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UNMÖGLICHKEIT Das Erwartungsparadox

Im Dokument IM LABYRINTH DES DENKENS (Seite 189-200)

Die unerwartete Hinrichtung

7. UNMÖGLICHKEIT Das Erwartungsparadox

Als Leiter eines psychologischen Forschungsinstituts führen Sie ein seltsames Experiment an Menschen durch. Versuchs-person A sitzt am Schreibtisch und arbeitet an einem psycholo-gischen Test. Versuchsperson B sitzt ihm gegenüber und beob-achtet seine Fortschritte. Vor B befindet sich ein Druckknopf.

Man hat B erklärt, der Druck auf den Knopf versetze A einen außerordentlich schmerzhaften elektrischen Schock (könne ihm allerdings keinen bleibenden Schaden zufügen). In regel-mäßigen Abständen begibt sich Professor Jones an As Schreib-tisch, registriert eine falsche Antwort und weist B an, auf den Knopf zu drücken.

In Wirklichkeit ist A ein Mitarbeiter von Professor Jones.

Der Druckknopf ist nicht angeschlossen, und A täuscht auf Knopfdruck Schmerzen vor. Jones' Experiment soll dazu die-nen festzustellen, ob B die Anweisungen, A zu «bestrafen», befolgen wird. Jones' Lieblingstheorie läuft darauf hinaus, daß die meisten Menschen bereit sind, Grausamkeit hinzunehmen, wenn sie von einer Autoritätsperson genehmigt ist. Jones hat das Experiment bisher an zehn verschiedenen Versuchsper-sonen B durchgeführt, und acht davon haben auf den Knopf gedrückt.

Jones selbst weiß nichts von der eines Kafka würdigen Ironie der Situation: In Wirklichkeit dient er als Versuchsperson in Ihrem Experiment. Sie interessieren sich für den «Grauzonen-faktor» oder «Vorurteilseffekt» bei psychologischen

Experi-menten. Immer dann, wenn der Forscher ein bestimmtes Re-sultat erwartet, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß das erwartete Ereignis auch eintritt. Forschung neigt dazu, die Lieblingstheorien des Forschers zu bestätigen, und daran ist etwas faul!

Auf anderen Forschungsgebieten kann man den Vorurteils-effekt reduzieren oder ausschalten. Neue Medikamente etwa werden im «Doppelblindexperiment» erprobt, bei dem einige Testpersonen das Medikament, andere ein Placebo erhalten, und weder die Versuchspersonen noch der Forscher wissen, bevor die Ergebnisse vorliegen, was was war. Das hindert den Forscher daran, seine Begeisterung für das neue Mittel auf die-jenigen zu übertragen, die damit behandelt werden.

Aber bei manchen psychologischen Untersuchungsreihen sind Doppelblindexperimente als Kontrolle so gut wie unmög-lich. Der Forscher weiß mit Notwendigkeit, was vor sich geht.

Nehmen wir einmal Jones. Er erwartet, daß seine Versuchsper-sonen «Nazis werden», und deshalb tun es die meisten. Dage-gen hat Professor Smith, der die Menschen für im Grunde anständig hält, als er das gleiche Experiment durchführte, be-richtet, daß nur einer von zehn auf den Knopf gedrückt hatte. Es geht nicht um absichtlichen Betrug, sondern um unbewußtes Zurechtfrisieren. Smith wie Jones neigen dazu, unklare Resul-tate zugunsten ihrer erwünschten Schlußfolgerung zu interpre-tieren. Wenn Jones seine Versuchspersonen anweist, den Knopf zu drücken, ist er strenger, fordernder als Smith. Vielleicht haben auch Smith und Jones ihre «B-Personen» so ausgewählt, daß das gewünschte Resultat eintreten mußte. Keiner der bei-den Forscher weiß es, aber sie bauen selbsterfüllende Prophezei-ungen auf.

Falls sich herausstellen sollte, daß der Vorurteilseffekt ein weit verbreitetes Phänomen ist, kann das drastische Folgen für die Forschung haben. Sie haben eine große Stiftung überredet, ihr Experiment zu finanzieren. Die Versuchspersonen in Ihrem Experiment sind Psychologen wie Sie selbst, nur daß sie keine

Ahnung haben, was wirklich vor sich geht. Die Stiftung hat Ihnen genug Geld bewilligt, um Jones' Experiment ebenso wie Smiths Experiment und zahlreiche weitere zu finanzieren. Was Jones und Smith und all Ihre anderen Versuchspersonen bei ihren Experimenten herausbekommen, kümmert Sie nicht im geringsten. Sie wollen nur jede möglicherweise verdächtige Korrelation zwischen den Ideen, mit denen ein Forscher an seine Untersuchungen herangeht, und seinen Resultaten mes-sen. Sie haben viele, viele Psychologen verschiedenartigsten Persönlichkeitstyps beobachtet, die jedes nur vorstellbare Ex-periment mit ahnungslosen Versuchspersonen durchgeführt haben. Das Beweismaterial spricht eine eindeutige Sprache:

Der Vorurteilseffekt ist sowohl überwältigend als auch univer-sell verbreitet. In 90 Prozent aller psychologischen Experi-mente kommt das heraus, was der Forscher erwartet hat.

Und da liegt das Problem. Denn das ist das Resultat, das Sie erwartet haben. Wenn Ihre Untersuchungsergebnisse richtig sind, sind die Resultate psychologischer Experimente an menschlichen Versuchspersonen ungültig. Auch Ihre Untersu-chung ist ein psychologisches Experiment an menschlichen Versuchspersonen. Infolgedessen sind Ihre Untersuchungser-gebnisse ungültig. Wenn Ihre ErUntersuchungser-gebnisse aber ungültig sind, gibt es keinen Grund, an den Vorurteilseffekt zu glauben, und möglicherweise sind Ihre Ergebnisse gültig, was wiederum zur Folge hätte, daß sie ungültig sind...

Der lKS-Haken

«Jede Verallgemeinerung ist gefährlich, selbst diese», lautet ein Bonmot Alexandre Dumas' des Jüngeren, das mehr als zu-fällige Ähnlichkeit mit dieser Geschichte hat. Das «Erwar-tungsparadox», wie wir es nennen wollen, erinnert an die paradoxe Situation in Joseph Hellers Roman Catch-22 (Der IKS-Haken):

«Es gab nur einen Haken dabei, und das war der IKS-Haken, der darauf hinauslief, daß Besorgnis um eigene Gefährdung angesichts gefährlicher Situationen, die real und unmittelbar bevorstanden, das offensichtliche Er-gebnis rationaler Denkprozesse war. Orr war verrückt und konnte fluguntauglich erklärt werden. Er brauchte nichts zu tun, als den Antrag zu stellen. Aber sobald er das tat, war er nicht mehr verrückt und mußte weitere Einsätze fliegen. Orr wäre verrückt, wenn er weitere Ein-sätze flöge, und gesund, wenn er es nicht täte, aber wenn er gesund war, mußte er sie fliegen. Wenn er die Einsätze flog, war er verrückt und brauchte es nicht zu tun; aber wenn er es nicht wollte, war er gesund und mußte es tun.»

Das erinnert an die bekannte, wenn auch vermutlich apokry-phe Geschichte über den Sophisten Protagoras (ca. 485 - ca.

415 v. Chr.). Protagoras war der erste griechische Lehrer, der ein festes Honorar für seinen Unterricht forderte. Ein Schüler der Rhetorik vereinbarte mit Protagoras, daß er sein Lehrgeld erst bezahlen werde, wenn er seinen ersten Fall vor Gericht gewonnen habe; sollte er seinen ersten Fall verlieren, brauchte er nichts zu bezahlen. Der Student versuchte, sich um den Ver-trag zu drücken, indem er nicht vor Gericht auftrat. Protagoras mußte den Schüler verklagen, um zu seinem Geld zu kommen — und dieser vertrat seinen Fall selbst. Verlor der Schüler, brauchte er nicht zu zahlen, gewann er, brauchte er nicht zu zahlen.

Ein gemeinsames Element all dieser Paradoxe sind Katego-rien oder Mengen, die sich selbst enthalten. Der springende Punkt beim Erwartungsparadox ist, daß das Experiment sich auf die Klasse der Experimente an menschlichen Versuchsper-sonen bezieht und selbst zu dieser Klasse gehört. Das klassische Beispiel für Mengen, die sich selbst enthalten (also Elemente ihrer selbst sind), ist Bertrand Russells Barbierparadox:

In einem Dorf rasiert der Dorfbarbier alle Männer, die sich nicht selbst rasieren. Das heißt: er rasiert nur die Männer, die sich nicht selbst rasieren, und alle Männer, für die dies zutrifft.

Rasiert der Barbier sich selbst? Er kann seinem Ruf auf keinen Fall gerecht werden. Wenn er sich nicht selbst rasiert, muß er sich selbst rasieren, und wenn er sich selbst rasiert, darf er sich nicht selbst rasieren.

All das waren als Rätsel verkleidete Paradoxe. Zuerst glaubt man, man könne eine Lösung finden, und wenn man sie einmal gefunden habe, müsse man sagen können: «Also so wird es in Wirklichkeit zugehen.» Dann sieht man ein, daß das Unterneh-men hoffnungslos ist. Egal von welchen AnnahUnterneh-men man aus-geht, man kommt immer bei etwas Unmöglichem an.

Kann es so etwas geben?

Eine verbreitete Reaktion auf Paradoxe dieser Art ist es, dar-über nachzudenken, ob sie «möglich» sind - also, ob sie in der wirklichen Welt jemals auftreten könnten. Für einige unter ih-nen lautet die Antwort sicher Ja. Der Prozeß des Protagoras hätte stattfinden (und die Richter vor eine schwierige Entschei-dung stellen) können; Militärverwaltungen haben gelegentlich verwirrende und widersprüchliche Regeln. Ein Dorfbarbier könnte alle anderen im Dorf rasieren, die sich nicht selbst rasie-ren, so daß die Dorfbewohner genau das von ihm behaupten, wovon Russell ausgeht, obwohl er diesem Anspruch immer noch nicht wirklich gerecht würde.

Der Vorurteilseffekt (auch bekannt als experimenter bias ef-fect oder kurz EBE) ist in echten Experimenten nachgewiesen worden. 1963 haben Robert Rosenthal und K. Fode einen Be-richt über drei Untersuchungsreihen veröffentlicht, in denen ein meßbarer derartiger Effekt sichtbar wurde. Rosenthal und Fode ließen eine Anzahl von Studenten Pseudoexperimente an menschlichen Versuchspersonen durchführen. Den

Versuchs-personen wurden Photographien verschiedener Individuen vorgelegt, und sie sollten entscheiden, ob die dargestellten Per-sonen «Erfolgserlebnisse» oder «Mißerfolgserlebnisse» ge-habt hatten. Etwa der Hälfte der Studenten, die die Experimente durchführten, wurde suggeriert, ihre Versuchspersonen wür-den zu «Erfolgs»-Antworten tendieren; der anderen Gruppe sagte man, sie habe «Mißerfolgs»-Antworten zu erwarten.

Dann wurden die Berichte über die Resultate der Pseudoexpe-rimente verglichen. Da die ExpePseudoexpe-rimente jeweils die gleichen Resultate hätten liefern müssen, ging man von der Annahme aus, daß die auftretenden Abweichungen von den Erwartun-gen derjeniErwartun-gen abhinErwartun-gen, die das Experiment durchgeführt hatten. Rosenthal hat den Vorurteilseffekt in späteren Unter-suchungen weitererforscht. Dabei verstieg er sich zu der Be-hauptung, in Zukunft müßten Experimente an menschlichen Versuchspersonen möglicherweise mit Hilfe automatisierter Beobachtungsprozesse durchgeführt werden, um eine Verfäl-schung durch unbewußte Erwartungen auszuschließen.

Andere Forscher konnten Rosenthals Ergebnisse nicht wie-derholen. Der Konflikt spitzte sich im Jahre 1969 in einer Nummer der Fachzeitschrift Journal of Consulting and Clini-cal Psychology zu. Sie enthielt hintereinander den Forschungs-bericht von Theodore Xenophon Barber und seinen Kollegen, die Rosenthals Experimente sorgfältig wiederholt, aber kei-nen Hinweis auf den Vorurteilseffekt gefunden hatten, eine verteidigende Antwort von Rosenthal und eine beleidigte Ge-gendarstellung von Barber. Die gereizte Atmosphäre wissen-schaftlicher Haarspalterei äußerte sich in Äußerungen wie der folgenden (einer Antwort Barbers auf den Einwand Rosenthals, Barber habe das Experiment in einer reinen Mädchenschule wiederholt): «Wenn Rosenthal der Meinung ist, der Vorurteils-effekt sei in koedukativen Staatsuniversitäten leichter zu erzie-len als in Universitäten und Hochschuerzie-len anderen Typs, sollte er Daten vorlegen, die seine Behauptung stützen.»

Spätere Untersuchungen haben die Annahme, es gebe einen

weitverbreiteten Vorurteilseffekt, nicht gestützt. In mindestens 40 zwischen 1968 und 1976 publizierten Untersuchungsbe-richten ergab sich kein statistisch relevanter Vorurteilseffekt, und sechs weitere brachten nur schwache Indizien für einen solchen Effekt zutage.

Damit das Erwartungsparadox in der wirklichen Welt exi-stieren könnte, müßte feststehen, daß der Erwartungseffekt so-wohl universell als auch unvermeidlich ist. Wenn es nur ein paar Psychologen sind, die ihm zum Opfer fallen, ist das kein Problem. Dann könnte der Forscher ein erfahrener sorgfältig arbeitender Psychologe sein, der die menschlichen Schwächen seiner schlampigen Kollegen mißt. Genauso wie es für das Lüg-nerparadox erforderlich ist, daß ein Kreter den Satz «Alle Kreter sind Lügner» ausspricht, ist erforderlich, daß ein Expe-riment eines bestimmten Typs die Unzuverlässigkeit aller Ex-perimente dieses Typs belegt.

In der Wirklichkeit wäre es eher unwahrscheinlich, daß der Vorurteilseffekt allgemein verbreitet wäre. Aus diesem Grund werden auch die tatsächlich vorliegenden Untersuchungen, die darauf angelegt sind, ihn nachzuweisen, nicht notwendiger-weise vom reißenden Strudel des Paradoxons mitgerissen.

So weit, so gut. Aber was würde es bedeuten, wenn man tatsächlich feststellte, daß die Resultate aller Experimente an menschlichen Versuchspersonen, einschließlich desjenigen, durch das diese Tatsache festgestellt wurde, ungültig sind?

Könnte so etwas geschehen ?

Es gibt einen Unterschied zwischen Falschheit und Ungültig-keit. Wenn die Resultate eines Experiments falsch sind, sind sie falsch; wenn aber das Experiment (wegen schlampiger Durch-führung, ungenügender Kontrollen etc.) ungültig ist, können seine Resultate wahr oder falsch sein. Ein ungültiges Experi-ment kann Beweise für eine Hypothese bringen, die zufällig wahr ist. (Wir können dann von einem «Gettier-Experiment»

sprechen.)

Beim Lügnerparadox führt die Annahme der Wahrheit zur

Falschheit und die Annahme der Falschheit zur Wahrheit.

Aber sprechen wir hier von der Wahrheit/Falschheit oder der Gültigkeit/Ungültigkeit des Erwartungsexperiments? Das ist nicht ohne weiteres klar. Zählen wir alle Möglichkeiten auf, wie wir das bei einer Logikaufgabe täten.

(a) Nehmen wir an, die Resultate der Untersuchung seien wahr. Sind sie das, dann kann man psychologischen Experi-menten an menschlichen Versuchspersonen nicht trauen. (Die Untersuchung will nicht zeigen, daß die Ergebnisse psychologi-scher Experimente unweigerlich und immer falsch sind, son-dern nur, daß man sich nicht auf sie verlassen kann.) Also kann man dieser Untersuchung selbst auch nicht trauen. Die Resul-tate könnten wahr sein - gemäß unserer Annahme sind sie es auch -, aber die Untersuchung ist kein gültiger Beweis für sie.

Die Untersuchung ist ein Gettier-Experiment, und das ist eine denkbare, wenn auch unbefriedigende Situation.

(b) Nehmen wir an, das Resultat der Untersuchung sei falsch. Dann gibt es keinen universellen Vorurteilseffekt. Das Untersuchungsergebnis könnte aus anderen Gründen falsch sein und ist es vermutlich auch. (Wenn das Resultat falsch ist, muß die Untersuchung zugleich ungültig sein.) Auch dies ist eine mögliche Situation.

(c) Nehmen wir an, die Untersuchung sei gültig. Dann ist ihr Ergebnis wahr, und die Untersuchung ist ungültig. Das ist ein Widerspruch.

(d) Nehmen wir an, die Untersuchung sei ungültig. Dann kann ihr Ergebnis wahr oder falsch sein. So tritt kein Wider-spruch auf.

Wenn, kurz gesagt, jemand eine Untersuchung vorlegte, durch die bewiesen werden soll, daß der Vorurteilseffekt ein allgemeingültiges und universelles Phänomen ist, wären die folgenden kritischen Einwände haltbar: (a) daß das Ergebnis zwar wahr, aber ein Zufallstreffer ist, der nicht von der - un-gültigen - Untersuchung gestützt wird; (b) daß das Ergebnis falsch und die Untersuchung ungültig ist; oder (c) daß die

Un-tersuchung ungültig ist und sonst nichts. Wie auch immer, wir sind zu dem Schluß gezwungen, daß die Untersuchung ungül-tig ist.

Und was wäre, wenn ein Komitee von Nobelpreisträgern die Experimente überwacht und sorgfältig darauf achtet, ihre Gül-tigkeit sicherzustellen? Es wird ein System von Überprüfun-gen, statistischen Kontrollen und Gegenkontrollen eingeführt, wie es sie noch nie auf der Welt gegeben hat. Dann sagt diese unwiderleglich gültige Untersuchung wahrheitsgemäß aus, daß alle psychologischen Experimente an Menschen (eine Menge, zu der die Untersuchung selbst gehört) infolge unbe-wußter Vorurteile der Forscher ungültig sind.

Dieser eigentliche Kernpunkt des Paradoxons ist eine Form des Lügnerparadoxons, in der Gültigkeit an die Stelle der Wahrheit getreten ist. Eine gültige Untersuchung, die ihre ei-gene Ungültigkeit nachweist, kann es einfach nicht geben: wir sind im Bereich des Unmöglichen.

Mögliche Welten

Eine bekannte und beliebte Formulierung in der Sprache der Philosophie ist der Ausdruck «mögliche Welten». Es ist nahe-liegend zu fragen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum gibt es das Böse ? Schon daß wir die Frage stellen, zeigt, daß wir uns eine Welt ohne das Böse vorstellen können, eine Welt, die von der existierenden sehr verschieden ist. Es gibt gute Gründe für die Annahme, die Fähigkeit, sich mögliche Welten vorzu-stellen, sei ein wichtiger Teil der menschlichen Intelligenz. All die Tausende von Entscheidungen, die wir im Lauf des Lebens treffen, seien sie wichtig, seien sie unbedeutend, sind Vorstel-lungshandlungen. Sie stellen sich eine Welt vor, in der Sie heute nachmittag Ihr Auto durch die Waschanlage fahren, und eine Welt, in der Sie das nicht tun, und dann entscheiden Sie sich, in welcher Welt Sie lieber leben möchten.

Der erste Autor der westlichen Philosophiegeschichte, der ausgiebigen Gebrauch von der Idee möglicher Welten gemacht hat, war der deutsche Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Leibniz fragte sich, aus wel-chem Grund wohl Gott von allen möglichen Welten ausge-rechnet die unsere geschaffen habe. Seine merkwürdig an-mutende Antwort war, daß dies in der Tat die beste aller möglichen Welten ist. Leibniz nahm an, das Leiden und die Schmerzen der Welt seien auf dem absoluten Minimalstand;

jede noch so kleine Veränderung, jeder Versuch des Schöpfers, hier oder dort etwas Falsches zu verbessern, würde die Ge-samtsituation verschlimmern. Dieser wenig glaubwürdige Standpunkt lieferte den Anlaß zur Erfindung der Figur des Dr.

Pangloss in Voltaires Satire Candide. Candide konnte nicht einsehen, wieso eine Welt, in der das Erdbeben von Lissabon (das 1755 etwa 40000 Opfer forderte) nicht stattgefunden hätte, nicht besser sein sollte als die unsere.

Die Philosophie der möglichen Welten wurde in den Sechzi-gern von Denkern wie Saul Kripke, David Lewis und Jaakko Hintikka wieder aufgegriffen. Um jedes Mißverständnis aus-zuschließen, müssen wir zunächst klarstellen, was eine «mög-liche Welt» ist. Es geht nicht um einen anderen Planeten im fernen Weltraum. Eine mögliche Welt ist ein vollständiges in sich geschlossenes Universum mit eigener Vergangenheit, Ge-genwart und Zukunft. Man kann von einer möglichen Welt sprechen, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewon-nen hat, und man kann sogar vom Jahr 10000 n. Chr. in dieser möglichen Welt sprechen. Häufig wird im Singular von etwas gesprochen, das in Wirklichkeit eine Klasse möglicher Welten ist. Es muß Billionen und Aberbillionen von möglichen Welten geben, in denen Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewon-nen hat, und jede dieser Welten wird sich in irgendeinem Detail von den anderen unterscheiden. Anscheinend gibt es eine unendliche Anzahl davon. Diejenige mögliche Welt, in der wir leben, nennen wir die «wirkliche» Welt.

Selbst eine metaphysische Idee wie diese hat ihre Grenzen.

Der Begriff der möglichen Welten wäre nicht besonders nütz-lich, wenn jede beliebige Leistung der Phantasie eine mögliche Welt darstellte. Die meisten Philosophen gehen davon aus, daß es möglich ist, von Welten zu sprechen, die keine möglichen Welten sind.

Auch wenn wir ihn als Satz (oder eigentlich als Wortfolge) formulieren können, beschreibt der Ausdruck «eine Welt, in der l plus l nicht 2 ist» keine mögliche Welt. Es kann keine Welt geben, in der 6 eine Primzahl ist, in der ein Fünfeck vier Seiten hat oder in der das Erdbeben von Lissabon gleichzeitig stattfindet und nicht stattfindet. Es kann auch keine Welt ge-ben, in der Abraham Lincoln größer ist als Josef Stalin, Josef Stalin größer als Napoleon, und Napoleon größer als Abra-ham Lincoln.

(Einige Denker bestreiten das. Auch wenn sich niemand vor-stellen kann, wie eine Welt möglich sein sollte, in der l plus l nicht gleich 2 ist, kann ein eingefleischter Skeptiker Zweifel an unserer Gewißheit hegen, daß keine derartige Welt möglich ist.

Aber die meisten philosophischen Erörterungen möglicher Welten gehen von der Grundregel aus, daß zumindest unsere Logik in anderen Welten gilt. Ist das nicht der Fall, können wir keine Schlußfolgerungen über sie ziehen.)

Wie viele Welten sind möglich?

Wenn man sagt, etwas sei unmöglich und nicht bloß falsch, bedeutet das, daß es keine mögliche Welt gibt, in der es wahr sein könnte. Eine der profundesten Fragen der Philosophie ist, wie verschiedenartig die möglichen Welten sind.

Saul Kripke ging davon aus, daß ein Satz wie «Gold hat die Atomzahl 79» in jeder möglichen Welt wahr ist. Das ist nicht für jedermann einleuchtend. Anscheinend ist es ganz einfach,

Saul Kripke ging davon aus, daß ein Satz wie «Gold hat die Atomzahl 79» in jeder möglichen Welt wahr ist. Das ist nicht für jedermann einleuchtend. Anscheinend ist es ganz einfach,

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