, die sich in besonderen Lebenslagen

befinden: die extrem verschiedene gegenwärtige Belastungen ertragen, über Ressour-cen, Zukunftsaussichten und Konsumchancen verfügen oder eben auch nicht. Aus ei-nem Entwicklungsblick sind junge Menschen gezeichnet von Themen wie Identitätssu-che, Ablösung von den Eltern, Suche nach Reputation in der Gruppe und Stand im An-erkennungsvergleich, wie Geschlechtlichkeit, Attraktion und Sexualität. Eine Schule, die sich ohne Rücksicht auf kulturellen Wandel, jugendliche Bedürfnisse, soziale Bedin-gungen und seelische Umstände auf Stoffvermittlung, Leistungskontrolle und Zensie-rung beschränkt, produziert ihre eigenen Schwierigkeiten mit. Die Zahl der vielfach be-lasteten und benachteiligten und deshalb aus Schulsicht desorganisierten jungen Men-schen steigt außerschulisch bedingt an.

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