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3. Ergebnisse

3.1 Rauschtrinken als Peer-Gruppen-Phänomen

3.1.12 Unterschiedliche Risikoprofile in den Gruppen

Ein zentrales Fazit der Auswertungen ist, dass wir es mit einem breiten Spektrum von Gruppen mit ganz unterschiedlichen Risikoprofilen zu tun haben. Auf der einen Seite finden sich Gruppen, bei denen Trinkmengen und Konsumfrequenz sehr hoch sind, die Gruppenkohärenz sehr stark über den Konsum hergestellt wird und wo, etwa aufgrund von Gruppengröße und eher loser Gruppenstruktur, die Regeln und Vorsichtsmaßnahmen bezogen auf das Trinken nicht sehr eng sind bzw. nicht immer durchgesetzt und angewendet werden. Gerade in solchen Gruppen hat das Trinken verstärkt negative Konsequenzen, wie erheblichen Kontrollverlust und lebensbedrohliche Zustände, Gewalthandlungen und sexuelle Gewalt. Besonders

gefährdet sind dabei jene Jugendlichen, die über wenig Ressourcen verfügen, also in der Familie und im sozialen Umfeld keine Unterstützung erfahren, schulisch oder beruflich keine Perspektive und im sozialen Bezug kaum Alternativen zur trinkenden Gruppe haben.

Ein solches Beispiel ist die 16-jährige Sandra, die es zwar inzwischen geschafft hat, sich von einer ihrer Ansicht nach „noch extremeren“ Gruppe zu distanzieren, aber weiterhin stark auf einen exzessiv konsumierenden Gruppenkontext bezogen bleibt:

Sandra befindet sich in einer schwierigen Phase. Sie lebt mit ihren Schwestern allein bei ihrer Mutter, die aus der Türkei stammt. Diese hat keinerlei erzieherische Kontrolle über Sandra mehr. Sandra war bis vor kurzem in einer besonders problematischen Peer-Gruppe unterwegs, wo exzessives Trinken - auch unter Woche -, Gewalt, kriminelles Verhalten und Anzeigen an der Tagesordnung waren. Wegen Familienstress kam sie dann oft lange Zeit gar nicht mehr nach Hause, in dieser Zeit kam es auch zum Abbruch der Schule.

Sandra hat daraufhin die „schlechte Gruppe“ verlassen und ist jetzt in einer anderen Peer-Gruppe, die auch relativ lose strukturiert ist und sich immer wieder mit anderen Gruppen in der Großstadt vermischt.

Sandra will zwar mit dem Trinken aufhören, aber sie sagt, sie trinkt aus Langeweile, Partylaune, Stress oder wegen dem Liebesleben und kann dem Gruppenzugzwang nicht widerstehen: „Du bist halt mit den Leuten.“

Das Interview fällt durch zahlreiche drastische Situationsbeschreibungen auf, nach denen sie selbst und auch andere beim Trinken negative Erfahrungen machen (sexuelle Gewalt, Tätlichkeiten, negative körperliche Erfahrungen).

Dem hat Sandra nicht viel entgegen zu setzen, sie trinkt oft auch weiter, nachdem sie sich übergeben hat und sie ist auch häufig in tätliche Auseinandersetzungen involviert. Ihr Verhalten zeigt, dass sie oft ihre Grenzen ignoriert und negative Erfahrungen oder Schockerlebnisse in Kauf nimmt.

Einerseits schämt sie sich dann für ihr Verhalten, rationalisiert dies aber, indem sie sagt: „Das bin nicht ich, das macht der Alkohol!“ (349)

Im Interview wird deutlich, dass sie sehr stark auf die Gruppe und besonders auf eine Freundin dort fixiert ist. Es fällt ihr schwer, sich gegenüber der Gruppe abzugrenzen und sie delegiert die Kontrolle über sich, ihr Trinken und ihr Verhalten an die Gruppe.

Das andere Extrem sind Beispiele von eher altershomogenen Gruppen mit jüngeren Mitgliedern. Dies können auch reine Mädchen- oder Jungengruppen sein, mit eher niedriger Trinkfrequenz und geringerem Konsum, abgesehen von besonderen Festivitäten. Solche Gruppen sind meist kleiner und geschlossen gegenüber anderen Gruppen. Häufig ist Alkohol nicht das zentrale oder einzige Thema, durch das Gruppenkohärenz hergestellt wird. In diesen Gruppen ist das Risiko, durch

Alkoholkonsum negative Konsequenzen zu erleben, folglich geringer. Ein Beispiel für solch eine Gruppe ist die des 14-jährigen Alesio:

Alesios Eltern sind getrennt und er lebt mit drei Geschwistern bei seiner Mutter im ländlichen Bereich. Sein Verhältnis zur Mutter beschreibt er als gut, vor allem, weil sie ihm viel erlaubt. Mit dem Vater hat er nur telefonischen Kontakt, wünscht sich aber bisweilen, dass es mehr und persönliche Begegnungen gäbe. Alesio besucht die Hauptschule, spielt aktiv Fußball und Handball. Er besucht regelmäßig das Jugendhaus, trifft sich mit Freunden aber auch im Bauwagen. Alesios Peergruppe besteht im Kern aus acht Jungen. Mädchen kommen in seiner Erzählung nur peripher vor.

Wenn die Gruppe Alkohol trinkt, so findet dies am Wochenende statt, aber nicht jede Woche. Für Treffen mit seinen Freunden im Bauwagen besorgen Ältere an der Tankstelle oder im Supermarkt die Getränke.

Meistens trifft sich die Gruppe nach dem Sporttraining in der Kneipe, wo vorwiegend Bier getrunken wird. Gelegentlich lässt sich hier der Jugendschutz umgehen, abhängig davon, wer bedient, und weil einige Gruppenmitglieder älter aussehen oder tatsächlich schon 16 sind. Alesio geht es beim Trinken vor allem um die gelöste Stimmung: „man ist halt irgendwie besser drauf, lustiger, wie soll man sagen“. Einen Vollrausch hat er nur ein einziges Mal gehabt, dies auch sehr negativ erlebt und er sagt: „Das war zu viel!“.

Starke Räusche kennt er von den anderen („drei von uns acht“), deren Trinkverhalten er negativ bewertet. Seinen eigenen Alkoholkonsum beschreibt er als gemäßigt, vor allem auch deshalb, weil er immer recht früh heimgehen muss, um den Bus noch zu erreichen. Ein weiterer Grund ist das begrenzte Taschengeld in Verbindung mit den recht hohen Getränkepreisen.

Aus seinen Erzählungen wird zudem deutlich, dass ihm der Alkoholkonsum nicht besonders wichtig ist: an erster Stelle kommt für ihn Fußball, dann die Schule. Auch fürchtet er die negativen Folgen exzessiven Konsums, wie z.B.

sich übergeben, mögliche Sachbeschädigungen durch Kontrollverlust oder Stress mit den Eltern. Zudem wären ihm solche Folgen peinlich, da er davon ausgeht, dass ja dann das ganze Dorf davon wüsste.

Alesio kontrolliert sich dabei auch selbst. So nimmt er z.B. kein Geld mit, um sich nichts zu trinken kaufen zu können. Grundsätzlich scheint sein Hauptmotiv, warum er überhaupt trinkt, der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Gruppe sein. Gleichzeitig lässt er sich aber nicht komplett vereinnahmen: so grenzt er sich, was das Trinken anbelangt, gelegentlich auch von den anderen ab. Dies scheint in der Gruppe kein Problem zu sein, was darauf hinweist, dass in dieser Gruppe wenig Anpassungsdruck besteht.

Die Beispiele von Sandra und Alesio zeigen exemplarisch, wie breit das Spektrum hinsichtlich von Risikoprofilen in den Gruppen sein kann. Dabei haben Jugendliche einerseits sicherlich nicht immer die Möglichkeit, ihre Gruppe frei zu wählen.

Insbesondere sozialräumliche Bedingungen können das Spektrum der Alternativen enorm begrenzen.

Andererseits jedoch haben Jugendliche in bestimmter Hinsicht eine Wahl, was auch in den Interviews immer wieder deutlich wird. Viele Jugendliche suchen sich ‚ihre’

Gruppe durchaus nach bestimmten Kriterien aus bzw. wechseln auch mitunter zwischen Gruppen, wie im Beispiel von Sandra beschrieben wurde. Sie distanziert sich mittlerweile von ihrer alten Gruppe, um sich vor einem extremen Trinkverhalten zu schützen, das zunehmend auf die Zeit während der Woche übergegriffen hatte.

Das zeigt, dass die Wahl der Gruppe immer auch vom jeweiligen subjektiven Standort der Jugendlichen abhängt und von den Entwicklungsprozessen, die sie durchlaufen.

Umgekehrt ist im Hinblick auf die Prozesse, die einzelne Jugendliche durchlaufen, nicht nur das Risikoprofil der Gruppe entscheidend. Es sind die jeweils individuellen Konstellationen, die in vielerlei Hinsicht von äußeren Einflüssen geprägt werden, die dazu führen können, dass zunächst noch moderat trinkende Jugendliche zu riskanterem Verhalten übergehen. Inwieweit dies die Gruppe beeinflusst oder andere dazu veranlasst, die Gruppe zu verlassen, ist ein offener Prozess. Auch innerhalb einer Gruppe können sich die Einzelnen in ihrer Risikobereitschaft und ihrem Risikomanagement durchaus unterscheiden.

Jungen und Mädchen sind so gesehen – trotz der Bedeutsamkeit der Gruppe für das Trinkverhalten – nicht passiv Ausgelieferte sondern aktiv gestaltende AkteurInnen in den gruppenspezifischen Interaktionen.