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III. Derogation der Weisungsgrenzen

2. Untaugliche Billigkeitskontrolle

Angesichts der weitreichenden Möglichkeiten der Binnenflexibilisierung des Arbeits-verhältnisses, die das BAG billigt, ist der Arbeitnehmer regelmäßig auf die einzelfall-abhängige Billigkeitskontrolle verwiesen [s. hierzu II. 2. e); III 1. b)]. Diese gibt § 106 S. 1 GewO vor, bietet dem Arbeitnehmer in ihrer Handhabung durch die Arbeitsge-richte jedoch allein keine sichere Rechtsposition.

a) Reduzierter Maßstab

Der Befund resultiert zum einen daraus, dass sich die materielle Handhabung der Billigkeit durch die Rechtsprechung regelmäßig in einer Willkür- oder Missbrauchs-kontrolle erschöpft.114 Das ermöglicht eine ganze Bandbreite billiger Weisungen des Arbeitgebers. Gründet eine Weisung etwa auf einer unternehmerischen Entschei-dung, sollen nach Ansicht des 10. Senats des BAG entgegenstehende Interessen des Arbeitnehmers nur dann zur Unbilligkeit der Weisung führen, wenn es sich dabei um „besonders schwerwiegende, zum Beispiel auch verfassungsrechtlich geschützte Interessen“115 handelt.

b) Kein effektiver Rechtsschutz gegen unbillige Weisungen

Zum anderen hat das BAG den Rechtsschutz gegen die unbillige Ausübung des Weisungsrechts zuletzt weitgehend ausgehöhlt.

Im Mittelpunkt steht die erdrutschartige Entscheidung des 5. Senats vom 22.2.2012116, nach der ein Arbeitnehmer in Ansehung „der das Arbeitsverhältnis

111 Im Einzelnen Preis/Ulber, NZA 2010, 729; Busemann, NZA 2015, 705, 707.

112 BAG, Urt. v. 26.9.2012 – 10 AZR 336/11, AP Nr. 25 zu § 611 BGB Fleischbeschauer-Dienstverhältnis; Urt. v. 25.4.2007 – 5 AZR 54/06, AP Nr. 121 zu § 615 BGB.

113 Krit. und mit weiteren Bsp. aus der Rechtsprechung Busemann, NZA 2015, 705, 708 f.

114 Vgl. BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181, 184.

115 BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181, 184.

116 BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858. Abl. Preis, NZA 2015, 1.

24 genden Weisungsgebundenheit“ auch unbillige Weisungen so lange befolgen müsse, bis ein rechtskräftiges Urteil erstritten sei, das die Unbilligkeit der Weisung fest-stellt.117 Eine unbillige Weisung sei nicht unwirksam, sondern nur „unverbindlich“. Der Arbeitnehmer müsse sie daher vorläufig beachten. Dies folge aus § 315 Abs. 3 S. 2 BGB, nach dem im Falle der Unbilligkeit einer Weisung das Gericht entscheide.

Die Entscheidung ist ohne Vorbild in der Rechtsprechung des BAG und stößt im Schrifttum zu Recht auf breite Ablehnung.118 Sie hat bereits die falsche Prämisse, dass § 315 BGB neben § 106 GewO anwendbar ist [s. hierzu II. 1. b)]. Im Kern lässt sich gegen die Entscheidung darüber hinaus folgendes einwenden: Gemäß § 315 Abs. 3 S. 1 BGB ist die Leistungsbestimmung eines Vertragsteils „für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht“. § 315 Abs. 3 S. 2 BGB regelt den Fall, dass das Gericht die von einer Vertragspartei getroffene Bestimmung auf-hebt und berechtigt in diesem Fall dazu, die entsprechende Leistungsbestimmung selbst vorzunehmen.

Die Anwendung von § 315 Abs. 3 S. 2 BGB kommt in Fällen des Weisungsrechts jedoch regelmäßig nicht in Betracht, würde das Arbeitsgericht doch kraft Urteils die Betriebsführung und das Arbeitsverhältnis gestalten. Die Annahme, die Leistungsbe-stimmung der Partei sei bis zu diesem Zeitpunkt vorläufig verbindlich, findet eine Stütze weder im Wortlaut von § 315 Abs. 3 S. 2 BGB noch von § 106 GewO. Es ist ferner nicht erklärbar, warum der Schuldner als „Opfer“ einer unbilligen Leistungsbe-stimmung des Gläubigers erst klagen müssen soll, bevor er sich auf deren Unver-bindlichkeit berufen kann. Weder § 315 Abs. 3 S. 2 BGB noch § 106 GewO ist eine Klagepflicht oder -obliegenheit des Arbeitnehmers zu entnehmen, gegen eine unbilli-ge Weisung des Arbeitunbilli-gebers vorzuunbilli-gehen.

Festzustellen ist deshalb: Eine unbillige Weisung ist nach § 106 S. 1 GewO rechtsunwirksam und deshalb für den Arbeitnehmer unverbindlich.

Die Folgen der Entscheidung des 5. Senats vom 22.2.2012 sind erheblich: Ver-weigert der Arbeitnehmer, die unbillige Weisung vorläufig zu befolgen, droht ihm der

117 BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858. Abl. Preis, NZA 2015, 1.

118 Boemke, NZA 2013, 6; Thüsing, jM 2014, 20; Hromadka, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 145, 150 ff.; KDZ/Zwanziger, 14. Aufl. 2014, § 2 KSchG Rn. 59a: „Arbeitnehmer sind zwar weisungsgebun-den, aber keine Soldaten.“ Zust. hingegen Schmidt-Rolfes, AuA 2013, 200. Zum folgenden s. einge-hend Preis NZA 2015, 1, 5 ff. m. w. N.

25 Verlust seines Arbeitsplatzes, denn der Arbeitgeber kann eine Kündigung wegen Ar-beitsverweigerung aussprechen.119 Jedenfalls läuft der Arbeitnehmer Gefahr, An-sprüche auf Annahmeverzugslohn einzubüßen.120 Auf den Zusammenhang mit der Rechtsprechung des BAG zur sog. überflüssigen Änderungskündigung121, die diese Lage des Arbeitnehmers noch einmal dramatisch verschlechtert, kann hier nur ver-wiesen werden.122

Einstweiliger Rechtsschutz ist keine aussichtsreiche Option. Erstens gilt das Ver-bot, die Hauptsache vorwegzunehmen.123 Zweitens qualifizieren die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte die Sicherung der bisherigen Beschäftigung als Leistungs-/Befriedigungsverfügung. Einstweiligen Rechtsschutz zur Abwendung wesentlicher Nachteile (vgl. § 940 ZPO) gewähren sie nur bei einem deutlich gesteigerten Ab-wehrinteresse des Arbeitnehmers, etwa wenn Gesundheitsgefahren, irreparable Schädigungen des beruflichen Ansehens oder schwere Gewissenskonflikte in Rede stehen und bei offenkundiger Rechtswidrigkeit der Maßnahme des Arbeitgebers.124 Hinzu kommt drittens, dass die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte, sofern sie ihren Erwägungen § 615 S. 2 BGB in der Auslegung des 5. Senats zugrunde legen, re-gelmäßig beschließen dürften, dass es dem Arbeitnehmer zumutbar ist, der unbilli-gen Weisung des Arbeitgebers vorläufig zu folunbilli-gen.125 Diese Hürden des einstweiligen Rechtsschutzes verhindern dessen Effektivität, was im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG äußerst bedenklich ist.

Das Prozessrisiko, das den Arbeitnehmer, der sich gegen eine seines Erachtens unbillige Weisung des Arbeitgebers gerichtlich wehren möchte, trifft, ist angesichts der vorbezeichneten Gemengelage extrem hoch. Der Arbeitnehmer dürfte deshalb häufig die Klage scheuen. Das scheint sogar intendiert zu sein, wenn aus den

119 BAG, Urt. v. 29.8.2013 – 2 AZR 273/12, NZA 2014, 533.

120 Vgl. BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858.

121 BAG, Urt. v. 26.1.2012 – 2 AZR 102/11, NZA 2012, 856; BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181. Preis/Schneider, FS von Hoyningen-Huene, 2014, S. 395, 399; Reu-ter/Sagan/Witschen, NZA 2013, 935.

122 Ausf. Preis, NZA 2015, 1, 7 f.

123 Dunkl, FS Buchner, 2009, 197.

124 Vgl. LAG Köln, Beschl. v. 14.8.2013 – 7 Ta 243/13, LAGE Nr. 15 zu § 106 GewO 2003; Beschl. v.

24.6.2010 - 9 Ta 192/10, BeckRS 2012, 67572; Thüsing, jM 2014, 20, 21 f.

125 Preis, NZA 2015, 1, 5 f.; Reiserer, BB 2016, 187.

26 hen des BAG bisweilen kommuniziert wurde: „Das Arbeitsverhältnis ist zum Arbeiten da, nicht zum Prozessieren.“126

3. Mobilisierung der Arbeitswelt – Entgrenzung der Arbeit und