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III. Derogation der Weisungsgrenzen

4. Zwischenfazit

Es zeigt sich, dass das Direktionsrecht bereits ohne eine ausdrückliche Erweiterung empfindlich weit reicht. Das Weisungsrecht hinsichtlich der Lage der Arbeitszeit und hinsichtlich des Arbeitsortes ist für den Arbeitnehmer dabei besonders belastend. Die flexible Veränderbarkeit der Arbeitszeitlage beeinträchtigt die Planbarkeit hinsichtlich familiärer Pflichten, insbesondere wenn Kinder zu versorgen sind. Die weitreichende Versetzbarkeit hinsichtlich des Arbeitsortes erweist sich dabei als noch belastender.

Unter Umständen kann die Arbeitsleistung nur erbracht werden, wenn der Arbeit-nehmer den Wohnort wechselt. Der ArbeitArbeit-nehmer kommt hier in erhebliche Pflichten-kollisionen, da es bei örtlich weit entfernten Versetzungen nicht möglich ist, das Le-ben mit seiner Familie fortzuführen. Derart weitreichende Weisungsrechte kollidieren in aller Regel mit den Grundrechten des Arbeitnehmers und dem Schutzgehalt des Art. 6 GG.

bb) Ausdrückliche Direktionsrechtserweiterung

Mit Blick auf spezielle, das Weisungsrecht erweiternde arbeitsvertragliche Vereinba-rungen sind echte und unechte Direktionsrechtserweiterung voneinander zu unter-scheiden: Die unechte Direktionsrechtserweiterung fasst lediglich den Inhalt von § 106 GewO zusammen. Die echte Direktionsrechtserweiterung verschafft dem Arbeit-geber hingegen die Möglichkeit, Weisungen bezüglich Art, Ort und Zeit der Arbeits-leistung zu erteilen, die vom allgemeinen Direktionsrecht nicht mehr umfasst sind, weil sie die vertraglich geschuldete Leistungspflicht des Arbeitnehmers überschrei-ten.78 Hierzu gehören etwa Vereinbarungen, nach denen der Arbeitgeber den Arbeit-nehmer in ein anderes konzernangehöriges Unternehmen oder ins Ausland

76 BAG, Urt. v. 18.4.2012 – 5 AZR 195/11 – NZA 2012, 796, 797.

77 Reinhard, Anm. zu BAG, Urt. v. 18.4.2012 – 5 AZR 195/11, NJW 2010, 394, 398.

78 Instruktiv Preis/Genenger, NZA 2008, 969.

18 zen kann [s. hierzu II. 2. a) aa) (2)], aber auch solche über "Arbeit auf Abruf" i.S.d. § 12 Abs. 1 TzBfG [s. hierzu II. 2. b)], die den an sich weisungsrechtsfremden Arbeits-zeitumfang betreffen.

Wird die ausdrückliche Direktionsrechtserweiterung als Allgemeine Geschäftsbe-dingung i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 1 BGB vereinbart, gilt folgendes: Eine unechte Direkti-onsrechtserweiterungsklausel ist als gesetzeswiederholende AGB gem. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB inhaltskontrollfrei79, aber nach § 307 Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB auf Intransparenz zu untersuchen.80 Eine echte Direktionsrechtserweiterungs-klausel unterliegt hingegen der vollen Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB.

cc) Einfluss auf die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG

Hingewiesen sei abschließend auf den Einfluss des arbeitsvertraglich vereinbarten Weisungsrechtsumfangs auf die Sozialauswahl vor einer betriebsbedingten Kündi-gung. Für die Sozialauswahl sind alle vergleichbaren Arbeitnehmer zu berücksichti-gen, wobei nur solche Arbeitnehmer vergleichbar sind, die der Arbeitgeber in Aus-übung seines Weisungsrechts austauschen kann.81 Mit anderen Worten sind solche Arbeitnehmer nicht vergleichbar und deshalb nicht in die Sozialauswahl einzubezie-hen, die der Arbeitgeber nicht einseitig auf den Arbeitsplatz des von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmers um- oder versetzen kann.82

Daraus folgt: je weiter das Weisungsrecht, desto höher die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer, desto größer die Anzahl der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer. Und umgekehrt: je enger das Weisungsrecht desto niedriger die

79 BAG, Urt. v. 25.8.2010 – 10 AZR 275/09, AP Nr. 11 zu § 106 GewO; Urt. v. 13.4.2010 – 9 AZR 36/09, AP Nr. 45 zu § 307 BGB.

80 BAG, Urt. v. 25.8.2010 – 10 AZR 275/09, AP Nr. 11 zu § 106 GewO; Urt. v. 13.4.2010 – 9 AZR 36/09, AP Nr. 45 zu § 307 BGB.

81 BAG, Urt. v. 6.11.1997 – 2 AZR 94/97, AP Nr. 42 zu § 1 KSchG 1969; vgl. auch BAG, Urt. v.

17.9.1998 – 2 AZR 725/97, AP Nr. 36 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl sowie BAG, Urt. v.

5.6.2008 – 2 AZR 907/06 AP Nr. 179 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung.

82 BAG, Urt. v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, AP Nr. 142 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung;

Urt. v. 18.10.2006 – 2 AZR 676/05 , AP Nr. 163 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. Im öffentlichen Dienst können das nur solche Tätigkeiten sein, die den Merkmalen seiner vertraglich fest-gesetzten Vergütungsgruppe entsprechen, BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, AP Nr. 70 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. Zur insoweit für den Arbeitnehmer ungünstigen Wirkung einer negati-ven Versetzungsklausel Preis, Der Arbeitsvertrag, II D 30 Rn. 107.

19 gleichbarkeit der Arbeitnehmer, desto geringer die Anzahl der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer. Dem Arbeitgeber kann allerdings nicht auferlegt werden, seine Arbeitnehmer um jeden Preis durch die Ausübung seines Direktions-rechts „gleichzumachen“. Weder muss der Arbeitgeber für die Sozialauswahl solche Arbeitsplätze in den Blick nehmen, auf die er den fraglichen Arbeitnehmer nur vo-rübergehend oder ausnahmsweise einseitig versetzen kann, noch kann er verpflich-tet werden, dem Arbeitnehmer eine freie "Beförderungsstelle" anzubieten.83

b) Ausufernde Arbeitszeitabreden84

Unsicherheiten und erhebliches Gefährdungspotential für die Arbeitsvertragsparität hat das BAG nunmehr insbesondere85 bei der Frage nach den Grenzen der arbeits-vertraglichen Ausgestaltung von Abrufarbeit geschaffen, die eine Abweichung von dem für § 106 S. 1 GewO geltenden Grundsatz, dass der Umfang der Arbeitszeit der Weisungsmacht des Arbeitgebers entzogen ist, mithin eine echte Direktionsrecht-serweiterung darstellt. Als toxisch erweisen sich dabei unbestimmte Vereinbarungen, nach denen der Arbeitnehmer eine "Festbeschäftigung mit flexibler Arbeitszeit ent-sprechend der betrieblichen Erfordernisse"86 schuldet und so genannte "Null-Stunden-Arbeitsverträge", nach denen er überhaupt keinen Anspruch auf eine mo-natliche oder werktägliche durchschnittliche Beschäftigungsdauer hat.87 Hier88 wie dort89 ist zunächst § 12 Abs. 1 S. 2 TzBfG Zulässigkeitsmaßstab: Die Vertragsabrede zur Abrufarbeit muss eine Mindestdauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Daran gemessen sind sowohl die schlichte Vereinbarung über den Abruf von Arbeit "entsprechend der betrieblichen Erfordernisse" wie auch die Null-Stunden-Abrede eines Arbeitsvertrages evident unzulässig.

83 BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung.

84 Eingehend Preis, RdA 2015, 244.

85 Weitere bedenkliche Rechtsprechungslinien sind etwa bei direktionsrechtserweiternde Klauseln, die die Übertragung geringer- oder höherwertiger Tätigkeiten betreffen oder Konzernversetzungsklauseln zu erkennen, vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II D 30 Rn. 52 f., 180 f., 230 ff.

86 Vergleiche die in BAG, Urt. v. 24.9.2014 – 5 AZR, NZA 2014, 1328 überprüfte Klausel.

87 LAG Rheinland Pfalz, Urt. v. 7.4.2011 – 5 Sa 637/10, BeckRS 2011, 74684.

88 BAG 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, NZA 2006, 423; Urt. v. 24.9.2014 – 5 AZR, NZA 2014, 1328.

89 Forst, NZA 2014, 998, 1002; Bieder, RdA 2015, 388, 392 f.

20 Die neuralgische Frage lautet mangels Einschlägigkeit anderer Rechtsschranken90 indes: Unterliegen arbeitsvertragliche Vereinbarungen über Abrufarbeit zusätzlich einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB?91 "Ja", urteilten die Richter des 5.

Senates des BAG zunächst in ihrer grundlegenden und richtigen Entscheidung vom 7.12.2005.92 "Nein", befanden dagegen die Richter des 9. Senats am 21.6.2011.93 Sie nahmen wegen § 307 Abs. 3 S. 1 BGB lediglich eine Transparenzkontrolle nach Maßgabe von § 307 Abs. 3 S. 2 BGB i.V.m. 307 Abs. 1 S. 2 BGB vor.94 Das ist frei-lich irrig.

Erstens verlagert eine arbeitsvertragliche Regelung über Abrufarbeit das Wirt-schafts- bzw. Beschäftigungsrisiko auf den Arbeitnehmer, weicht mithin von § 615 BGB ab und unterliegt bereits deshalb der vollständigen Inhaltskontrolle.95 Zweitens erweitern Null-Stunden-Abreden oder solche, nach denen der Arbeitnehmer eine

"Festbeschäftigung mit flexibler Arbeitszeit entsprechend der betrieblichen Erforder-nisse"96 schuldet, das Weisungsrecht des Arbeitgebers bezüglich den Arbeitszeitum-fang über Gebühr, nämlich unter Verstoß gegen § 12 Abs. 1 S. 2 TzBfG. Die Klausel wiederholt weder den Inhalt von § 12 Abs. 1 S. 1 TzBfG, noch denjenigen von § 106 S. 1 GewO, weil sie keinen von diesem legitimierten Weisungsrechtumfang abbildet.

Überraschend hat der 5. Senat zuletzt jedoch selbst in einer Entscheidung vom 24.9.201497 die §§ 305 ff. BGB bei der Überprüfung einer Abrufarbeit betreffenden arbeitsvertraglichen Abrede vollständig ignoriert, diese vielmehr – insoweit im Wider-spruch zur Rechtsprechung des 9.98 und 10. Senats99 – als Teilzeitabrede

90 Hierzu Bieder, RdA 2015, 388, 397 f.

91 Eingehend Preis, RdA 2015, 244.

92 BAG, Urt. v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, NZA 2006, 423.

93 BAG, Urt. v. 21.6.2011 – 9 AZR 236/10, NZA 2011, 1274.

94 BAG, Urt. v. 21.6.2011 – 9 AZR 236/10, NZA 2011, 1274. So auch Bieder, RdA 2015, 388, 394 f.

95 BAG, Urt. v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, NZA 2006, 423; s. Preis/Lindemann, NZA 2006, 632, 634.

96 Vergleiche die in BAG, Urt. v. 24.9.2014 – 5 AZR, NZA 2014, 1328 überprüfte Klausel.

97 BAG, Urt. v. 24.9.2014 – 5 AZR 1024/12, NZA 2014, 1328.

98 BAG, Urt. v. 21.6.2011 – 9 AZR 236/10, NZA 2011, 1274.

99 BAG, Urt. v. 15.5.2013 – 10 AZR 325/12, NZA-RR 2014, 519.

21 legt, sodass der zunächst in Vollzeit tätige Arbeitnehmer gem. § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG lediglich eine Mindestarbeitsdauer von 10 Wochenstunden vergütet erhielt.100

Damit ist erstens die vom 5. Senat am 7.12.2005 in Ansehung von § 307 Abs. 1 S.

1 BGB aufgestellte Rechtsregel hinfällig, wonach die einseitig vom Arbeitgeber ab-rufbare Arbeit des Arbeitnehmers in Übertragung der für Widerrufsvorbehalte gelten-den Grundsätze nicht mehr als 25 % der vereinbarten wöchentlichen Mindestarbeits-zeit betragen darf.101 Zweitens versperrt die Entscheidung des 5. Senats vom 24.9.2014 ebenso wie diejenige des 9. Senats vom 21.6.2011 den rechten Weg, eine wegen Verstoßes gegen § 12 Abs. 1 S. 2 TzBfG gerissene Vereinbarungslücke im Wege vorsichtiger ergänzender Vertragsauslegung so zu schließen, dass die bishe-rige durchschnittliche Arbeitszeit als vertraglich vereinbart anzusehen ist.102 Sie zwingt vielmehr regelmäßig dazu, auf § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG zurückzugreifen.103 Das ist jedenfalls dann nicht interessengerecht, wenn die tatsächlich geleistete Ar-beitszeit über 10 Stunden im wöchentlichen Durchschnitt lag.104 Die unmittelbare Anwendung von § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG führt außerdem zu einer reziproken Anwen-dung von § 12 TzBfG: Wenn nicht der durch den Vollzug des Arbeitsverhältnisses bestimmbare Arbeitsbedarf maßgeblich ist, sondern stets die Vermutung aus § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG, wird der durch die Arbeitsvertragsgestaltung hervorgetretene Wil-le, die Arbeitsleistung nach Bedarf abzurufen, konterkariert.

Im Ergebnis belebt das weder eine Null-Stunden-Abrede, noch die Vereinbarung der "Festbeschäftigung mit flexibler Arbeitszeit entsprechend der betrieblichen Erfor-dernisse" wieder. Der 5. Senat hat am 24.9.2014 jedoch dem Zehn-Stunden-Arbeitsvertrag Leben eingehaucht. Bleibt es dabei, dass für die Arbeit auf Abruf rele-vante Arbeitsvertragsabreden nicht an §§ 305 ff. BGB zu messen sind, droht das Prinzip der Vertragstreue gefährdet, das Äquivalenzverhältnis verändert und ggf.

100 BAG, Urt. v. 24.9.2014 – 5 AZR 1024/12, NZA 2014, 1328. Zust. Bieder, RdA 2015,388, 394 f.;

Schneider/Specks, DB 2015, 132. Abl. etwa Preis, RdA 2015, 245; Müller-Wenner, AuR 2015, 413.

101 BAG, Urt. v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, NZA 2006, 423. Vorgedacht von Hanau, Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, C 79.

102 So ArbG Köln, Urt. v. 18.5.2009 – 15 Ca 3663/08, BeckRS 2011, 76918; Preis, RdA 2015, 244, 247 f. In diesem Sinne auch BAG, Urt. v. 7.12.2005 – 5 AZR 535/04, NZA 2006, 423. Ebenfalls bereits von Hanau, Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, C. 97 bedacht.

103 Vgl. Bieder, RdA 2015, 288, 396. Eingehend Preis, Der Arbeitsvertrag, II A 90 Rn. 4g f.

104 SSN /Striegel, Rn. 302.

22 stehende Kündigungsschutznormen unterlaufen zu werden. Denn die verbleibende einzelfallabhängige Billigkeitskontrolle bietet dem Arbeitnehmer allein keine hinrei-chend sichere Rechtsposition [s. hierzu III. 2].

c) Konkretisierung

Den vorbezeichneten, äußerst flexiblen Möglichkeiten direktionsrechtserweiternder Arbeitszeitgestaltung stehen sehr begrenzte Möglichkeiten eines direktionsrechtsein-schränkenden Vollzugs des Arbeitsverhältnisses gegenüber.

Die Rechtsprechung begegnet einer Weisungsrechtseinschränkung kraft Konkreti-sierung der Arbeitspflicht sehr zurückhaltend [s. hierzu bereits II. 2. d)]. Das ist im Grundsatz auch richtig. Bereits die Rechtsgrundlage für die Weisungsrechtsbe-schränkung ist zweifelhaft: Liegt eine konkludente Änderung des Arbeitsvertrages vor?105 Wenn ja, ist die betriebliche Übung obsolet. Indes: Der Arbeitgeber wird auf sein Weisungsrecht regelmäßig nicht verzichten wollen.106 Der Arbeitnehmer kann das auch nicht erwarten. Deshalb läuft der in der Rechtsprechung zu findende An-satz, dass eine Konkretisierung nicht eintritt, wenn sich der Arbeitgeber im Arbeits-vertrag vorbehält, dem Arbeitnehmer eine andere Aufgabe zuzuweisen,107 ins Leere.

Oder geht es um die schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers?108 Diese kön-nen bei der Ausübungskontrolle nach § 106 GewO berücksichtigt werden.109

Die Zurückhaltung des BAG, eine Konkretisierung anzunehmen, wird besonders deutlich anhand einer Entscheidung des 9. Senats des BAG vom 15.9.2009110, in der die Richter urteilten, der Arbeitgeber könne gesetzlich oder kollektivvertraglich er-laubte Sonn- und Feiertagsarbeit selbst dann einseitig anordnen, wenn der angewie-sene Arbeitnehmer seit 30 Jahren nicht ein einziges Mal bislang sonn- oder feiertags gearbeitet habe. Neben den bloßen Zeitablauf hätten weitere Umstände treten

105 Hierfür BAG, Urt. v. 14.12.1961 – 5 AZR 180/61, AP Nr. 17 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Urt. v.

14.7.1965 – 4 AZR 347/63, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Urt. v. 28.2.1968 – 4 AZR 144/67, AP Nr. 22 zu § 611 BGB Direktionsrecht.

106 Etwa BAG, Urt. v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Arbeitszeit; Urt. v. 13.6.2007 – 5 ZR 849/06, AP Nr. 78 zu § 242 BGB Betriebliche Übung. Zum Ganzen Busemann, NZA 2015, 705, 707; Hennige, NZA 1999, 281, 285 f.

107 Vgl. LAG Köln, Urt. v. 23.2.1987 – 6 Sa 957/86, LAGE Nr. 1 zu § 611 BGB Direktionsrecht.

108 HWK/Thüsing, § 611 Rn. 237.

109 Hromadka, RdA 1992, 234, 237; Busemann, NZA 2015, 705, 709 f.

110 BAG, Urt. v. 15.9.2009 – 9 AZR 757/08, NZA 2009, 1333.

23 sen, die die Annahme des Arbeitnehmers gerechtfertigt hätten, sonn- oder feiertags nicht zur Arbeitsleistung herangezogen zu werden. Die Entscheidung des 9. Senates ist aus verschiedenen Gründen angreifbar.111 Sie wird es umso mehr, wenn der 10.

Senat an anderer Stelle als "weiteren Umstand" im vorbezeichneten Sinn "das geleb-te Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Pargeleb-teiwillens"112 bemüht.113

2. Untaugliche Billigkeitskontrolle

Angesichts der weitreichenden Möglichkeiten der Binnenflexibilisierung des Arbeits-verhältnisses, die das BAG billigt, ist der Arbeitnehmer regelmäßig auf die einzelfall-abhängige Billigkeitskontrolle verwiesen [s. hierzu II. 2. e); III 1. b)]. Diese gibt § 106 S. 1 GewO vor, bietet dem Arbeitnehmer in ihrer Handhabung durch die Arbeitsge-richte jedoch allein keine sichere Rechtsposition.

a) Reduzierter Maßstab

Der Befund resultiert zum einen daraus, dass sich die materielle Handhabung der Billigkeit durch die Rechtsprechung regelmäßig in einer Willkür- oder Missbrauchs-kontrolle erschöpft.114 Das ermöglicht eine ganze Bandbreite billiger Weisungen des Arbeitgebers. Gründet eine Weisung etwa auf einer unternehmerischen Entschei-dung, sollen nach Ansicht des 10. Senats des BAG entgegenstehende Interessen des Arbeitnehmers nur dann zur Unbilligkeit der Weisung führen, wenn es sich dabei um „besonders schwerwiegende, zum Beispiel auch verfassungsrechtlich geschützte Interessen“115 handelt.

b) Kein effektiver Rechtsschutz gegen unbillige Weisungen

Zum anderen hat das BAG den Rechtsschutz gegen die unbillige Ausübung des Weisungsrechts zuletzt weitgehend ausgehöhlt.

Im Mittelpunkt steht die erdrutschartige Entscheidung des 5. Senats vom 22.2.2012116, nach der ein Arbeitnehmer in Ansehung „der das Arbeitsverhältnis

111 Im Einzelnen Preis/Ulber, NZA 2010, 729; Busemann, NZA 2015, 705, 707.

112 BAG, Urt. v. 26.9.2012 – 10 AZR 336/11, AP Nr. 25 zu § 611 BGB Fleischbeschauer-Dienstverhältnis; Urt. v. 25.4.2007 – 5 AZR 54/06, AP Nr. 121 zu § 615 BGB.

113 Krit. und mit weiteren Bsp. aus der Rechtsprechung Busemann, NZA 2015, 705, 708 f.

114 Vgl. BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181, 184.

115 BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181, 184.

116 BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858. Abl. Preis, NZA 2015, 1.

24 genden Weisungsgebundenheit“ auch unbillige Weisungen so lange befolgen müsse, bis ein rechtskräftiges Urteil erstritten sei, das die Unbilligkeit der Weisung fest-stellt.117 Eine unbillige Weisung sei nicht unwirksam, sondern nur „unverbindlich“. Der Arbeitnehmer müsse sie daher vorläufig beachten. Dies folge aus § 315 Abs. 3 S. 2 BGB, nach dem im Falle der Unbilligkeit einer Weisung das Gericht entscheide.

Die Entscheidung ist ohne Vorbild in der Rechtsprechung des BAG und stößt im Schrifttum zu Recht auf breite Ablehnung.118 Sie hat bereits die falsche Prämisse, dass § 315 BGB neben § 106 GewO anwendbar ist [s. hierzu II. 1. b)]. Im Kern lässt sich gegen die Entscheidung darüber hinaus folgendes einwenden: Gemäß § 315 Abs. 3 S. 1 BGB ist die Leistungsbestimmung eines Vertragsteils „für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht“. § 315 Abs. 3 S. 2 BGB regelt den Fall, dass das Gericht die von einer Vertragspartei getroffene Bestimmung auf-hebt und berechtigt in diesem Fall dazu, die entsprechende Leistungsbestimmung selbst vorzunehmen.

Die Anwendung von § 315 Abs. 3 S. 2 BGB kommt in Fällen des Weisungsrechts jedoch regelmäßig nicht in Betracht, würde das Arbeitsgericht doch kraft Urteils die Betriebsführung und das Arbeitsverhältnis gestalten. Die Annahme, die Leistungsbe-stimmung der Partei sei bis zu diesem Zeitpunkt vorläufig verbindlich, findet eine Stütze weder im Wortlaut von § 315 Abs. 3 S. 2 BGB noch von § 106 GewO. Es ist ferner nicht erklärbar, warum der Schuldner als „Opfer“ einer unbilligen Leistungsbe-stimmung des Gläubigers erst klagen müssen soll, bevor er sich auf deren Unver-bindlichkeit berufen kann. Weder § 315 Abs. 3 S. 2 BGB noch § 106 GewO ist eine Klagepflicht oder -obliegenheit des Arbeitnehmers zu entnehmen, gegen eine unbilli-ge Weisung des Arbeitunbilli-gebers vorzuunbilli-gehen.

Festzustellen ist deshalb: Eine unbillige Weisung ist nach § 106 S. 1 GewO rechtsunwirksam und deshalb für den Arbeitnehmer unverbindlich.

Die Folgen der Entscheidung des 5. Senats vom 22.2.2012 sind erheblich: Ver-weigert der Arbeitnehmer, die unbillige Weisung vorläufig zu befolgen, droht ihm der

117 BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858. Abl. Preis, NZA 2015, 1.

118 Boemke, NZA 2013, 6; Thüsing, jM 2014, 20; Hromadka, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 145, 150 ff.; KDZ/Zwanziger, 14. Aufl. 2014, § 2 KSchG Rn. 59a: „Arbeitnehmer sind zwar weisungsgebun-den, aber keine Soldaten.“ Zust. hingegen Schmidt-Rolfes, AuA 2013, 200. Zum folgenden s. einge-hend Preis NZA 2015, 1, 5 ff. m. w. N.

25 Verlust seines Arbeitsplatzes, denn der Arbeitgeber kann eine Kündigung wegen Ar-beitsverweigerung aussprechen.119 Jedenfalls läuft der Arbeitnehmer Gefahr, An-sprüche auf Annahmeverzugslohn einzubüßen.120 Auf den Zusammenhang mit der Rechtsprechung des BAG zur sog. überflüssigen Änderungskündigung121, die diese Lage des Arbeitnehmers noch einmal dramatisch verschlechtert, kann hier nur ver-wiesen werden.122

Einstweiliger Rechtsschutz ist keine aussichtsreiche Option. Erstens gilt das Ver-bot, die Hauptsache vorwegzunehmen.123 Zweitens qualifizieren die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte die Sicherung der bisherigen Beschäftigung als Leistungs-/Befriedigungsverfügung. Einstweiligen Rechtsschutz zur Abwendung wesentlicher Nachteile (vgl. § 940 ZPO) gewähren sie nur bei einem deutlich gesteigerten Ab-wehrinteresse des Arbeitnehmers, etwa wenn Gesundheitsgefahren, irreparable Schädigungen des beruflichen Ansehens oder schwere Gewissenskonflikte in Rede stehen und bei offenkundiger Rechtswidrigkeit der Maßnahme des Arbeitgebers.124 Hinzu kommt drittens, dass die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte, sofern sie ihren Erwägungen § 615 S. 2 BGB in der Auslegung des 5. Senats zugrunde legen, re-gelmäßig beschließen dürften, dass es dem Arbeitnehmer zumutbar ist, der unbilli-gen Weisung des Arbeitgebers vorläufig zu folunbilli-gen.125 Diese Hürden des einstweiligen Rechtsschutzes verhindern dessen Effektivität, was im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG äußerst bedenklich ist.

Das Prozessrisiko, das den Arbeitnehmer, der sich gegen eine seines Erachtens unbillige Weisung des Arbeitgebers gerichtlich wehren möchte, trifft, ist angesichts der vorbezeichneten Gemengelage extrem hoch. Der Arbeitnehmer dürfte deshalb häufig die Klage scheuen. Das scheint sogar intendiert zu sein, wenn aus den

119 BAG, Urt. v. 29.8.2013 – 2 AZR 273/12, NZA 2014, 533.

120 Vgl. BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858.

121 BAG, Urt. v. 26.1.2012 – 2 AZR 102/11, NZA 2012, 856; BAG, Urt. v. 28.8.2013 – 10 AZR 569/12, NZA-RR 2014, 181. Preis/Schneider, FS von Hoyningen-Huene, 2014, S. 395, 399; Reu-ter/Sagan/Witschen, NZA 2013, 935.

122 Ausf. Preis, NZA 2015, 1, 7 f.

123 Dunkl, FS Buchner, 2009, 197.

124 Vgl. LAG Köln, Beschl. v. 14.8.2013 – 7 Ta 243/13, LAGE Nr. 15 zu § 106 GewO 2003; Beschl. v.

24.6.2010 - 9 Ta 192/10, BeckRS 2012, 67572; Thüsing, jM 2014, 20, 21 f.

125 Preis, NZA 2015, 1, 5 f.; Reiserer, BB 2016, 187.

26 hen des BAG bisweilen kommuniziert wurde: „Das Arbeitsverhältnis ist zum Arbeiten da, nicht zum Prozessieren.“126

3. Mobilisierung der Arbeitswelt – Entgrenzung der Arbeit und Wei-sungsmacht

a) Entgrenzung der Arbeit127

In einer zunehmend informationstechnisch vernetzten Industrie werden Arbeitsleis-tungen orts- und zeitunabhängig abgerufen. Auf dem Weg in die virtuelle Dienstleis-tungsgesellschaft lösen sich die herkömmlichen betrieblichen Strukturen auf. Der mobile Arbeitnehmer leistet für den "virtuellen Betrieb"128 im Home- oder Mobile-Office von unterwegs unter Einsatz moderner Informations- und Kommunikations-technologie Arbeit. Dabei ist er oft ständig erreichbar.129 Die funktionale Grenze zwi-schen Arbeits- und Privatleben verschwimmt, was bedenkliche Gesundheitsgefahren hervorruft.130

Arbeitsinhalte werden nicht unmittelbar angewiesen, sondern digital konkretisiert und kontrolliert.131 "Digitalen" Weisungen wird nachgesagt, sie wiesen einen erhöh-ten Detailreichtum auf.132 Die zunehmende Verbreitung von Zielvereinbarungen, die

126 Schmitz-Scholemann, JbArbR 2013, Bd. 51, 2014, 54, 86.

127 Zum Begriff Däubler, SR 2014, 45. S. auch den Forschungsbericht von Arnold/Steffes/Wolter,

Mo-biles und entgrenztes Arbeiten, 2015, abrufbar unter:

http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/f460-mobiles-und-entgrenztes-arbeiten.pdf?__blob=publicationFile&v=1.

128 Vgl. Zumkeller, AuA 2015, 334, 336.

129 S. hierzu die Studie des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikationswirtschaft und neue Medien zur Arbeit 3.0, 2013, S. 28, abrufbar unter https://www.bitkom.org/Publikationen/2013/Studien/Studie-Arbeit-3.0/Studie_Arbeit_3.0.pdf.

130 Das vermitteln die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen jüngeren Datums. So etwa die Untersu-chung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zu den Auswirkungen arbeitsbezoge-ner erweiterter Erreichbarkeit auf Life-Domain-Balance und Gesundheit, 2013, S. 20 f., abrufbar unter www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/Gd76.pdf?__blob=publicationFile&v=5 und die Unter-suchung der Initiative Gesundheit & Arbeit zu den Auswirkungen von ständiger Erreichbarkeit und Präventionsmöglichkeiten, 2013, S. 10, abrufbar unter http://www.iga-

info.de/fileadmin/redakteur/Veroeffentlichungen/iga_Reporte/Dokumente/iga-Report_23_Staendige_Erreichbarkeit_Teil1.pdf sowie den DAK-Gesundheitsreport 2013.

131 Näher Wedde, Telearbeit, 2002, Rn. 118 ff.

132 Popp, BB 1997, 1790, 1792.

27 den Inhalt der vom Arbeitnehmer zu leistenden Arbeit mittelbar festlegen, relativiert diese Vermutung.

Konzerne organisieren sich – im Rahmen ihrer unternehmerischen Gestaltungs-freiheit133 – vermehrt in Matrixstrukturen.134 Das heißt, einzelne Funktionen werden konzentriert und auf die Konzerngesellschaften verteilt.135 Neben die hierarchische Organisationsstruktur tritt eine unternehmensübergreifende Gliederung nach Funkti-ons- und Produktionsbereichen.136 Den in einer Matrixstruktur eingesetzten Arbeit-nehmer trifft deshalb regelmäßig ein mehrdimensionales Weisungsregime, das ihn gegenüber unterschiedlichen Stellen verpflichtet. Disziplinarisch führt ihn sein Ver-tragsarbeitgeber, das fachliche Weisungsrecht delegiert dieser jedoch regelmäßig auf den unternehmensübergreifend Bereichsverantwortlichen,137 die "steuernde Ein-heit"138.

Kurzum: ein "Arbeiten an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit in einer fixen Struktur" kennt die mobilisierte Arbeitswelt nicht. Sie zeichnet sich vielmehr durch entgrenztes Arbeiten aus.

b) Reflexive Entgrenzung der Weisungsmacht

Für die Weisungsmacht des Arbeitgebers folgt hieraus zunächst, dass die Konturen der sie reflexiv begrenzenden Bezugspunkte, namentlich Arbeitsinhalt, Arbeitsort und

Für die Weisungsmacht des Arbeitgebers folgt hieraus zunächst, dass die Konturen der sie reflexiv begrenzenden Bezugspunkte, namentlich Arbeitsinhalt, Arbeitsort und